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Lust im Hirn: Wie (Musik-) Genuss biologisch verdrahtet ist

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Mr._Lovegrove
Inventar
#552 erstellt: 20. Jun 2012, 11:22

pelmazo schrieb:

Ich glaube nicht, daß sich @Mr._Lovegrove irgend etwas verboten hat. Es ist doch wohl eher so daß der Effekt ein bißchen zu billig war als daß er sich gehalten hätte. Die darauf folgende Ernüchterung ist weniger die "Schuld" eines sich nach vorne drängenden "Intellekts" (in diesem Fall wohl eher einfach das Bewußtsein), sondern eben der fehlenden Tiefe des Stücks. Oder womöglich auch ganz einfach die Folge einer anderen Stimmung beim Hören.

Perfekt getroffen! So habe ich das empfunden! Es waren im ersten Moment diese oberflächlich berauschenden Chorteile, die mich ins Verzücken gebracht haben, gleichzeitig fing aber der analytische Teil meiner "Musikrezeptionsmaschinerie" an, das Stück stante pede zu erforschen und genau da trafen diese beiden Welten aufeinander.
Ein aktuelles Gegenbeispiel ist diese CD hier, die ich vor ein paar Tagen erhalten habe:
amazon.de
Ich war schon beim ersten Hören absolut verzückt, habe grade bei Stück 3 eine mächtige Gänsehaut wegen dieses schönen Themas bekommen und höre diese CD seit Tagen mehrmals pro Tag. Mein Analyseapparat genießt sie ebenso, wie mein Emotionsapparat.

Um mal etwas zum Thema Zeitgeist und dessen Anteil an der Wirkung von Musik zu sagen, so glaube ich, dass es manchmal allenfalls beim Verstehen von Musik wichtig ist, den historischen Kontext zu kennen. Sei es nun bei "Le sacre du printemps", heute billig klingender Technomusik aus den frühen 90ern oder "Free Jazz" von Ornette Coleman. Um zu begreifen, warum es so entstanden ist, ist der historische Hintergrund sehr wichtig, aber es spielt weniger einer Rolle bei der emotionalen Rezeption und Wirkung. Dass es bei der Uraufführung von "Le sacre du printemps" zu Prügeleien kam, wird das Werk nicht anders emotional wirken lassen beim Hörer.
Anders verhät es sich mit persönlichen Vergangenheitsverbindungen zu Musik. Bei mir ist das aktuell z.B. Black Musik der 90er. Ich habe aus Lust und Laune eine mp3 CD mit allen meinen Lieblingssongs aus dieser Zeit gemacht. Als ich die das erste mal gehört habe, kamen so viele Erinnerungen hoch. Zur Zeit habe ich die CD jeden Tag bei der Arbeit laufen und in einer Wechselwirkung aus Erinnerungen und dem Sound der Musik höre ich sie immer wieder gerne und genauso intensiv, wie meine zurzeitig favorisierte Musik, obwohl ich eigentlich schon lange eher sehr selten Black Musik höre und das eigentlich in den HIntergrund meines Musikkonsums gedrängt hatte.
Ich denke, diese Verbindungen sind ganz wichtig für uns. Hierbei ist die Musik eine Art Trigger, der Erinnerungen an schöne Zeiten wieder hervorruft oder aufrecht erhält.
Deshalb funktioniert auch vermeintlich mschlechte Musik in diesem Falle immer noch. Natürlich weiß ich, dass Sandra nicht wirklich singen kann oder Boney M. mehr oder weniger ein Retortenprodukt waren. Aber in solchen Fällen scheinen die mit dieser Musik verbundenen Erinnerungen und damit verbundene Hormonauschüttungen die Intelektseite des Hirnes so weit zu übertrumpfen, dass man über die eigentlichen Unzulänglichkeiten automatisch hinweg sieht.
Jenny4
Stammgast
#553 erstellt: 20. Jun 2012, 11:33

Wo ist denn der Widerspruch hier?

Ich finde genau diese Frage sehr wichtig. Wir sind ja immer noch am Sammeln, welche Eindrücke wir für unsere Musikwahrnehmung als relevant erachten, wenn wir die "neuronale Verdrahtung" erforschen und die Vielfalt in eine Art Modell bringen wollen.

Manche Musikstücke sind für mich schlichtweg Schlüsselreize, die auf andere emotiopnale Erlebnisse zielen. Als ich bei pelmazo das Wort "Schullandheim" las, hat das sofort Musikerinnerungen wachgerufen, z. B. ELO: Confusion.

Manche Musikstücke gefallen mir als Musik heute noch, z. B. Queen: You take my breath away ; andere rufen zwar intensive Gefühle hervor, aber es geht nicht um die Musik, sondern das jeweilige Stück ist ein Anker für mein emotionales Gedächtnis. Jürgen Drews: Ein Bett im Kornfeld würde ich mir echt nicht freiwillig anhören, aber genau wie Soundy sagt, wenn es zu später Stunde jemand auflegt, würde ich mitsingen und hätte eine ganz genaue Erinnerung bis hin zum Duft des Weizens in einer Sommernacht.

@Mr. Lovegrove:

Dass es bei der Uraufführung von "Le sacre du printemps" zu Prügeleien kam, wird das Werk nicht anders emotional wirken lassen beim Hörer.

Da widerspreche ich und verweise auf Richard Wagner - die Musik finde ich immer wieder umwerfend, aber ich kann nicht das Bewusstsein ausblenden für Wagners politische Seite. Das würde mich nicht davon abhalten, Wagner zu hören oder Geld dafür auszugeben, und auch eine Einladung nach Bayreuth würde ich mit großer Neugier annehmen; aber das Bewusstsein für die historischen Verquickungen trübt meine Freude.

Das funktioniert natürlich auch im positiven Sinne: Gracias a la vida von Violeta Parra, gesungen z. B. von Mercedes Sosa oder Joan Baez, (eines unserer Hochzeitslieder) ist für mich gerade wegen der historischen Einbettung so ermutigend und schön.
Mr._Lovegrove
Inventar
#554 erstellt: 20. Jun 2012, 11:44

Jenny4 schrieb:

Da widerspreche ich und verweise auf Richard Wagner - die Musik finde ich immer wieder umwerfend, aber ich kann nicht das Bewusstsein ausblenden für Wagners politische Seite. Das würde mich nicht davon abhalten, Wagner zu hören oder Geld dafür auszugeben, und auch eine Einladung nach Bayreuth würde ich mit großer Neugier annehmen; aber das Bewusstsein für die historischen Verquickungen trübt meine Freude.

Stattgegeben! Politisch zweifelhafte oder gar inakzeptable HIntergründe sind ein gewichtiges Argument, Musik womöglich nicht mehr zu hören. Ich habe da ein weiteres und noch weit krasseres Beispiel. Ich habe mal vor vielen vielen Jahren einen Sampler mit deutscher Neofolk Musik gekauft und diesen auch oft gehört. Bis ich über den faschistischen und rechtsradikalen Hintergrund einiger Musiker auf der CD gelesen habe, von dem ich vorher wirklich nichts wußte (Ehrenwort!). Seitdem habe ich diese CD NIE WIEDER gehört! Es hat mich regelrecht angeekelt, so etwas gehört zu haben.
Ich werde diese CD im übrigen selbstverständlich hier nicht beim Namen nennen oder gar abbilden!
knollito
Inventar
#555 erstellt: 20. Jun 2012, 13:25

Jenny4 schrieb:
Manche Musikstücke sind für mich schlichtweg Schlüsselreize, die auf andere emotiopnale Erlebnisse zielen. Als ich bei pelmazo das Wort "Schullandheim" las, hat das sofort Musikerinnerungen wachgerufen, z. B. ELO: Confusion.

Manche Musikstücke gefallen mir als Musik heute noch, z. B. Queen: You take my breath away ; andere rufen zwar intensive Gefühle hervor, aber es geht nicht um die Musik, sondern das jeweilige Stück ist ein Anker für mein emotionales Gedächtnis. Jürgen Drews: Ein Bett im Kornfeld würde ich mir echt nicht freiwillig anhören, aber genau wie Soundy sagt, wenn es zu später Stunde jemand auflegt, würde ich mitsingen und hätte eine ganz genaue Erinnerung bis hin zum Duft des Weizens in einer Sommernacht.




Das ist ein wichtiger interessanter Aspekt, der oft zu wenig berücksichtigt wird: nämlich die Verknüpfung von bestimmten Musikstücken und bestimmten Ereignissen und Orten. Für gewöhnlich wird diese enge Verknüpfung von Erinnerungen, Emotionen und Orten insbesondere dem Geruchssinn respektive den auslösenden Düften zugesprochen. Tatsächlich lassen sich sogar Lernleistungen im Schlaf über positiv konditionierte Düfte gezielt verstärken.

Bei mir persönlich ist diese Verknüpfung von Erinnerungen - Emotionen - konkreten Orte und Ereignissen mindestens genauso stark, wenn ein bestimmtes Musikstück als "Reiz" wirkt: ein Stück der Bee Gees verknüpfe ich mit einer ganz konkreten Klassenfete und ebensolchen Gesichtern, das von Jenny genannte "Bett im Kornfeld" mit einem Schullandheim-Aufenthalt, "Don´t bring me down" von ELO mit einer Discothek in Yorkshire, Police "Message in the Bottle" ebenfalls mit einem Schüleraustausch in England, uvm.
Jenny4
Stammgast
#556 erstellt: 20. Jun 2012, 14:39
@Knollito: Weißt Du, was ich echt scharf finde, ich musste gerade so lachen: Du hast lauter Stücke genannt, die für mich auch in diese Zeit fallen und die gewisse Bedeutungen haben - da liegt ja der Schluss nahe, dass wir ziemlich gleich alt sind.

Ich überlege echt, ob ich mal einen Facebook-Lebenslauf zusammenstelle, der überhaupt nur aus Musik besteht, zum Teil aus einzelnen Titeln, zum Teil aus den ganzen Alben.

Ich frage mich auch - wenn man nun mehrere solcher "musikalischen Lebensläufe" vergleichen würde: Ab wann werden die Titel weniger populär? Wann begann sich unser Musikgeschmack auszudifferenzieren (wenn es so war)? Es war (und ist!) ja auch immer ein Thema, welche Musik man nicht hört. Die Zuordnung zu einer bestimmten Szene oder Subkultur über die Musik, die für diese soziale Gruppe steht, ist ja ein erhebliches Differenzierungsmerkmal, also Musik als Marke.

Die Rolle der Lieblingsmusik(er) im Lebenslauf von Jugendlichen und jungen Erwachsenen:
Wäre das nicht ein wundervolles Thema für eine Bachelor- oder Magisterarbeit? (Na, gibt's bestimmt schon.)

Ok, ich stocke auf: Die Rolle der Lieblingsmusik(er) im Lebenslauf von audiophilen Jugendlichen und jungen Erwachsenen
knollito
Inventar
#557 erstellt: 20. Jun 2012, 15:50

Jenny4 schrieb:
@Knollito:

1. Weißt Du, was ich echt scharf finde, ich musste gerade so lachen: Du hast lauter Stücke genannt, die für mich auch in diese Zeit fallen und die gewisse Bedeutungen haben - da liegt ja der Schluss nahe, dass wir ziemlich gleich alt sind.

2. Ich überlege echt, ob ich mal einen Facebook-Lebenslauf zusammenstelle, der überhaupt nur aus Musik besteht, zum Teil aus einzelnen Titeln, zum Teil aus den ganzen Alben.



zu 1. Das vermute ich schon seit längerem

zu 2. Na, da bin ich mal gespannt.

Das Musik eine soziale Komponente hat, ist ja nichts neues. Auch das unterschiedliche Musikstile Ausdruck des Protest wie auch als sozialer Kitt bestimmter Gruppen dient ist nichts Neues. Wie entstand der Blues, der Punk, der Hip-Hop? Warum geraten Teenager in der Pubertät regelmäßig mit ihren Eltern wg. der jeweiligen Musik aneinander?

Interessanter sind aus meiner Sicht andere Phänomene:

1. Selbst wenn sich Menschen treffen, die nicht dieselbe Sprache sprechen, sobald sie gemeinsam musizieren, überwindet dies alle Sprach- und nationalen Grenzen, weil Musik ebenso wie das gemeinsame Musizieren verbindet - und die Musik selbst direkt ins Herz geht.

2. Mir geht es bei manchen Musikstücken, ja Interpreten so, dass diese mir in meiner Jugend, ja noch zu Studienzeiten besser gefielen als heute, ja manche, mag ich heute fast gar nicht mehr hören, andere nicht mehr so gerne. Ein Beispiel: Ich habe mir kürzlich die SHM-SACD Tubular Bells von Mike Oldfield gekauft. Als Jugendlicher habe ich davon alle verfügbaren Varianten auf Schallplatte gehört - und das regelmäßig. Die SACD klingt besser als alle bisherigen Ausgaben - und doch weiß ich, ich werde sie mir allenfalls einmal jährlich anhören, während ich andere Alben aus derselben Zeit noch immer wöchentlich höre.
pelmazo
Hat sich gelöscht
#558 erstellt: 20. Jun 2012, 16:00

Jenny4 schrieb:
Die Rolle der Lieblingsmusik(er) im Lebenslauf von audiophilen Jugendlichen und jungen Erwachsenen


Gibt's die überhaupt in nennenswerter Zahl?

Ich hätte jetzt spontan erwartet, daß man ein bestimmtes Alter erreicht haben muß um sich zu dieser Szene zu zählen. Man muß genug Geld verfügbar haben, um sich in dieser Szene nicht lächerlich zu machen. Man muß eine Weile die als Fachzeitschriften getarnten Hochglanzprospekte studiert haben, um den Stallgeruch der Szene anzunehmen, um also die richtigen Sprüche klopfen zu können. Und man braucht einen Mindestüberblick über die angesagten Marken und Geräte.

Ok, die erste Bedingung ist wahrscheinlich das größte Hindernis, die anderen sind in einem halben Jahr erledigt.

Jenny4
Stammgast
#559 erstellt: 20. Jun 2012, 16:50
Lernen und Gedächtnis

Da hätten wir doch schon mal ein Modell aus berufenem Munde. Links neben dem sensorischen Gedächtnis steht immerhin die Mustererkennung. Die dürfte m. E. aber wesentlich mehr beinhalten, denn dass bestimmte Muster Erinnerungen triggern erfordert ja bereits an dieser Stelle das Langzeitgedächtnis als Quelle (und nicht, wie den Pfeilen zu entnehmen, nur als Ziel). Hat jemand zufällig die neuere Auflage zur Hand, ob das immer noch so drinsteht? Immerhin sind wir seit Erscheinen des Buches 12 Jahre weiter... Dem Hippocampus (S. 144) wurde damals noch sehr wenig Bedeutung beigemessen. Für mich ist das die wichtige Hirnstruktur für unsere Diskussion.

Aber wo siedeln wir nun die soziale Komponente an? Beim Stichwort Wiederholen? Der gemeinsame Genuss von Musik führt zu einer Ausschüttung von Oxytocin ("Bindungshormon"), das fühlt sich gut an, wird also leichter gelernt. Das wäre eine Erklärung dafür, warum die Erinnerungen später immer noch so schön sind - dieselbe Musik triggert wieder eine Oxytocinausschüttung. Ich behaupte: Die nimmt aber ab, wenn wir die betreffende Musik wieder und wieder alleine hören. Entweder die Musik an und für sich wird dann als schön genug empfunden, um dem Hörprogramm erhalten zu bleiben, oder sie "funktioniert" nur noch in den Situationen, die Soundy oben beschrieben hat, nämlich wenn - durch das gemeinsame Hören in geeigneter* Gesellschaft - wieder Oxytocin ausgeschüttet wird.

*Beispiel: Ohne die Gesellschaft von Tunten könnte ich nie nie nie Marianne Rosenberg hören: Er gehört zu mir / wie mein Name an der Tür

Quelle (S. 143) und Literaturempfehlung: Speckmann/Wittkowski: Bau und Funktion des menschlichen Körpers. Praxisorientierte Anatomie und Physiologie. - 19. Aufl., Urban & Fischer 2000

Speckmann-Wittkowski


@Mr. Lovegrove: Sorry für die Faktenhuberei, wie Du es nennst - liefere doch bittebitte weitere Phänomene, Erlebnisse, wunderbare Widersprüche und spannende Fragen, das inspiriert mich wirklich zum Weitersuchen, und ich lese es auch gern.
pinoccio
Hat sich gelöscht
#560 erstellt: 20. Jun 2012, 18:41

Jenny4 schrieb:

Ich frage mich auch - wenn man nun mehrere solcher "musikalischen Lebensläufe" vergleichen würde: Ab wann werden die Titel weniger populär? Wann begann sich unser Musikgeschmack auszudifferenzieren (wenn es so war)? Es war (und ist!) ja auch immer ein Thema, welche Musik man nicht hört. Die Zuordnung zu einer bestimmten Szene oder Subkultur über die Musik, die für diese soziale Gruppe steht, ist ja ein erhebliches Differenzierungsmerkmal, also Musik als Marke.


Ich würde sagen, die Differenzierung des eigenen Musikgeschmacks begann genau dann, wenn man sie nicht mehr als bloßes Differenzierungsmerkmal betrachtete. Damit ging wohl auch die Zuordnung zu einer Szene oder (Jugend)Kultur flöten. Schätze die verlorene Zuordnung und andere Betrachtung von Musik kann das alles beschleunigen.

Anscheinend ist es auch so, dass manche Ältere Musik heute noch (oder wieder) als Differenzierungsmerkmal für diverse elitäre Abgrenzungszeremonien brauchen...was aber dann mit Musik weniger zu tun hat.


Die Rolle der Lieblingsmusik(er) im Lebenslauf von Jugendlichen und jungen Erwachsenen:
Wäre das nicht ein wundervolles Thema für eine Bachelor- oder Magisterarbeit? (Na, gibt's bestimmt schon.)

Ok, ich stocke auf: Die Rolle der Lieblingsmusik(er) im Lebenslauf von audiophilen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ;)


"Audiophil" stößt mir dabei auf, denn sowas brauchts mE gar nicht. In meinem (heutigen) Verständnis der Bezeichnung "Audiophil" würde ich das sogar als abwertend empfinden (siehe: elitäre Abgrenzungzeremonie)

Wie wäre es mit:

"Die Rolle der Musik und Musiker im Soundtrack der Jugend"

Mir gefällt daran "Soundtrack der Jugend". Ich glaube nämlich, jede(r) hat seinen eigenen und ihn sich - irgendwie- beim Älterwerden bewahrt. Welcher das ist? Wahrscheinlich der, der nach ein/zwei Takten glasige Augen zaubert, der es schafft, dass man im größten Stress Inne haltet. Und erzähl mir niemand er kenne sowas nicht. Man hat als Jugendliche(r) halt stark Musik ins Zentrum gestellt, so wie das die heutige Jugend mit ihrer Musik auch tut. Darum kreiste irgendwie alles, sei es Lebenseinstellung(en), Kommunikation (auf lauten Konzerten nonverbaler Art), Sinnlichkeit, Tröster, Aufputscher, Attitüden, Moden usw. usf. Genau das taucht aber wieder auf, wenn z.B. Alte zusammen sind und z.B. "die Soundtracks ihrer Jugend" ertönen - es ist plötzlich alles (fast) wieder da oder das Gefühl holt einem vlt. wieder ein, weil der Soundtrack in der Dachkammer den zugehörigen Super8 Film ablaufen lässt....

Es ist dabei auch völlig gleichgültig welche Qualität die Musik des Soundtracks wirklich hat(te) - und "audiophil" wird damit sowieso zu stupidem Unsinn. Dem zappelnden Mann von Boney M. und seinen staunenden Zuhörern war das sicherlich shiceegal...

Gruss
Stefan


[Beitrag von pinoccio am 20. Jun 2012, 19:04 bearbeitet]
Soundy73
Inventar
#561 erstellt: 20. Jun 2012, 20:03
Stefan (pinoccio) schrieb, nach meiner Ansicht richtig folgernd:


Ich würde sagen, die Differenzierung des eigenen Musikgeschmacks begann genau dann, wenn man sie nicht mehr als bloßes Differenzierungsmerkmal betrachtete. Damit ging wohl auch die Zuordnung zu einer Szene oder (Jugend)Kultur flöten. Schätze die verlorene Zuordnung und andere Betrachtung von Musik kann das alles beschleunigen.


Meine These: Ich habe erst im Laufe meines Musik-erlebens eine Affinität zu einer (ggf. wie in meinem Falle sehr breit gestreuten) Art der Musikdarbietung entwickelt.
Ich ließ mich nie, wie andere als Fan irgendeines Künstlers/irgendeiner Gruppe/..Orchesters darstellen.

Damit war ich jedoch (ich habe viel "Platten gelegt" und tu's noch ab und zu ganz gern), ziemlich massenkompatibel. Es war für jede (jetzt wird's böseteufli!) musikalisch-subkulturelle Gruppe ausreichend Material zum "mitspielen" und drüber lästern dabei.
Trotzdem stand ich somit zwischen den Stühlen:

Ich gehörte nicht zu den schwarz gewandeten Rockern, den (vermeintlich ich schrieb böse ) intelektuellen - Alan Parsons, Barclay.../Zappa/Oldfield-Fans, noch zu den bunten Boygroup-/Girlgroup-Junkies...

Somit musste ich auch, meinen sozialen Umgang davon unabhängig bestreiten, das ist nach meiner Einsicht, schwerer als mit einer Strömung mit zu dümpeln.

Ich freue mich über Kommentare dazu, die meine These stärken oder schwächen. Anscheinend (s.o. ) sind ausreichend Lebenserfahrungsjahre hier vorstellig, um ein derartiges Diskussionsfeld zu behandeln - und garantiert auch aus den o.g. Lagern, oder aus noch extrem anderen, nicht genannten.
Auch heute gibt's viel Zeugs, von dem ich noch überhauptznix gehört habe! Damit sind die Youngsters dann wohl auch im Boot und können meine "alte" Meinung zeitgemäß reflektieren - so hoffe ich.
Mr._Lovegrove
Inventar
#562 erstellt: 21. Jun 2012, 06:03

Jenny4 schrieb:

@Mr. Lovegrove: Sorry für die Faktenhuberei, wie Du es nennst - liefere doch bittebitte weitere Phänomene, Erlebnisse, wunderbare Widersprüche und spannende Fragen, das inspiriert mich wirklich zum Weitersuchen, und ich lese es auch gern.


Nein, kein Thema. Die Fakten sind doch eigentlich sehr wichtig, um diverse Phänomene zu verstehen. Ich werde mich denn nun hier aber weiterhin auf diese Phänomene und auch auf den sozio-kulturellen Teil dieses Thread beschränken. Diese Thematik interessiert mich wirklich.

Und deshalb morgen mehr zum von soundy angesprochenen Thema...
knollito
Inventar
#563 erstellt: 21. Jun 2012, 09:26

Soundy73 schrieb:

Ich ließ mich nie, wie andere als Fan irgendeines Künstlers/irgendeiner Gruppe/..Orchesters darstellen.


Das kann ich sehr gut nachempfinden, da ich mich nie von irgendwelchen Moden habe beeinflussen lassen, sondern mich sehr frühzeitig um persönliche Qualitäts- und Auswahlkriterien bemüht habe - egal, ob die nun massen- oder mit einer bestimmten sozialen Gruppe kompatibel sind. Das ist zwar sicher im sozialen Kontext schwieriger, weil man eben nicht das angesagte Label trägt oder die "in"-Gruppe xy toll findet. Aber auch wenn es der schwerere Weg ist, schafft es doch etwas was heute weitgehend verloren gegangen ist: Unabhängigkeit, Persönlichkeit und Individualität. Der Vorteil: dies wird - nach einiger Zeit - immer mehr geschätzt, je uniformer der Massengeschmack ist.

Zurück zur Musik im Konkreten: natürlich gibt es Gruppen oder Künstler, die mir besonders ans Herz gewachsen sind, die Top 5 oder 10 für die Insel, wenn man denn wählen müßte. Andererseits kategorisiere ich Musik nicht nach Stilrichtungen, sondern danach, ob ein Interpret oder ein Stück nach meinem Empfinden gelungen ist oder nicht, ob es mich in irgendeiner Form berührt.
Soundy73
Inventar
#564 erstellt: 21. Jun 2012, 10:17
@ knollito, Du schriebst so treffend:


Andererseits kategorisiere ich Musik nicht nach Stilrichtungen, sondern danach, ob ein Interpret oder ein Stück nach meinem Empfinden gelungen ist oder nicht, ob es mich in irgendeiner Form berührt.

Mit etwas Patriotismus
so isses

Und das gilt - völlig unabhängig vom Erinnern - eben auch für Titel, die ich eventuell das erste Mal, z.B. im Radio höre. Da geht zwischen den Ohren die Wertungsmaschine an, die entscheidet: Top oder Flop
Oft liege ich damit zumindest nah dran, am (messbaren?) Chart-Erfolg.
Es gibt aber auch: ich find's toll - die Bewertungsmaschine wertet jedoch: Nicht massenkompatibel! Da spielt dann vermutlich die Erinnerung, vielleicht besser die Erfahrung hinein, die jahrelanges Feedback bei "Plattenlegerdiensten" einbezieht. Kompliziert das Ganze ist

Oder wie erkläre ich mir, dass für mich Martin Levac der legitime (Bühnen-!!!) Nachfolger von Phil Collins ist?
Würde er mich erhören, so sagte ich dem lieben Phil, schreib' Du deine bisweilen tollen Titel, ohne Rücksicht auf das, was Du noch leisten kannst (also wie früher!) und lass' den Martin die Bühnenshows machen. Wäre das massenkompatibel? Wenn da kein Abkömmling von Genesis mehr vor dem Publikum stünde? Fehlen dann die erinnerten Emotionen? Oder ist - rein von der Machart her - dann ein Bezug herstellbar? Kann der Martin überhaupt, ohne Übungsvorbild (neue Titel!), so performen, dass dieser Bezug entsteht?
Mann wäre das als Experiment spannend!

Sorry, Edit und mir fiel noch soviel ein, was hffentlich bedenkenswert ist.


[Beitrag von Soundy73 am 21. Jun 2012, 10:34 bearbeitet]
knollito
Inventar
#565 erstellt: 21. Jun 2012, 13:11
Und dann gibt es noch das gar nicht seltene Phänomen, dass man ein Stück oder eine Platte/CD erst bei dritten oder vierten Anhören richtig gut findet ... man sich das Ganze quasi erst erschließen muss - in welcher Form auch immer. Gerade in solchen Fällen wäre es interessant, nachvollziehen zu können, was sich wo in der Wahrnehmung verändert hat und wie es zu der veränderten Bewertung nach mehrmaligen Anhören kommt. Sicher hat hier schon mal die eine oder der andere ganz ähnliche Erfahrungen gemacht.


[Beitrag von knollito am 21. Jun 2012, 14:39 bearbeitet]
THWO
Stammgast
#566 erstellt: 21. Jun 2012, 13:54
So ging es mir bei "Sacre..." / Strawinski beim ersten Mal. War doch zunächst reichlich ungewohnt. Später wurde es für eine Weile sogar eines meiner Referenzstücke für Boxentests, angesichts dieser herrlichen Dynamik.

Gruß,
Till
Jenny4
Stammgast
#567 erstellt: 21. Jun 2012, 16:37
Jürgen schrieb:

Meine These: Ich habe erst im Laufe meines Musik-Erlebens eine Affinität zu einer (ggf. wie in meinem Falle sehr breit gestreuten) Art der Musikdarbietung entwickelt. Ich ließ mich nie, wie andere als Fan irgendeines Künstlers/irgendeiner Gruppe/..Orchesters darstellen.

Lieber Jürgen, Deine These ist schwer zu unterstützen oder zu widerlegen, weil sie so persönlich ist - da bin ich geneigt zu sagen, ja, so war das für Dich! Jedenfalls finde ich das vollkommen glaubwürdig.

Wenn es Dir eher darauf ankommt, Dein Erleben mit anderen zu vergleichen, haben wir mehr Spielraum.

Zugegeben, das ist affendoof, aber wahr: Ich hab mal auf Leif Garrett gestanden. Dabei hatte ich zeitlebens nur eine einzige Single von ihm und würde wahrscheinlich nicht mal die bemerken, wenn ich sie zufällig heute hören sollte. Es war einfach so, dass "alle" auf irgendwen standen, und dann hab ich mir halt auch jemanden rausgesucht, und da Brooke Shields damals noch nicht gesungen hat (die wäre es sonst gewesen) und Barbra Streisand einfach unterirdisch nicht-angesagt war in meiner Altersgruppe, schon gar nicht mit ihren klassischen Stücken, habe ich eben Leif Garrett genommen. Weil den sonst niemand mochte, waren die Poster und die Starschnitte in der Bravo-Heften meiner Freundinnen auch immer für mich übrig.

Davon abgesehen, war mit dieser Wahl als Fan natürlich erst recht kein Blumentopf zu gewinnen.

Mein Zimmer war quasi tapeziert mit Leif Garretts Konterfeis, und eine Zeit lang habe ich auch abends allen gute Nacht gesagt. - So viel zur Sozialisation. Es hat sich wieder gelegt. (Man beurteilt heutige Teenies milder, wenn man das selbst mal erlebt hat.)

Musik (vollkommen abgesehen von irgend einer Marke) kam für mich eigentlich erst mit Queen. Ich bin ja Texthörerin, und die Texte... mein damaliger erster Freund hat die schönsten für mich abgeschrieben (von Hand!), und sie hingen rund um mein Bett an der Wand. Natürlich kann ich sie heute noch größtenteils auswendig. So gesehen war ich im Gegensatz zu Dir definitiv Fan von irgendwem.

Eine größere Breite in der Wahrnehmung und im Geschmack kam tatsächlich erst in mein Leben, als mein audiophiler Freud die Bühne betrat und ich zum ersten Mal jemanden hatte, der mich wirklich gefordert hat im Zuhören und Hinhören. Und das ist nur eine einstellige Anzahl von Jahren her... und dauert mit unverminderter Intensität und Steigerungsrate immer noch an...
pinoccio
Hat sich gelöscht
#568 erstellt: 21. Jun 2012, 16:44

Jenny4 schrieb:
Mein Zimmer war quasi tapeziert mit Leif Garretts Konterfeis, und eine Zeit lang habe ich auch abends allen gute Nacht gesagt. - So viel zur Sozialisation. Es hat sich wieder gelegt. (Man beurteilt heutige Teenies milder, wenn man das selbst mal erlebt hat.)


Leif Garrett ist schon ne Hausnummer

Milder beurteilen? Ich weiß nicht, ob man es überhaupt beurteilen sollte. Viel eher bin ich der Meinung, dass man dem Nachwuchs bewusst Räume dafür schaffen sollte, der dann nur der ihrige ist. Dazu gehört auch, dass man eben nicht aufs Rolling Stones Konzert gemeinsam geht. Wie soll sich die Jugend den abgrenzen können, wenn ihre Eltern alles mitmachen?

Es ist einfach nur peinlich, wenn Kinder ihre eigenen Eltern abnabeln müssen...

Gruss
Stefan
Jenny4
Stammgast
#569 erstellt: 22. Jun 2012, 04:08

dass man eben nicht aufs Rolling Stones Konzert gemeinsam geht

Oh Stefan, wie wahr, wie wahr!!!

Meine Eltern (von denen ich sonst bestimmt nicht das Problem hatte, mich abzugrenzen) sind mitgegangen auf mein erstes Queen-Konzert. Mein Freund hatte die Karten besorgt, eigentlich wollten nur wir zwei..., aber sonst hätte ich nicht dürfen.

Meine Mutter fand's toll, aber mein Vater hat sich nach den ersten paar Liedern aus Zeitungspapier Ohrenstöpsel gebaut, weil ihm alles viel zu laut war.

Knollito: Und noch mal zu Queen, Live Killers: Der (für mich damals) "brachiale" instrumentale Part in Get down, make love war eines der ersten Musikstücke, das ich mir durch mehrmaliges Hören erarbeiten musste. Das war für mich einfach nur unmelodischer Krach.

Mit diesem Stück haben wir auf einer kleinen Party mal gut Spaß gehabt: Meine Freundin war eingeschlafen, und wir haben ihr den Kopfhörer aufgesetzt, das eingespielt und ihr zugeschaut, wie sie "träumt"...

Nicht auszudenken, welchen Weg meine musikalische Sozialisation hätte nehmen können, wenn ich damals schon meinen heutigen audiophilen Freund mit seiner ansehnlichen Musiksammlung gekannt hätte! Übrigens läuft John Watts: Iceberg Model immer noch täglich mindestens ein Mal komplett. Mittlerweile vermisse ich die Fehler aus der erste Scheibe nicht mehr.
Soundy73
Inventar
#570 erstellt: 22. Jun 2012, 08:19
Hallo@ all!

Ja Jenny, genauso hatte ich mir das vorgestellt, Deine (absolut nachvollziehbare) Erfahrung:


Es war einfach so, dass "alle" auf irgendwen standen,


..ist es, auf die ich als Konter gehofft hatte. Ebenso wie von knollito:


Und dann gibt es noch das gar nicht seltene Phänomen, dass man ein Stück oder eine Platte/CD erst bei dritten oder vierten Anhören richtig gut findet ... man sich das Ganze quasi erst erschließen muss - in welcher Form auch immer.


Aktuelles Beispiel für mich: "Standing still" mit Roman Lob, mir war absolut klar, dass das Abschneiden beim Eurovision-Song-Contest in keinster Weise besser ausfallen konnte, obwohl sowohl Vortrag, als auch Titel, granatenstark sind/waren. ein titel, den man sich aber erst "schönhören" muss, sowas kann dann beim einmaligen Hören nicht durchzünden

Und auch Tills Bemerkung, dass es Stücke gibt, die man dann zu:


Referenzstücke(n) für Boxentests, angesichts dieser herrlichen Dynamik
macht, kann ich absolut nachvollziehen. Doch daraus spricht der hinterfragende Techniker, da sind wir dann wieder auf einer Ebene angelangt: Erfahren, was das Ding leisten kann - egal ob man's nachher überhaupt so braucht

Sorry, das waren jetzt ganz Botenstoff-freie Erfahrungen, die den Thread ein wenig von der physiologischen/psychologischen Schiene weggedrängelt haben.
Daher müsste ich nunmal wieder Jenny bitten: Moderier' mal, fasse wieder so prägnant kurz zusammen, wie unlängst und lenke dahin, wo Du eigentlich hin möchtest.
Danke für die Mühe, die ich mache, muss wasteln gehen...
Tastaturio
Stammgast
#571 erstellt: 22. Jun 2012, 08:32

Meine Eltern (von denen ich sonst bestimmt nicht das Problem hatte, mich abzugrenzen) sind mitgegangen auf mein erstes Queen-Konzert. Mein Freund hatte die Karten besorgt, eigentlich wollten nur wir zwei..., aber sonst hätte ich nicht dürfen.


Das funktioniert auch andersrum. Meine Nichte (damals 15) hat mien Holde und mich mit auf ein Donots-Konzert geschleppt, weil sie allein noch nicht hindurfte. War ja absolut nicht unsere Richtung. Aber was solls, man ist ja nett. Dann haben wir ein Abkommen geschlossen: Unsere Nichte blamiert uns nicht, und wir blamieren sie nicht. Wie funktioniert das: Ganz einfach. Sie ignoriert uns nicht und benimmt sich "anständig" und wir gehen nicht ständig zu ihr und fragen: "Hallo Schatz, alles klar, fühlst Du Dich wohl, brauchst Du was ..." usw. Das funktioniert ganz prima. Die Mädels stehen direkt vor der Bühne, und wir beim Mischpult (da ist halt der Sound am besten). So kann jeder das Konzert genießen, ohne sich von dem anderen "beobachtet" zu fühlen. Tja was soll ich sagen. Alle haben das Konzert genossen, und auch meine Frau und ich sind abgegangen wie die Zäpfchen, wobei wir mit Abstand die Ältesten waren(Ca 15 Jahre über dem Durchschnitt). Aber mit unserem Rumgezappel haben wir uns sogar den Respekt der jüngeren Generation eingeheimst .

Noch ein Beispiel: Meine Mutter habe ich in meiner Jugend mit Deep Purple und ähnlichem bombadiert. Fazit: Dieses Jahr wird sie 70 und steht auf Joe Cocker, hört Deep Purple, Manfred Mann und hasst Schlager und Volksmusik.
knollito
Inventar
#572 erstellt: 22. Jun 2012, 08:53

Tastaturio schrieb:
Noch ein Beispiel: Meine Mutter habe ich in meiner Jugend mit Deep Purple und ähnlichem bombadiert. Fazit: Dieses Jahr wird sie 70 und steht auf Joe Cocker, hört Deep Purple, Manfred Mann und hasst Schlager und Volksmusik.


Spätestens, wenn das ZDF im samstäglichen Abendprogramm "Die Hitparade der Rockmusik" statt Volksmusik sendet, wissen wir, dass auch wir langsam in die Jahre kommen ... aber bis dahin sind ja noch einige Sommer ... denn so schnell sind die Verantwortlichen der öffentlich-rechtlichen Anstalten nicht.
Soundy73
Inventar
#573 erstellt: 22. Jun 2012, 12:12
@Tastaturio!

Du schriebst:
Die Mädels stehen direkt vor der Bühne, und wir beim Mischpult (da ist halt der Sound am besten).
- Jawoll, so isses, wir auch, wenn's irgendwie geht. Verdammt, sind wir jetzt audiophil?

@knollito - Das walte Hugo
pinoccio
Hat sich gelöscht
#574 erstellt: 22. Jun 2012, 12:55

Soundy73 schrieb:
Verdammt, sind wir jetzt audiophil?


Ja

Mr._Lovegrove
Inventar
#575 erstellt: 23. Jun 2012, 05:49
Es scheint so, als ob sich hier in diesem Thread der eine oder andere Teilnehmer zusammenfinden, die eine ähnliche eher individuell geprägte Musiksozialisation hinter sich haben oder sogar noch drinnen stecken.
Auch ich bin nie einem Personenkult verfallen und habe mich nie irgendeinem Style verschrieben, der in Verbindung mit einem Musikgenre oder -Stil stand. Keine Poster an den Wänden, aber T-Shirts sehr wohl. Diese aber ausschließlich in Verbindung mit ganz persönlichen Erlebnissen und einer Aussendarstelung meines GEschmackes.
Ich hatte mal früher (da war ich 15,16,17) eine weißes Shirt mit dem Cover von Tina Brooks berühmten "True Blue" Album drauf. Dieses Shirt war auch nicht selbstgemacht. Man konnte es im Laden kaufen (Engbers). Ich liebte das Shirt. Dabei kannte ich die Platte nichtmal. Nur Blue Note war natürlich ein Begriff. Man lachte mich aus dafür, aber ich trug danach umso öfter. Ich war und bin Jazzfanatiker und dieses Shirt zeigte dies. Und ich war traurig, als es nach all den Jahren so viele Löcher hatte, dass man mehr Luft als Shirt sah. Noch heute machen meine Kumpels Witze über das Shirt und noch heute vermisse ich es.
Gut, in meinem Hörzimmer hängt heute große Fotos von Jan Garbarek und Golden Earring, aber dieses Zimmer ist ja auch mein ganz persönlicher Rückzugsort in meine, wie ich sie so schön nenne, Blase. In mein ureigenes, inneres Reich, das keiner verstehen muß (und es einige auch nicht tun). Dies ist sehr wichtig für mich, denn "da draußen" trifft man kaum Menschen, die ähnlich kompromißlos und unangepasst Musik hören und leben.
In diesem Zimmer pfuscht mir auch niemand rein, darf meine Tochter nicht spielen und es sieht so aus, wie ich es will. Auch über dieses Relikt wird natürlich gespottet, als ich aber mal zur Einweihung meiner neuen Boxen vor 2 Jahren zur Hörsession geladen hatte, waren einige tief beeindruckt, wie gut Musik klingen kann.
Ich denke, eine "nach-Aussen-Kehrung" der Seele wirkt sehr befreiend und stärkt das Selbstwertgefühl enorm. Ich glaube, ich brauche mal ein T-Shirt mit "Kind of Blue" drauf....
tsieg-ifih
Gesperrt
#576 erstellt: 23. Jun 2012, 12:34

Dieses Jahr wird sie 70 und steht auf Joe Cocker, hört Deep Purple, Manfred Mann und hasst Schlager und Volksmusik.

Ozzy ist 62 (sieht aus wie 100) und hat im Interwiew in der Süddeutschen gesagt "Ich bin schon fast tot"

Na ja davon ab dass diese "Ich bin schon fast tot Kultur" immer grösser wird, sterben die Elvis Fans langsam weg und neue Rentnerbands spielen die Klassiker aus den Siebzigern wie "Smoke on the Water" .
pinoccio
Hat sich gelöscht
#577 erstellt: 23. Jun 2012, 17:00

Tastaturio schrieb:

Noch ein Beispiel: Meine Mutter habe ich in meiner Jugend mit Deep Purple und ähnlichem bombadiert. Fazit: Dieses Jahr wird sie 70 und steht auf Joe Cocker, hört Deep Purple, Manfred Mann und hasst Schlager und Volksmusik.


Spontan schoß mir beim lesen der Gedanke durch die Rübe, was eigentlich noch der Unterschied zwischen Schlager- und Volksmusik und Cocker, Deep Purple, Manfred Mann (und vielen weiteren Rock-Dynos) ist?



Gruss
Stefan
Soundy73
Inventar
#578 erstellt: 23. Jun 2012, 17:54
Oh da gibt es sicher einen Unterschied, der sich herausarbeiten lässt, Stefan.

Ich bringe da zuerst einmal die Definition von Volksmusik bei

Sowie die Definition von Rockmusik.

Dann wird noch Popmusik differenziert, man beachte: Mit einem "Paula" hinter dem "Otto", da es sonst abgleitet

Wünsche allerseits ein schönes Knochenende und bin auf die Anneliese gespannt (oder war's die Analyse?).
Mr._Lovegrove
Inventar
#579 erstellt: 26. Jun 2012, 05:29
Ich habe am Sonntag vor meiner Anlage eine Art "Anti-Jon-Balke-Effekt" erlebt.
Nachdem ich nun schon seit über einer Woche diese CD
jpc.de Rene Pretschner - Floating Pictures
mit viel Vergnügen auf dem Fahrrad auf meinem Weg zur Arbeit genieße und dabei immer wieder die Augen schließen muß, weil die Musik mich so packt,
habe ich nun dieses Erlebnis im Hörzimmer gesucht......aber nicht bekommen. Die Musik erschien belanglos, oberflächlich und nicht tiefgründig genug. Diese schwelgerischen Grundthemen waren zwar immer noch faszinierend, aber mehr gab mir das Album auch nicht. Auf der Anlage kam zudem hinzu, dass der Klang der CD sich als wenig griffig herausstellte.

Und nun kommt es: Auf dem Fahrrad, mit der Luft in der Nase, dem schönen Wetter im Blick und der Freiheit des Drahtesels mag ich die CD immer noch hören. Sie gibt mir trotz des ernüchternden Erlebnisses im Hörzimmer immer noch so viel Gänsehaut.

Ich habe im Hörzimmer danach Bob Degens "Jake remembered" aufgelegt. Diese CD funktioniert auf dem Fahrrad wunderbar, aber auch auf der Anlage ganz prächtig. Hier sind die Tiefe der Interpretation, das Spiel Degens auf dem Piano und auch der Klang ein gänzlich anderer.

Mein Gehirn schaltet hier anscheinend bewußt in verschiedene Modi. Es gibt den Modus "Analytisch geprägter Genuss" im Hörzimmer und "Emotional geprägter Genuß" auf dem Fahrrad. So wirkt es zumindest auf mich. Wirklich erstaunlich.....
knollito
Inventar
#580 erstellt: 26. Jun 2012, 08:30

Mr._Lovegrove schrieb:
Nachdem ich nun schon seit über einer Woche diese CD mit viel Vergnügen auf dem Fahrrad auf meinem Weg zur Arbeit genieße und dabei immer wieder die Augen schließen muß, weil die Musik mich so packt.


Ich hoffe, Dein Weg zur Arbeit führt durch menschenleere und autofreie Straßen ...
Jenny4
Stammgast
#581 erstellt: 26. Jun 2012, 13:15
Mr. Lovegrove schrieb:

Mein Gehirn schaltet hier anscheinend bewußt in verschiedene Modi. Es gibt den Modus "Analytisch geprägter Genuss" im Hörzimmer und "Emotional geprägter Genuß"

Ich könnte auf dem Fahrrad nicht Musik hören, aber mit der Anlage im Auto oder der "Zweitanlage" im Wohnzimmer gegenüber der High-End geht's mir ähnlich wie Du beschrieben hast mit den verschiedenen Modi. Ich bin immer wieder überrascht, wie unterschiedlich sich dieselbe Musik für mich anhört und, ja: wie unterschiedlich sie wirkt, je nachdem, wo ich sie höre.

Madonna: Hard Candy lag zwei Jahre lang auf Platz 1 im Auto-CD-Wechsler, die war sozusagen eingebaut. Nirgendwo anders klingt sie so gut wie da und erzeugt dieses Herzklopfen. Aber vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich die CD etwa zeitgleich mit dem Auto gekauft habe, was qualitativ ein Riesensprung für mich war. Allerdings war auch die Anlage im Auto die beste, die ich je hatte (B&O im Audi A5) und insofern steht genau diese Madonna-CD als eine Art Initialerlebnis für erhöhten Hörgenuss. (Vor allem finde ich, dass die Abstimmung dieser Anlage für genau diese Musik wie gemacht ist - Hauptsache wumms.)

Ich bin ja gespannt, ob die Rechnung von Mercedes aufgeht, die in ihre nächste E-Klasse was von Burmester einbauen wollen, und auch für die S-Klasse soll was Höherwertiges kommen. Ob das die Verkaufszahlen wirklich beeinflusst?

(Von mir aus könnten die da sogar Accuphase einbauen , ich würde trotzdem keinen Mercedes geschenkt haben wollen.)

@Soundy: Ja, ich werde demnächst mal wieder was zusammenfassen, dauert noch ein bisschen, kommt aber!
tsieg-ifih
Gesperrt
#582 erstellt: 26. Jun 2012, 13:26

Es gibt den Modus "Analytisch geprägter Genuss" im Hörzimmer und "Emotional geprägter Genuß"


Davon ab dass wieder ein kleiner "Rundumschlag" fällig ist, bei mir vermischt sich BEIDES beim Hören, ich will und kann da nicht auseinanderhalten und lasse beim "Soundduschen" alle "Wühltischgefühle" zu und wenn meine Gefühle negativ werden schalte ich ab und suche mir etwas anderes.

Neulich war ein Freund bei mir zu Besuch und wir haben verschiedene Stücke über die Klein & Hummel Aktivanlage mit den zwei moderat eingestellten "Subs im Rücken" gehört, unter anderem auch Kruder & Dorfmeister (DJ Kicks) und Electrypnose (Subliminal Melancholies). Da sind effektvolle lustige Sachen drauf wo Töne versuchen einen zu erschiessen, vorausgesetzt man sitzt im Stereodreieck und man hat auch etwas für die Raumakustik getan.

Bei "Neverending Story", ein originelles phsychodelisches Stück war er nach eigener Aussage "5 Minuten lang weg". Ich hatte das derweil gar nicht so bemerkt, weil ich meine Mails checkte. Komisch, ich hatte mich schon gewundert warum er so tagträumerisch die Augen zumacht, weil das überhaupt nicht so seine Art ist. Ok ich sagte ihm ja er solle sich entspannen und das hat sogar gewirkt, wobei ich ihn eher zu den sog. "emotionslosen Kontrolltypen" zähle, ihr kennt das ja was meistens Frauen den Männern vorwerfen

Bei mir machte er also eine Ausnahme und ich fande das ok und es lag wohl auch an der Musik, die ihn dazu ermunterte ankommende "tonale Reizeereignisse" einfach so "nach Gefühl" aufzunehmen wie sie halt sind und er sich ungeniert den Assoziationen hingegeben hat. Ich glaube schon der Theorie, dass Aufmerksamkeit besser zu regulieren ist, wenn Emotionen vorhanden sind. Wenn ich beim Musikhören im Sessel "tagträume", also Assoziationen freien Lauf lasse, was nicht heisst dass andere Hirnareale abgeschaltet sind, ich glaube das geht gar nicht, denn selbst wenn man nicht denken will muss man denken und sonst würde ich kein Telefon mehr hören, bekomme ich die besten Einfälle

Also sind Emotionen beim Musikhören nicht nur als Methode anzusehen um Aufmerksamkeit zu regulieren, die als Grundlage fürs Analysieren gebraucht werden, sondern der Motor des Denkens überhaupt oder?

Böse und andersrum gesagt, emotionslose primitiver Fremdkörper sind für mich eher die, die bewusst oder unbewusst keine oder wenig Emotionen nicht nur beim Musikhören zulassen, sondern das ganze Leben so "straight" sind, nur um vielleicht das nicht zu hören, was nicht ins eigene erlernte Denkschema passt.

Der emotionale Genuss also als die Grundvorrausetzung für Vernunft? Ich glaube schon, früher hat man ja gedacht dass menschliche Emotionen wie bei Tieren total "primitiv" sind, weil bei Tieren elektrische Reize im limbischen System extreme emotionale Reaktionen wie Wut, Schreck, Fluchtreflexe usw. auslösten, was normalerweise bei Stimulationen der Grosshirnrinde nie passiert. Belegt wird das ganze damit, weil es immer mehr Hinweise gibt, dass hirngeschädigte Patienten z. B. nach einem Unfall, deren Emotionen beeinträchtigt sind, Fähigkeiten zur Selbstorganisation verlieren.

Ich denke generell wer keine Emotionen hat, der verleugnet sich selbst und merkt nicht einmal was ihm fehlt, wobei die Verzweiflung umso höher wird, je grösser die emotionale Teilnahmslosigkeit ist und DARUM kann ich Leute nicht nachvollziehen, die Musik, Geräte, Kabel und Trallala und emotionale Handlungen wie Teufel und Weihwasser behandeln

Heute werden zwar die Existenz primitiver Aggressions- oder Fluchtmechanismen nicht abgestritten (wenn man sich dieses Forum anschaut wird das auch deutlich ), aber die kognitive Phsychologie lehnt diese überholte "Emotionen = irrational-Theorie" ab.

Gerade bei Musik passt diese Ansicht sehr gut zur musikalischen Erfahrung denke ich und ist ebenfalls eine Bestätigung dafür, dass die sog. "Diskrepanztheorie", die Emotionen als Reaktion unerwarteter Erfahrungen betrachtet, sinnvoll reinpasst.

Unser "Anreizsystem" ist also die Hifi-Industrie, die ständig versucht uns ein Gefühl der Zufriedenheit zu vermitteln und wenn wir etwas kaufen, ist die Belohnung, die wir selbstverständlich erwarten, schon mit drin. Vergleichbar mit einem guten Arbeitsergebnis, wo der Arbeitende eine extra Belohnung bekommt, damit der Mitarbeiter ein "Erfüllungsgefühl" vermittelt bekommt.

Eine für mich schöne Theorie, indem die Befriedigung des arbeitenden Menschen durch den Unterschied (also Diskrepanz) zwischen der wirklich enthaltenden Belohnung und der gewünschten, die er für angemessen hält, bestimmt wird. Ob diese Theorie auch die Saturation der "Nimmersatt-High-Ender" stützt, die manchmal pathologische Formen annimmt, kann ich allerdings nicht unbedingt behaupten



[Beitrag von tsieg-ifih am 26. Jun 2012, 13:29 bearbeitet]
pinoccio
Hat sich gelöscht
#583 erstellt: 26. Jun 2012, 21:14

tsieg-ifih schrieb:

Es gibt den Modus "Analytisch geprägter Genuss" im Hörzimmer und "Emotional geprägter Genuß"


Davon ab dass wieder ein kleiner "Rundumschlag" fällig ist, bei mir vermischt sich BEIDES beim Hören,


Sorry wenn ich deinen restlichen Text wegsnippe..

Ich hab mich auch gefragt, warum beides nicht möglich sein sollte. So richtig scharfe Grenzen kann ich zwischen beiden auch keine ziehen.

Ich würd diesen Zustand der Vermischung von analytisch und emotionalen Genuss einfach Flow nennen.

Obs zutrifft weiß ich nicht, bin kein Psychologe. Musik hören ist eigentliche auch keine Handlung im Sinne von körperlicher Tätigkeit. Aber mir gefällt irgendwie der Begriff, das dort Beschriebene und das bewusste Suchen des (individuellen) Zwischenraums zwischen (individueller) Überforderung und Unterforderung > Langeweile. Mir gefiel in dem Zusammenhang auch deine Erwähnung mit Assoziationen...


Wenn ich beim Musikhören im Sessel "tagträume", also Assoziationen freien Lauf lasse, was nicht heisst dass andere Hirnareale abgeschaltet sind, ich glaube das geht gar nicht, denn selbst wenn man nicht denken will muss man denken


... bei "spezieller" (Kunst)Musik, die irgendwie die Aufmerksamkeit erhöhen und somit vlt. doch eine Tätigkeit beim Musikhören ausgelöst wird, welche dann einen "Flow" zwischen Überforderung und Unterforderung erzeugen kann?

Was haltet ihr davon?

Gruss
Stefan


[Beitrag von pinoccio am 26. Jun 2012, 21:16 bearbeitet]
Jenny4
Stammgast
#584 erstellt: 27. Jun 2012, 02:39
Mr. Lovegrove, Hifi-Geist, Pinoccio: Was für schöne Zusammenhänge Ihr da findet!

Stefan, der von Dir ausgewählte Wiki-Eintrag zu Mihaly Csikszentmihalyis Flow macht mich allerdings ganz unglücklich, der Autor hat das Thema nicht verstanden. Außerdem ist die Beschreibung des Fließens schon viel älter. Ich zitiere aus einem mir physisch vorliegenden Buch:

Carl Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. – Klett-Cotta, Konzepte der Humanwissenschaften, Stuttgart 2006. Original: On becoming a person, 1961.

Kapitel 9: Ansichten eines Therapeuten vom guten Leben: Der sich voll entfaltende Mensch (S. 183-195), Abschnitt: Existenziell bedeutsameres Leben (S. 187 ff)

(Kursiver Text ist im Original kursiv; fett markierter Text von mir markiert.)

"Ein zweites Merkmal des Prozesses, den ich das gute Leben heiße, besteht für den Einzelnen in der zunehmenden Tendenz, völlig im jeweiligen Augenblick zu leben. Dieser Gedanke wird leicht missverstanden; er ist auch vielleicht in meinem eigenen Denken etwas vage. Lassen Sie mich versuchen zu erklären, was ich damit sagen will.

Es liegt auf der Hand, dass jeder Augenblick für den Menschen, der seiner jeweils neuen Erfahrung völlig offen, völlig ohne Abwehrhaltung gegenüberstünde, etwas Neues wäre. Die komplexe Konfiguration von inneren und äußeren Stimuli, die in diesem Moment existiert, hat nie zuvor in eben dieser Welt existiert. Folglich käme ein solcher Mensch zu der Erkenntnis: „Was ich im nächsten Augenblick sein werde, und was ich tun werde, wächst aus diesem Augenblick, und kann weder von mir noch von anderen vorausgesagt werden.“ Oft genug erleben wir, dass Klienten genau solch ein Gefühl äußern.

Das in einem solchen existentiellen Leben gegenwärtige „Fließen“ lässt sich vielleicht folgendermaßen ausdrücken: das Selbst und die Persönlichkeit gehen aus der Erfahrung hervor; die Erfahrung wird nicht übersetzt oder verdreht, um der vorgeformten Selbststruktur zu entsprechen. Das heißt, man wird Teilnehmer und Beobachter am dauernden Prozess der organischen Erfahrungen; man kontrolliert sie nicht.

Ein solches Leben im Augenblick bedeutet Abwesenheit von Starrheit, von straffer Organisation, von Überstülpung der Struktur auf die Erfahrung. Es bedeutet stattdessen ein Maximum an adaptability*, eine Entdeckung von Struktur in der Erfahrung, eine fließende, sich wandelnde Organisation des Selbst und der Persönlichkeit.

Diese Tendenz zum existentiellen Leben scheint mir sehr deutlich bei Menschen hervorzutreten, die im Prozess des „guten Lebens“ stehen. Man könnte fast sagen, dass es sich um die wesentliche Qualität dieses Prozesses handelt. Existentielles Leben birgt in sich die Entdeckung der Struktur von Erfahrung, indem man die Erfahrung lebt. Die meisten von uns begegnen indes der Erfahrung mit einer vorgegebenen Struktur und Bewertung, damit sie unseren Vorurteilen entspricht, und ärgern uns über die „fließenden“ Qualitäten, die sie so ungebärdig machen, wenn wir versuchen, sie in unsere sorgfältig konstruierten Schubfächer einzupassen. Den Geist für das öffnen, was sich jetzt ereignet; in dem momentanen Prozess die Struktur entdecken, die er anscheinend besitzt: dies scheint nach meinen Beobachtungen eine der Qualitäten des guten, des reifen Lebens zu sein.“

(*Der Übersetzer weist darauf hin, dass das deutsche Wort „Anpassungsfähigkeit“ eine ungenügende Übersetzung ist: „Adaption ist ein Sich-nach-den-Verhältnissen-Richten.“)

Will jemand das Kapitel haben, gerne auch im englischen Original? Schickt mir eine Mailadresse an jenny4you@gmx.de, ich scanne es ein und schicke es gern weiter. Dieses Buch von Rogers ist ein Grundlagenwerk zur klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie. Es hat jedoch weit über therapeutische Kreise hinaus Maßstäbe gesetzt, die heute noch für Lern- und Entwicklungsprozesse der humanistischen Pädagogik, systemisches Coaching oder partnerschaftliche Mitarbeiterführung gelten.

Hifi-Geist schrieb:

Ich denke generell wer keine Emotionen hat, der verleugnet sich selbst und merkt nicht einmal was ihm fehlt

Carl Rogers würde dem Klienten nicht absprechen, dass er Emotionen hat; er würde eher sagen, dass dieser sie noch nicht wahrnimmt oder noch nicht zulässt (und folglich bisher auch kaum zeigt). Der therapeutische Entwicklungs- bzw. Lernprozess des Klienten besteht darin, Zugang zu seinem Emotionen zu finden, sie zu akzeptieren (statt sich vor ihnen zu fürchten) und zu dem oben beschriebenen "guten Leben" zu finden.

Pinoccio schrieb:

Ich würd diesen Zustand der Vermischung von analytisch und emotionalen Genuss einfach Flow nennen.

Das passt zu Rogers' Erkenntnissen.

Mr. Lovegrove schrieb:

Mein Gehirn schaltet hier anscheinend bewußt in verschiedene Modi.

Carl Rogers würde Dich dabei unterstützen, auch in Deinem Hörzimmer zu diesem Flow zu finden, den Du bisher nur auf dem Fahrrad kennst.

Bezogen auf unser Threadthema heißt das: Die Bereitschaft bzw. die Fähigkeit, die eigenen Emotionen beim Musikhören (und auch sonst?) zuzulassen und sich dem Flow hinzugeben, könnte für die "Verdrahtung im Hirn" eine wesentliche Rolle spielen.

Was haltet Ihr davon?
Mr._Lovegrove
Inventar
#585 erstellt: 27. Jun 2012, 06:31
Da habe ich ja was losgetreten. Ich glaube, ich habe mich da wohl etwas zu abgrenzend formuliert, obwohl ich das Wort "geprägt" benutzt habe. Jetzt denkt bloß nicht, ich wäre vor der Hifi Anlage ein kalter Analyseroboter. Wenn ihr mich vor der Anlage nur mal sehen könntet
So war das auch nicht wirklich gemeint. Es ist nur so, dass die akustischen Verhältnisse im Hörzimmer andere sind, als auf dem Fahrrad mit Knöpfen im Ohr. Natürlich vermischen sich beide von mir ernannten Typen in beiden Situationen. Mein Analyseapparat läuft auch auf dem Fahrrad. Aber in bestimmten Situationen werde ich bei der richtigen Mischung aus Musik und Stimmung von meinen Emotionen quasi überrannt. Neben dem Beispiel Sonnenschein bei sommerlicher Temperatur + Rene Pretschner gibt es da u.a. noch das Beispiel winterliche Kälte und schneebedeckte Landschaft + Jan Garbareks' "Legend of the seven dreams". Diese CD vermischt sich mit der kühlen Jahreszeit zu einem akustisch-optisch-emotionalen Synergieeffekt, bei dem mir jede Musikanaylse völlig egal ist.
Diese Vermischungen finden in meinem Hörzimmer kaum statt. Dort wirkt nur die Musik. Zudem meine Anlage mir die Musik natürlich über den Umweg des Raumes in den Kopf leitet. Das schafft ganz andere Verhältnisse, die auch die Musik oft in ganz anderem Licht erscheinen lassen. Plötzlich ist ein Thema eben nicht sofort in meinem Kopf, sondern muss einen Umweg gehen. Und auf diesem Umweg wird erst noch der Stereomix der CD, ihre räumliche Auslotung und die Instrumententransparenz gecheckt. Das meinte ich mit "analytisch geprägt".
Ihr solltet mich erleben, wenn Alan Parsons aus der Anlage kommt....


[Beitrag von Mr._Lovegrove am 27. Jun 2012, 06:32 bearbeitet]
Jenny4
Stammgast
#586 erstellt: 27. Jun 2012, 06:40
Na dann sag mal, welche Scheibe von Alan Parsons es ist. Ich bestelle mir nämlich jetzt mal "blind" Jan Garbarek: Legend of the seven dreams, wenn Du die so gut findest. Von dem hab ich bisher nur Twelve Moons und finde sie schon sehr erhebend.

Musikhören und Raumwahrnehmung sind ja im Gehirn untrennbar miteinander verbunden. Ich bin sicher, dass es auch neuronal einen ganz speziellen Einfluss auf Deine Musikwahrnehmung hat, wenn Du beim Fahrradfahren bewegst und Musik hörst, im Gegensatz zum Stillsitzen oder -liegen im Hörzimmer. Du bekommst beim Fahren ja jede Menge räumlicher Koordinaten ins Hirn gespielt. - Hatten wir das nicht schon mal, oder träume ich?
Tastaturio
Stammgast
#587 erstellt: 27. Jun 2012, 07:13
Der emotionale Zustand spielt meiner Meinung nach die größere Rolle beim "Ersthören" eines Musikstückes, noch weit vor der Umgebung. Bsp.: Ich höre oft vor dem Einschlafen über KH noch Radio. Während des wegdösens oder dem Übergang in eine Art Traumphase läuft ein Musikstück, das man Bewußt nicht mehr wahrnimmt. Doch plötzlich ist man hellwach, hat das Stück im Ohr und ist emotional aufgewühlt. Am nächsten Tag besorgt man sich Platte, CD um diesen Zustand wieder zu erreichen. Selbst über die gleiche Anlage, gleicher Raum, gleicher KH berührt einen das Stück nicht emotional beim "Zweithören". Das Stück kann man so oft hören wie man will, auch auf besseren Anlagen, über Boxen, in anderen Räumen. Es spricht einen emotional nicht mehr so an wie beim "Ersthören" im Halbschlaf. Vielleicht liegt es daran, das man im Wachzustand den Analyseverstand nicht ganz ausschalten kann und das Stück deshalb einfach "nüchterner" wirkt.

Welche Erfahrungen habt ihr da, könnt ihr das bestätigen?


[Beitrag von Tastaturio am 27. Jun 2012, 07:15 bearbeitet]
Mr._Lovegrove
Inventar
#588 erstellt: 27. Jun 2012, 10:29

Jenny4 schrieb:
Na dann sag mal, welche Scheibe von Alan Parsons es ist. Ich bestelle mir nämlich jetzt mal "blind" Jan Garbarek: Legend of the seven dreams, wenn Du die so gut findest. Von dem hab ich bisher nur Twelve Moons und finde sie schon sehr erhebend.


Dann wird dir die "Legend....." sicher gefallen. Falls du dann noch Interesse an Jan Garbarek hast, verlinke ich dich mal hierhin: http://www.hifi-forum.de/viewthread-67-984.html
Von Alan Parsons meine ich die "Tales of mystery and imagination". Neben "I Robot" die gelungenste Platte und in meinen Augen das bombastischste und in Bezug auf die Verschmelzung von Rock und Orchester gelungenste Album überhaupt.
pinoccio
Hat sich gelöscht
#589 erstellt: 27. Jun 2012, 10:55

Mr._Lovegrove schrieb:

Von Alan Parsons meine ich die "Tales of mystery and imagination". Neben "I Robot" die gelungenste Platte und in meinen Augen das bombastischste und in Bezug auf die Verschmelzung von Rock und Orchester gelungenste Album überhaupt.


Ich finde die "Valid Path" genial.

Parson fährt mE alles auf, was man auffahren kann, wenn man am Computer oder Sequenzer komponiert, arrangiert und bastelt. Ich kenne Musik-Sequenzer relativ gut, hab im Laufe der Zeit eine Affinität entwickelt, das Hineintauchen, das Verfolgen einzelner Sequenzen, Spuren, das Belauschen und Erkennen der vielen verstreuten und verschwenderischen Gimmicks - manchmal will ich wissen, wie er was vlt. gemacht hatte, das erzeugt bei mir den "Flow". Der mag sogar mehr in die Richtung "analytischer Flow" tendieren. Aber ist o. wäre das nicht immer so, wenn man mit der Art der Musik event. eigene Erfahrungen o.ä. hat? Bei mir fremden Arten verschwindet die Analytik und das Pendel schlägt mehr in Richtung emotinal. Aber wie geschrieben, so eindeutig kann ich keine scharfen/schärferen Grenzen ziehen. Es ist wie ein Pendel, das (auch je nach Laune) mal hin und her schaukelt, ich schaukel dann einfach mit.

@ Jenny

Ich bin mir nicht sicher, ob Csikszentmihalyis den Flow von Rogers gemeint hat. Bei Csikszentmihalyis sehe ich das mehr in Richtung "Tätigkeit", nicht unbedingt Lebensmodell. Ich weiß aber nicht, wie ich Musikhören mit körperlicher Tätigkeit in Verbindung bringen könnte...

PS. Um den (wasweißichjetzt)Flow mal wieder richtig auszuprobieren, hab ich mir gerade diese Scheibe bestellt. Freu ich mich schon drauf...

Gruss
Stefan


[Beitrag von pinoccio am 27. Jun 2012, 10:58 bearbeitet]
tsieg-ifih
Gesperrt
#590 erstellt: 27. Jun 2012, 12:05

pinoccio schrieb:
Ich würd diesen Zustand der Vermischung von analytisch und emotionalen Genuss einfach Flow nennen.

Die Flow-Idee bzw. die "produktive Harmonie", wie ich das jetzt so mal nenne, die normalerweise jeder Mensch unbewusst anstrebt und genau zwischen Langeweile und Überforderung angesiedelt ist wie du sagst passt ganz gut. Interessanter Artikel in Wiki (verstehe gar nicht wieso Jenny ihn nicht gut findet).

Wir sind ja alle irgendwie froh, wenn automatisch alles wie von alleine klappt ohne sich selbst zu überfordern. Das ganze Leben ist auf "gewollte Selbstläufer" angewiesen die zur Harmonie führen sollen, ohne ständig daran zu denken wie dieses "Wohlfühl-Optimum" organisiert werden kann, trotzdem ich aber wissen muss, wie dieser optimaler Zustand für mich ohne grossen Aufwand erreicht werden kann (stark abgekürzt formuliert).

Es ist also beides und ich denke für Introvertierte leichter zu verstehen und umzusetzen als für Extrovertierte und ich bin introvertiert (glaube ich zumindest).

Einen Kontrollzwang habe ich natürlich auch und ist mit analytischem Hören vergleichbar, jeder Ton ist ja real und messbar. Die andere Seite der Medaille ist freien Lauf lassen, also emotionales Hören, auf alles gefasst sein und Überraschungen auf sich zukommen lassen. Das Zweite sind "Impulse" die unberechenbar bzw. nicht messbar sind. Ich denke jeder kennt bestimmt einen impulsiven Mensch der ebenfalls unberechenbar sein kann und genauso kommt manchmal die Musik rüber die ich höre und die ich mir vorher bewusst besorge.

Du stehst glaube ich auch auf Töne die in elektronische Geräusche verbuddelt sind
Wie auch immer, bei mir muss die Musik fliessen und gleichzeitig Impulse auslösen sonst wirds langweilig. Das ist wie bei der Arbeit, wenn ich nicht in "Schwung" bin wird das nix, aber wehe ich bin in Schwung, dann kann ich fast nicht mehr aufhören. Ich bin zwar kein "Workaholic", aber das wäre die Begründung dafür (Spannung ist stärker als Entspannung).

Ich finde das Spannende an der Musik ist doch gerade die impulsive Unzuverlässigkeit und die jeweilige Erwartungshaltung des Hörers was als nächstes kommt Ist wie das Chaos in einem Fluss wo Trillionen von Atomen dem ständigen Wandel der Ereignisse ausgesetzt sind und in jeder Sekunde durcheinander gewirbelt werden, weil nie Ruhe ist und ständig alles fliesst.

Mindestens so viele Zwischentöne gibt es und jeder Ton ist nichts weiter als ein Geräusch und kann als Schwingungsfrequenz gemessen und festgestellt werden und bei 13 Tönen einer Tonleiter sind ca. 6 Milliarden Melodien möglich. Ohne Wiederholungen, ohne Akkorde und ohne kurze u. lange Töne, weil dann wirds noch bissel mehr (Zahl mit 500 Nullen?), also brauchen wir keine Angst zu haben dass uns die Melodien bald ausgehen, wobei die ganzen gecoverten Versionen eher der Faulheit bzw. der Begeisterung der Musiker geschuldet sind.

Ich werde vermutlich nie verstehen, dass Affekte wie Freude, Liebe, Trauer, Schmerz, die sich musikalisch sehr gut ausdrücken lassen und von Musikern und Künstlern als Intention so gewollt sind, die Musik von manchen trotzdem als "Gegenteil von Gemütsbewegungen" falsch verstanden wird, obwohl gerade diese hervorgerufen werden sollen. Deshalb ist es völlig berechtigt, wenn Menschen sich fragen, warum das so ist und ob Gemeinsamkeiten bzgl. der erlebten Wahrnehmung bei Musik vorhanden sind.





Jenny4 schrieb:

tsieg-ifih schrieb:

Ich denke generell wer keine Emotionen hat, der verleugnet sich selbst und merkt nicht einmal was ihm fehlt

Carl Rogers würde dem Klienten nicht absprechen, dass er Emotionen hat; er würde eher sagen, dass dieser sie noch nicht wahrnimmt oder noch nicht zulässt (und folglich bisher auch kaum zeigt).

Da bist du wahrscheinlich besser informiert, weil ich das Buch nicht kenne. Aber das mit dem "Nichtzulassen der Emotionen" war ja auch mein Ansatz. Heisst: bei gesunden Menschen ist das ein Problem die das Wahrnehmen derselben verhindert.

Anders erklärt: wenn Objektivität eine Tür ist und Subjektivität der Raum, dann wäre die Tür für diese Menschen die zum Raum führt verschlossen.

Bei bestimmten Hirnverletzungen sind Emotionen strukturell ausser Kraft gesetzt und folglich dessen die Selbstwahrnehmung gestört. Die Analogie im Umkehrschluss zum "Alleshörer" ist m. E. offensichtlich und man sollte diesen Umstand tolerieren (aber wem sage ich das ), auch wenn man sich manchmal darüber lustig macht. Man(n) macht ja auch Blondinenwitze und jeder weiss dass solche Klischees nicht allgemeingültig sind.



Außerdem ist die Beschreibung des Fließens schon viel älter.

Die ist sogar noch älter wie du vermutest Heraklit hatte schon gesagt "Alles fliesst" (Panta rhei) und Goethe würdigte in seinen Gedichten seine Interpretation von "man kann nicht zwei mal in denselben Fluss steigen".
Soundy73
Inventar
#591 erstellt: 27. Jun 2012, 13:43
Ich möchte einmal (ganz kurz!) auf tsieg-ifih eingehen:


<snip>wobei die ganzen gecoverten Versionen eher der Faulheit bzw. der Begeisterung der Musiker geschuldet sind.<snip>

Um beim Thema zu bleiben, durch die angesprochenen Coverversionen werden "Neuhörer" mit der Information gefüttert, ein ganz tolles, neues Stück gehört zu haben - sie kennen's ja nicht im Original. Aufgrund des Kontextes (z.B. Madonna covert ABBA ) werden völlig andere Emotionen und Hörerlebnisse ausgelöst, als bei (uns) alten Säcken.
Wie wirkt sich sowas auf den "Musikgeschmack" aus, wo sich doch beide auf "80er-Partys" sehentlich wohl fühlen?
Sollte man, wie ich gern, wenn ich im Tiefbau tätig bin (Platten legen)...
niemals aufgeben

..ausgeben? damit ein gemeinsamer Kontext entstehen kann? Einfach mal die Originale vorführen? Wie wirkt sich das aus?

Übrigens Alan Parsons-Daumen auch bei mir hoch! (und E.L.O., BJH) prägend in Sachen softe Mucke.
Tastaturio
Stammgast
#592 erstellt: 27. Jun 2012, 14:16
Man sollte aber nicht alle Covers über einen Kamm scheren. Da gibt es Versionen, die sind einfach "besser" als das original, weil emotional ansprechender, andere sind aber so grottenschlecht (immer rein subjektiv gesehen) das einem das sogar das Original vergraulen kann. Ob die Coverversionen aus Faulheit oder Bewunderung enstehen ist nicht immer zu erkennen. Wie sage ich als Musiker immer: Gut geklaut ist halb geschrieben . Auf der anderen Seite können durch Coverversionen eine ganz andere Hörerschaft gewonnen werden, die sich dann vielleicht sogar mal an das Original begibt. Das erweitert dann ja auch den Horizont.
pinoccio
Hat sich gelöscht
#593 erstellt: 27. Jun 2012, 15:27
Fürn Junghörer dürfte nichts "langweiliger" sein, als wenn ein "Althörer" darauf hinweist, dass der soeben gehörte und für gut befundene Titel in grauer Vergangenheit schon mal die Charts Hitparade, durch sog "singende Entertainer", enterte.

Ich hab solche Kommentare vor 30-40 Jahren auch merkwürdig gefunden. Man konnte auch danach gehen: immer wenn Althörer dabei waren, konnte man vorher locker ne Wette abschließen, dass gleich alle 5 Minuten Belehrungen kommen würden, dass es Song xyz schonmal gab, er schlecht gecovert wurde und dass früher ja sowieso alles besser war....

Und heute?


[Beitrag von pinoccio am 27. Jun 2012, 15:31 bearbeitet]
Jenny4
Stammgast
#594 erstellt: 27. Jun 2012, 15:55
Hifi-Geist schrieb:

Da bist du wahrscheinlich besser informiert, weil ich das Buch nicht kenne. Aber das mit dem "Nichtzulassen der Emotionen" war ja auch mein Ansatz. Heisst: bei gesunden Menschen ist das ein Problem die das Wahrnehmen derselben verhindert.

Ja, und ich wollte Dich damit ehren, Dich darauf hinzuweisen, dass die Fachliteratur Deinen Ansatz bestätigt.

Anders erklärt: wenn Objektivität eine Tür ist und Subjektivität der Raum, dann wäre die Tür für diese Menschen die zum Raum führt verschlossen.



Wie auch immer, bei mir muss die Musik fliessen und gleichzeitig Impulse auslösen sonst wirds langweilig.

Soundy hat dazu schon mal was bemerkt, glaube ich, wo es drum ging, dass er gut vorhersagen kann, ob ein Stück "einschlägt" oder nicht. ich finde es spannend, wenn jemand vorhersagen kann, bei wem ein Stück gut ankommt. Mein Freund kann das immer besser und "serviert" mir seine entsprechenden Funde. (Na ja, vielleicht bin ich ja auch sehr berechenbar... )

Was meinst Du, was meint Ihr denn bezüglich "Impulse auslösen" zu Tastaturios Hypothese über den besonderen Zauber des ersten Hörens?

Tastaturio schrieb:

Der emotionale Zustand spielt meiner Meinung nach die größere Rolle beim "Ersthören" eines Musikstückes, noch weit vor der Umgebung. Bsp.: Ich höre oft vor dem Einschlafen über KH noch Radio. Während des wegdösens oder dem Übergang in eine Art Traumphase läuft ein Musikstück, das man Bewußt nicht mehr wahrnimmt. Doch plötzlich ist man hellwach, hat das Stück im Ohr und ist emotional aufgewühlt. Am nächsten Tag besorgt man sich Platte, CD um diesen Zustand wieder zu erreichen. Selbst über die gleiche Anlage, gleicher Raum, gleicher KH berührt einen das Stück nicht emotional beim "Zweithören". Das Stück kann man so oft hören wie man will, auch auf besseren Anlagen, über Boxen, in anderen Räumen. Es spricht einen emotional nicht mehr so an wie beim "Ersthören" im Halbschlaf.


Über diese ersten Male, ein bestimmtes Stück zu hören, denke ich die ganze Zeit schon nach. Ich höre ohne KH und auch ziemlich wach, und ich kann mich an diese besonderen, aufregenden Momente erinnern. (Mr. Lovegrove, wie nett: Die Tales of Mystery and Imagination waren genau so ein Moment, ich habe die nämlich erst dieses Jahr(!) bei meinem Freund kennen gelernt.) Allerdings habe ich nachher nichts an Genuss vermisst, auch wenn es anders klang.
Mr._Lovegrove
Inventar
#595 erstellt: 28. Jun 2012, 06:09
Zum Thema Ersthören und Empfinden schreibe ich morgen mal was. Hab jetzt keine Zeit mehr dafür.
Tastaturio
Stammgast
#596 erstellt: 28. Jun 2012, 06:32
Es gibt aber sicher auch Stücke, die sich einem beim "Ersthören" dermaßen ins Gehirn bohren, ohne besonderen Anlass oder eine besondere emotionale Stimmung. Ich habe z. B. als 3-Jähriger 1969 auf einem kleinen Transistorradio (ca. 15 x 10 x 4 cm) Hush von Deep Purple gehört natürlich in abgrundtiefer Soundqualität und gänzlich ohne Bezug zu speziellen Liedern geschweige denn Interpreten. Mir gefiel einfach die Melodie. Eine Stunde später war schon wieder alles vergessen. Aber ca.12 - 13 Jahre später als Teenie hab ich dann genau diese Version auf einer Quadro-Anlage gehört. Da war sofort die Erinnerung an diese kleine Radio und die damalige Umgebung und Situation wieder da. Und es war ganz klar, daß es genau diese Version war. Oder aber als Teenie einmal Echoes von Pink Floyd gehört. Zehn Jahre später hab ich dann einen Riff daraus unbewußt in einem Refrain eines Liedes unserer Band verarbeitet. Kaum war das Lied fertig eingeprobt und wir Stolz wie Oskar, als ich endlich eine Schallplatte mit Echoes bekam. Ich hör mir voller Vorfreude Echoes an und stelle fest, daß ich unseren Refrain aus Echoes "geklaut" hatte. Also wie kann es sein, daß man eine Melodie nur einmal in seinem Leben hört, sie dann komplett vergisst aber dann Jahre später genau die Melodie wieder "aktiviert" wird und man die dann wieder erkennt, als hätte man sie erst 10 Minuten vorher gehört?
Soundy73
Inventar
#597 erstellt: 28. Jun 2012, 06:45
@ Tastaturio: genau das meine ich, ich bin ja kein Musikant, aber auch mir geht es so, dass es "Ohrwürmer" gibt, die einmal gehört, sofort die Bimmel läuten=> wird'n Hit

Selbst nach Jahren sind die Dinger - selbst in "Radiowecker-Qualität" vernommen - sofort wieder präsent.


Man sollte aber nicht alle Covers über einen Kamm scheren. Da gibt es Versionen, die sind einfach "besser" als das original, weil emotional ansprechender, andere sind aber so grottenschlecht (immer rein subjektiv gesehen) das einem das sogar das Original vergraulen kann.
Das lasse ich genau so, als (von mir ebenfalls so empfundene) "Wahrheit", im Raum stehen!

@ Stefan: Der "Althörer" (c'est moi) vermeidet den ungestörten Musikkonsum, durch Gesabbel zu bereichern
Es gibt dann jedoch oft Nachfragen, wie "Watt war datt'n?"
pinoccio
Hat sich gelöscht
#598 erstellt: 28. Jun 2012, 16:04

Soundy73 schrieb:

@ Stefan: Der "Althörer" (c'est moi) vermeidet den ungestörten Musikkonsum, durch Gesabbel zu bereichern
Es gibt dann jedoch oft Nachfragen, wie "Watt war datt'n?" :D


Ich könnt mich nur an "Wann war datt?" erinnern
Mr._Lovegrove
Inventar
#599 erstellt: 29. Jun 2012, 05:24
Das mit dem Ersthören ist manchmal so eine Sache. Ich nehme jetzt mal frühe Kindheitsereignisse außen vor. Die waren bei mir kaum prägend. Ich kann mich da eh nur an den einen Nachmittag erinnern, wo ich total fasziniert das erste mal "Oxygen IV" von Jean-Michel Jarre im Radio gehört hatte. Dieses Ereignis spielte aber für den Verlauf meines Musikgeschmackes keine Rolle. Auch habe ich danach nicht gleich angefangen, bewußt oder unbewußt einen Musikgeschmack zu entwickeln. Das kam erst mit meiner ersten Jazz CD.
Aber zurück zum Thema. Ich nutze die Effekte des Ersthörens mittlerweile bewußt aus. Die Spannung, die aufkommt, wenn das erste mal und ohne vorher auch nur ein Schnipsel davon wahrgenommen zu haben, die Musik eines Albums ertönt, ist ein besonderer Reiz. Auf Grund eines gewissen Levels, was ich nach all den Jahren erreicht habe, kann ich mich entweder in den "analytisch geprägten Genuss" begeben oder sofort fallen lassen. Je nachdem, wie die Musik beschaffen ist. Das erstere kommt eher bei komplexer Musik (Klassik, große Jazzensembles) vor, das zweite bei stimmungsvoller Popmusik oder atmosphärischer Jazzmusik (siehe Rene Pretschner, wo dies besonders deutlich passiert ist).
Ich kaufe CDs mittlerweile kaum noch mit vorherigem Probehören (ist auf Flohmärkten auch schlecht) oder ich höre nur ganz kurz rein, um zu checken, ob die Grundstilistik mir zusagt.
Das Herantasten an die Stücke, diese Reise ins Unbekannte ist einfach spannend.
ABER: Das Ergebnis des Ersthörens bedeutet nicht immer ein endgültiges Urteil über die Musik. Manche Platte wird sofort wieder gehört, weil sie so gut ist, manche Platte wird verstoßen, weil sie nicht so gut ist und bei mancher bin ich mir nicht sicher.
Was nicht bedeutet, das Platten, die in eine dieser drei Schubladen fallen, dort ewig verweilen. (siehe z.B. "Jon-Balke-Effekt"). So manche Scheibe wächst mit den Tagen, Monaten und Jahren. Durch erweiterte Erfahrung, Vergleiche, aber auch einfach durch einen veränderten Geschmack. Dann hole ich eine Scheibe wieder hervor, probiere sie nochmal und manchmal empfinde ich die Musik gänzlich anders. Manchmal bleibt das Urteil des Ersthörens aber auch bestehen.
Dennoch ist die unvoreingenimmene Herangehensweise an Musik mittlerweile ein integraler Bestandteil meines Musikkonsums.
So wird es im übrigen auch im August sein, wenn die neue Dead Can Dance CD kommen wird. Die werde ich mir blind kaufen. Egal was da kommen mag....
tsieg-ifih
Gesperrt
#600 erstellt: 29. Jun 2012, 12:13

Also wie kann es sein, daß man eine Melodie nur einmal in seinem Leben hört, sie dann komplett vergisst aber dann Jahre später genau die Melodie wieder "aktiviert" wird und man die dann wieder erkennt, als hätte man sie erst 10 Minuten vorher gehört?

Das ist nicht nur bei Melodien so. Wenn man spricht sind Worte auch nur in dem Moment vorhanden und wenn der Satz zu Ende gesprochen wird, ist alles wieder vergangen. Einzelne Wörter sind wie Melodien und haben also als "Einzel-Ereignisse" keine dauerhafte Existenz, es ist ein ständiges Kommen und Gehen.

Das Gehirn ist nicht nur so programmiert, dass unwichtige Dinge erstmal versenkt werden, sonst könnte man sich nicht auf wichtige Dinge auf das hier und jetzt konzentrieren, auch die spätere Orientierung ist immer durch bestimmte kindliche Muster geprägt, die sich dann zu fest verankerten Überzeugungen entwickeln.

Ich meine dieses "als hätte man sie erst 10 Minuten vorher gehört " wird erst mit bestimmten Assoziationen aus der Versenkung (Unterbewusstsein) geholt und es müssen verschiedene Dinge, Schlüsselerlebnisse oder Körperwahrnehmungen wie in einem Puzzle erst zusammenpassen und zusammenkommen, damit ein Bild oder ein Muster entsteht indem die bewusste Wahrnehmung angeregt wird, dass dann als "neues Ereigniss" oder als Deja Vu vor Augen tritt.

Ich finde den Link nicht, wo ich las, dass Spätgeburten dunklere Klangfarben favorisieren, also die Leute die ohne Bass nicht leben können kennt ja wohl jeder. Ist ja nix neues, wenn absteigende langsame Tonfolgen auf Harmonieinstrumenten (Klavier, Gitarre usw) beruhigend sind und zur Entspannung beitragen.

Ich glaube im Gehirn sind so viele Informationen abgespeichert, dass nur durch bestimmte Assoziationen diese aus der Latenz geholt werden können, die Musik ist sozusagen der Katalysator für Deja Vu Erlebnisse aller Art, die dann entsprechend Situation wie Schuppen vor den Augen aufeinmal einen Sinn ergeben.
Jenny4
Stammgast
#601 erstellt: 02. Jul 2012, 16:55
Zusammenfassung

In den letzten drei Wochen ging es in diesem Thread um das Lernen und Weiterentwickeln der persönlichen Musikwahrnehmung und um Erkenntnisprozesse beim Musikhören.

Erörtert wurden verschiedene Wege der musikalischen Sozialisation:
- als Verfolgung der persönlichen Neugierde;
- als Teil einer Kultur, Subkultur oder Clique: welche Musik „angesagt“ ist und inwiefern man sich davon beeinflussen lässt;
- durch Bevorzugung einer bestimmten Musik als Zeichen der Zugehörigkeit oder der Abgrenzung zu sozialen Gruppen.

Musikalische Sozialisation im engeren Sinne betrifft die Gewöhnung an bestimmte musikalische Muster und das Sich-Vertraut-Machen mit immer komplexer werdenden Mustern.

Diese von einem bestimmten Menschen gelernten Muster formen bei jedem Hören bekannter und auch noch nicht bekannten Musik die Erwartung, was als nächstes kommt; dieser Prozess hat großen Einfluss auf den Lustgewinn beim Musikhören (mehr siehe unten), insbesondere beim Ersthören.

Angesprochen wurden auch Eigenbeobachtung und kritische Selbstreflektion, z. B. die Bereitschaft, sich mit Ungewohntem auseinanderzusetzen, der Einfluss der Tagesform auf die Musikwahrnehmung („es gibt Tage, da will die Anlage einfach nicht richtig klingen“) und auch Präferenzen, sowohl musikbezogene als auch klangbezogene.

Fragezeichen aufgeworfen hat das Thema Aufmerksamkeitssteuerung, u. a. im Zusammenhang mit Musik als Stimulus, der zur Erinnerung an bestimmte Erlebnisse oder Emotionen führt.

Auf den von mir vermuteten Zusammenhang zwischen dem Spiel mit den Erwartungen und deren Erfüllung und wie sich die dadurch hervorgerufenen Gefühle neurologisch nachvollziehen lassen, bin ich oben schon einmal eingegangen.

Diese Gedanken würde ich nun gerne noch weiter verfolgen:

Robert Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt (S. 386): „Wenn herausragende Kompositionen starke, weitreichende Erwartungen hervorrufen, dann geht ihre Erfüllung mit einem intensiven Lustgefühl einher. [...] Die tiefsten Befriedigungen der Musik stammen jedoch aus der Abweichung vom Erwarteten: Dissonanzen, Synkopen, Brüche in der melodischen Kontur, plötzlichen Anheben oder Absenken der Lautstärke [...].“

Jourdain schreibt auch (S. 325): "Geübte Hörer nehmen große musikalische Objekte wahr: Akkordfortschreibungen, rhythmische Kniffe oder Stilkonventionen sind alle so tief verwurzelt, dass nur ein kleiner Wink genügt, um Antizipationen in Gang zu bringen."

Meine Frage: Wenn (1) die musikalische Sozialisation eines Hörers sein mentales Repertoire an Mustern bestimmt, und wenn (2) "Mustererkennung" und "schlussfolgerndes Denken" zwei zentrale Kriterien hoher Intelligenz sind (siehe Andrea Brackmann: Jenseits der Norm - hoch begabt und hoch sensibel), müssten dann nicht überdurchschnittlich intelligente Hörer (also z. B. ab einem IQ von 115) ganz besonderen Genuss finden an komplexen Musikkompositionen und differenzierten Klängen?

Oder, ganz verwegen behauptet: Ist eine musikalische Präferenz für komplexe / anspruchsvolle / überraschungsreiche ... Kompositionen möglicherweise ein Hinweis (nicht Beleg!) auf eine überdurchschnittliche Intelligenz des Hörers, weil die Hochgeschwindigkeits-Verdrahtung im Hirn bei diesem Leistungslevel eine besonders hohe Dopaminausschüttung provoziert? Kurz: Schneller Hippocampus - komplexes Stück - super Lust?
pelmazo
Hat sich gelöscht
#602 erstellt: 02. Jul 2012, 17:45

Jenny4 schrieb:
Meine Frage: Wenn (1) die musikalische Sozialisation eines Hörers sein mentales Repertoire an Mustern bestimmt, und wenn (2) "Mustererkennung" und "schlussfolgerndes Denken" zwei zentrale Kriterien hoher Intelligenz sind (siehe Andrea Brackmann: Jenseits der Norm - hoch begabt und hoch sensibel), müssten dann nicht überdurchschnittlich intelligente Hörer (also z. B. ab einem IQ von 115) ganz besonderen Genuss finden an komplexen Musikkompositionen und differenzierten Klängen?


Anschlußfrage: Wieviele Logikfehler stecken in dieser Argumentation?
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