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Ist atonale oder serielle Musik unverstehbar? -- Artikel in Gehirn & Geist+A -A |
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Autor |
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Mellus
Stammgast |
#1 erstellt: 23. Nov 2007, 19:53 | |||||||
Im Thread Amerset, Ernest: Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein gibt es eine ausgesprochen kenntnisreiche Diskussion eben dieses Machwerkes. Dazu kann ich nichts sagen, ich kenne das Buch gar nicht (und erspare es mir nach der Lektüre des Threads auch lieber). Allerdings scheint Herr Ansermet mit seiner Abneigung der Musik Schönbergs (ich nenne ihn hier mal stellvertretend) durchaus auf Zustimmung zu stoßen. Im oben genannten Thread findet sich beispielsweise folgende Beobachtung:
Der Grund für die Schönberg-Musik-Abneigung war jedoch bei Ansermet offenbar ein ganz spezieller, der nichts von der "üblichen" Antipathie gegen Atonalität und Serialität zu tun hat:
Warum, kann im Ansermet-Thread nachgelesen werden. Wie dem auch sei: Die Probleme der Hörer mit atonaler oder serieller Musik sind sogar schon Gegenstand der Wissenschaft geworden. Ein Artikel in der Zeitschrift Gehirn & Geist gibt einen kleinen Abriss dazu. Da ich das Thema spannend finde -- auch als Betroffener -- möchte ich hier die Kernaussagen des Artikels vorstellen. Vielleicht mag das jemandem Anregung bieten, eigene Erfahrungen zu berichten, weitere Forschungen vorzustellen oder gegenteilige Argumente vorzubringen. Hier erst mal die Literaturangabe: Philippe Lalitte & Emmanuel Bigand: Lieben Sie Boulez? Gehirn & Geist 1-2, 2007, S. 52--57 Über die Jahrhunderte, in denen es nun schon Musik gibt, wurde Tonalität und Harmonik (Dissonanz, Konsonanz) geradezu in unseren Köpfen eingegraben. Das Problem, das sich nun mit vieler moderner Klassik stellt, wird mit folgenden hübschen Bild verdeutlicht:
Die atonale und 12-Ton-Musik von Schönberg genau wie die seriellen Kompositionen des G&G-Titelhelden Boulez klingen in den meisten Ohren chaotisch, schräg, ohne Struktur und Sinn. Das lässt sich auch in Umfragen bestätigen. Dass solche Kompositionen nicht wirklich so sind wie sie klingen, wird spätestens beim Studium der Partituren deutlich. Das nützt dem Musikhörer natürlich herzlich wenig: sein Gehirn ist überlastet, es hat keine tonalen und melodischen Anhaltspunkte, um die gehörte Musik zu strukturieren und Sinneinheiten auszumachen. Das schöne an Melodien ist ja, das sie als Ganzheiten wahrgenommen werden und als solche im Kurzeitgedächtnis behalten werden können. Solche Ganzheiten gibt es in seriellen Kompositionen erst mal nicht, das Kurzzeitgedächtnis ist "voll", bevor es eine 12-Ton-Reihe und deren Krebs verarbeiten kann -- was ja eine sinnfällige Strukturierung wäre. Ist diese Musik also für immer der Unverdaubarkeit ausgeliefert? Kann man sie nie hören, bestenfalls nur in der Partitur lesen? Einige empirische Studien geben Anlass zur Hoffnung, dass dem nicht so sein muss. Die Lösung heißt einfach: Übung! Musikern wurden längere Zeit eine Reihe 12-Töner vorgelegt. Im Anschluss hatten sie eine Erfolgsquote von 60%--85% im Erkennen der 12-Ton-Reihe und ihrer Variationen -- also deutlich überzufällig. OK, Musiker können das, aber was ist mit Laien? Neues Experiment: Nicht-Musiker durchlaufen eine 12-Ton-Testphase, um sich in diese Musik einzuhören. Danach gibt es einen neuen Satz 12-Töner, den sie analysieren müssen. Auch Laien können mit 60%iger Trefferquote Variationen einer 12-Ton-Reihe "erraten". Ja, tatsächlich erraten. Obwohl das Ergebnis nicht zufällig zustande gekommen sein kann, hatten die Testpersonen das Gefühl, nichts zu verstehen, sondern einfach zu raten. Psychologen ist dieses Phänomen bekannt: es heißt implizites Lernen. Das Gehirn, dieses Mustererkennungsmonster, hat sich schon nach recht kurzer Zeit einigermaßen in den 12-Ton-Kompositionen zurecht gefunden -- ohne es seinen Besitzer wissen zu lassen. (Es folgen nun noch ein paar Berichte zu weiteren Experimenten. Das spare ich mir und Euch jetzt mal.) Offenbar kann folgende Schlussfolgerung gezogen werden: wenn man nur fleißig Schönberg, Webern, Berg, Boulez und wie sie alle heißen hört, dann wird man sie irgendwann auch "verstehen" und womöglich genießen können -- so wie jetzt Werke von Haydn, Beethoven, Schostakowitsch, etc. Aber will man das überhaupt? Schließlich muss man sich vorher intensiv Musik anhören, die man gar nicht mag. Vielleicht kann Motivation aus der interessanten Schlussüberlegung des Artikels gezogen werden: Es ist gut bekannt, dass Musikhören Auswirkungen auf die neurologische Struktur des Gehirns hat. Anpassung an eine neue Art von Musik wird also auch neurologische Konsequenzen haben. Wir könnten ein anderes Bewusstsein entwickeln. Im Original klingt das weniger albern so:
Das sind doch Aussichten, oder!? Vielleicht können wir eines Tages sogar noch Stockhausen, dem Mann vom Sirius, folgen? Guten Flug, Mellus |
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Joachim49
Inventar |
#2 erstellt: 24. Nov 2007, 15:55 | |||||||
Das kann mich nicht ganz überzeugen. Ich halte es zwar für überzeugend, dass wir Probleme haben Sinneinheiten auszumachen - eventuell auch, dass dies eine Frage der übung ist - aber mit dem Kurzzeitgedächtnis hat das glaube ich nicht so viel zu machen. Das wird schliesslich auch von Beethoven, Bruckner oder Brahms in Anspruch genommen, die ja auch nicht gerade Anhänger der minimal music waren. Wenn wir einen Text lesen haben wir ja auch keine Probleme was wir in dieser Sekunde lesen mit dem verflossenen Teil als eine Einheit zu verstehen - jedenfalls versagt da unser Kurzzeitgedächtnis nicht; auch nicht bei langen Sätzen a la Thomas Mann odet Proust. Es könnte jedoch sein, das das Kurzzeitgedächtnis je nach Inhalt besser oder schlechter funktioniert. Eine lange Zahl zu behalten ist schwierig, einen langen Satz zu behalten ist weniger schwierig. Sollte es mit den Tönen eher wie mit den Zahlen sein? Bei Harnoncourt (in einem Interview) habe ich etwas frappierendes gelesen. Warum wird die Oktave gerade in 12 Halbtöne eingeteilt und nicht in 16. Vom Standpunkt der atonalen Musik wäre das eine doch ebenso logisch wie das andere. Die tonale Musik hat die 12 Halbtöne, da sie das Spiel mit den Tonarten, das Modulieren, das Dur- und Moll zulassen. Aber in der atonalen Musik kann es so etwas ja nicht geben. Warum soll eine Reihe dann aber 12 Halbtöne haben und nicht 16? Da ist glaube ich was dran. Dass eine Oktave 12 Halbtöne hat passt ja in die Logik der Tonalität. Aber in der atonalen Musik ist das unlogisch. mit freundlichen Grüssen Joachim |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#3 erstellt: 24. Nov 2007, 18:17 | |||||||
Konsequenterweise gibts ja auch Musik mit Drittel- und Vierteltönen. In anderen Musikkulturen (Indien, Iran?) teils schon seit Jahrhunderten. Dass die Mustererkennung dem Hirn bei Mustern, die vertrauten Schemata entsprechen leichter fällt, als bei solchen, die das nicht tun, ist keine Erkenntnis, für die es einer neurologischen Untersuchung bedürfte. Harnoncourts Argument halte ich, soweit ich es verstehe, für nicht stichhaltig. Die Ausbildung der Tonskalen erfolgte Jahrhunderte vor der funktionalen Harmonik mit Modulationen usw. im heutigen Sinne. Wie stark die konventionellen Elemente in jedem Stimmsystem sind, sieht man doch an der jahrhundertelangen Geschichte unterschiedlicher Systeme. Im MA galt vorübergehend die Terz als Dissonanz, dagegen hören sich für uns die dort dominierenden Quinten und Quarten fremd und irgendwie "hohl" an. Die freie Atonalität, die 12-Tonmusik und der Serialismus sind ja nicht vom Himmel gefallen oder Reißbrettkonstruktionen von Leuten, die mal alles anders machen wollten, sondern sind mögliche Reaktionen auf die jeweils vorhergehenden Stadien der Musikgeschichte (vereinfacht: die extreme Vieldeutigkeit und damit teilweise Auflösung der funktionalen harmonischen Beziehungen in der Spätromantik). Schließlich halte ich es für sehr fragwürdig, dass man alle die Reihen, Krebse usw. in z.B. Zwölftonmusik beim Hören erkennen soll. Es gibt einen Briefwechsel zwischen Schönberg und Kolisch, in dem letzterer vor der Uraufführung des 3. oder 4. Quartetts einige Fragen stellte, ob er die unterschiedlichen Reihen und ihre Transformationen richtig analysiert habe. Schönberg soll recht verwundert darüber gewesen sein, er hatte es offenbar nichtmal für nötig gehalten, dass die ausführenden Musiker solch eine Analyse vornehmen. Viel weniger kann und soll man es von Zuhörern erwarten. Und welcher Zuhörer erkennt denn die Strukturen und polyphonen Finessen in der Musik der Ars subtilior, der Hochrenaissance, Bachs, des späten Beethoven, Brahms' oder Regers? Ich vermutlich normalerweise nicht, obwohl ich es mit Kommentar und Partitur sogar nachvollziehen könnte. viele Grüße JK jr. |
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Thomas133
Hat sich gelöscht |
#4 erstellt: 26. Nov 2007, 11:37 | |||||||
Das Üben zum Erkennen der 12-Ton-Reihe ist die eine Sache. Aber ich bezweifel ob es dann vom Effekt her jedem Menschen etwas bringt. Für mich klingt das schon ziemlich Kopflastig, eine Musik die eher den Intellekt als die Emotion ansprechen soll. Für mich spielt aber die Emotion in der Musik eine sehr wichtige Rolle, im Idealfall ein gutes Verhältnis zwischen einer etwas komplexen Kompositionsstruktur und einer sofort erfassbaren emotionalen Botschaft wie es für mich zB in der Plyphonie des Barocks vorkommt. Ich denke deswegen das es sicher auch auf die Veranlagung und Charakter eines Menschens ankommt, wie es um den Hormonhaushalt bestellt ist und welche Gehirnhälften dominieren.;o) Ich wäre aber sofort bereit dieses Experiment einzugehn wenn man mir garantieren würde das sich neue emotionale, vielschichtige Welten für mich eröffnen würden. Aber wenn ich immer wieder höre und lese das selbst viele die sich damit regelmäßig beschäftigen die Erklärung des Komponisten dazu brauchen um sich darunter was vorstellen zu können, dann überzeugt mich das nicht. Aber mich würde prinzpiell interessieren was die 12-Ton-Hörer - emotional - fühlen. Das sie das rationale Denkvermögen bei intensiver Beschäftigung fordert oder auch fördert dürfte sowieso unbestritten sein. gruß Thomas |
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Gantz_Graf
Hat sich gelöscht |
#5 erstellt: 26. Nov 2007, 12:14 | |||||||
Schönberg, pah. Da gab es zum Glück einen Sibelius, Fels in der Brandung! Richtig ist aber natürlich auch, es gibt wohl kaum Fortschritt ohne die ganzen Irren da draußen. Ich habe ja auch sowas wie "Gantz Graf" etc. genossen, und das war zu der Zeit auch eher was für Bekloppte (aus Mehrheitssicht). Ich habe es emotional genossen.
Eben. Es muß nach der Phase des Verstehens irgendwann ertragreich sein - Ertrag ist für mich rein emotional.
Würde mich auch interessieren. Interessiert mich bzgl. der ganzen avantgardistischen Kunst. Ich habe bspw. bisher nie verstanden, welchen ehrlichen Ertrag einem ein grüner Farbtupfer auf weißem Grund bringt. Wo soll man da als Suchender fündig geworden sein? Kennt jemand eine gute URL, wo man 12-Töner erklärt bekommt (mit Beispielen?) Ich habe mal in ein Hörbeispiel reingehört, aber darin den Überblick verloren und nichts verstanden. [Beitrag von Gantz_Graf am 26. Nov 2007, 12:22 bearbeitet] |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#6 erstellt: 26. Nov 2007, 12:57 | |||||||
Wie gesagt, der Erfinder der 12-Ton-Methode war offensichtlich überhaupt nicht der Ansicht, dass man seine Musik vorher auf Reihenstrukturen analysieren sollte. Selbstverständlich soll die Musik "emotional" gehört werden (ich behaupte mal, dass das meiste von Schönberg oder Berg im Alltagssinne "emotionaler" ist als Bachs Kunst der Fuge oder Motetten von Dufay...) Wieviele von uns hören Musik ohne Notenlesen zu können, ohne sofort oder überhaupt zu hören, in welchen Takt ein Stück steht, ohne harmonische Verläufe benennen zu können. (Ich kann das auch nur sehr laienhaft und unvollkommen) Muß ich das "Thema Regium" in allen Transformationen erkennen, wissen, welche Fugentechniken angewandt werden, um Bachs Musikalisches Opfer zu hören? Was genau ist die "sofort erfaßbare" emotionale Botschaft des 6stimmigen Ricercare? Oder auch die von Präludium&Fuge Nr.1 aus WTK I? Ich höre die nicht (oder wenn ich eine hören sollte, höre ich diesselbe wie ein anderer Hörer? Ist das wichtig?) Soll man jetzt nur Musik hören dürfen, wenn man das Stück hinterher aufschreiben oder selber vorspielen kann? Das wäre ja wohl absurd, oder? Es ist also überhaupt nichts grundlegend anderes mit neuerer Musik (BTW Musik, die zum größeren Teil über 80 Jahre alt ist wie Schönbergs, kann man kaum Avantgarde nennen ;)), es ist nur manches ein wenig schwieriger. Wenn ich aber jemandem, der sein Lebtag nur Schlagermusik gehört hat, Bachs Musikalisches Opfer, Beethovens Hammerklaviersonate, Debussy La Mer, den ersten Akt von Tristan oder Coltranes A love supreme vorspiele, wird er vermutlich behaupten, dass sei keine Musik, enthalte keine Melodien, zu dissonant, Gekreische, Gequietsche usw. So what. Mit der Zeit würde er sich, Offenheit und Interesse vorausgesetzt, aber reinhören können, warum sollte das bei avancierter Musik des 20. Jhds. anders sein? viele Grüße JK jr. [Beitrag von Kreisler_jun. am 26. Nov 2007, 13:03 bearbeitet] |
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Gantz_Graf
Hat sich gelöscht |
#7 erstellt: 26. Nov 2007, 13:08 | |||||||
Na das ist ja eben die Frage. Es könnte ja sein, dass diese "schwierigere Musik" in einem ähnlichen Grad schwierig ist wie zufälliges Rauschen aus dem All. Deshalb ist auch so interessant, ob es überhaupt einen Menschen auf der Erde gibt, der durch die hier besprochene Musik irgendwie emotional berührt wird. Ich habe neulich Erkki-Sven Tüür mal überflogen (Violinkonzert, Aditus, Exodus) - Ich nahm ein Orchester zur Kenntnis, das wohl gerade beim Stimmen der Instrumente aufgenommen wurde [Beitrag von Gantz_Graf am 26. Nov 2007, 13:11 bearbeitet] |
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Mellus
Stammgast |
#8 erstellt: 26. Nov 2007, 13:46 | |||||||
Begleitend zum Artikel gibt es auf der G&G-Homepage einige Hoerbeispiele von Boulez, etwa auf der Mitte der Seite. Es gibt eine Originalserie, die dann auf verschiedene Weise bearbeitet wird. Leider steht immer dabei, um was für eine Variation er sich handelt. So kann man nicht wirklich einen (Blind-)Test durchführen. Grüße, Mellus |
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Thomas133
Hat sich gelöscht |
#9 erstellt: 26. Nov 2007, 13:58 | |||||||
Nein, das ist für mich kein Kriterium - ich erwarte mir lediglich das sie mich emotional berührt. Eine Musik die nichts mit mir macht die läßt mich dann halt auch kalt. Ich möchte ja auch nur ergründen was genau die 12-Ton-Musik-Liebhaber an dieser und jenen Musik finden. Ich lese immer nur analytische, musiktheoretische Erklärungsversuche. Aber gibt es auch die zB berühmten "Gänsehautstellen" wo man vor Gefühlen überwältigt ist? Ich schließe ja nicht aus - falls es sowas geben sollte - das es eventuell Einarbeitung bedarf, das mir diese Menschen in Etwas voraus sind das ich noch nicht gelernt habe da sie vielleicht einen ganz speziellen "Sinn" - im zweideutigen Sinne - dazu entwickelt haben, der bei anderen Menschen nicht vorhanden ist und erst entwickelt werden muß. So Art eine "Musik-Geheimsprache" die man erst entschlüsseln muß um emotinonal von ihr mitgerissen zu werden. Ich möchte es wirklich nur verstehen. Reine Schwärmerein über Klangfarben und Färbungen oder rein aus intelektuellem Vorwand sind mir persönlich zu wenig, auch wenn sie scheinbar manch Anderem in Begeisterung versetzen können, aber wie schon geschrieben gehe ich da auch von den Veranlagungen eines Menschens aus wie zB der individuellen Prägung der emot.Intelligenz. Ich persönlich habe eher das Gefühl das es für mich nicht lohnenswert wäre, aber man kann mich gerne vom Gegenteil überzeugen. gruß Thomas |
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Mellus
Stammgast |
#10 erstellt: 26. Nov 2007, 18:39 | |||||||
Eine dodekaphonische Komposition, die für gewöhnlich mit großer emotionaler Wirkung in Verbindung gebracht wird, ist das Violinkonzert "Dem Andenken eines Engels" von Alban Berg (hier gibt es auch einen Thread dazu: Berg: Violinkonzert - "Dem Andenken Eines Engels"). Allerdings -- und da kehrt sich die Beispielhaftigkeit des Stückes in diesem Kontext fast wieder ins Gegenteil um -- sind die Ton-Reihen so gewählt, dass sich viele tonale, traditionell-harmonische Zentren ergeben. Die Trennung zwischen Emotion und Kognition, die hier schon einige Male ins Felde geführt wurde, ist wohl auch nicht so trennscharf, beide gehen irgendwie Hand in Hand. An meiner unscharfen Rede darüber merkt Ihr bereits, dass ich kein Fachmann auf diesem Gebiet bin. Ich will es darum mal vereinfacht so sagen: so wie Emotionen einen Zugang zum (analytischen [oder besseres Wort einsetzen]) Verständnis bieten, kann das strukturelle Begreifen Anlass sein, etwas zu mögen. Kann man etwas wirklich verstehen und dann davon kalt gelassen werden oder gar abgestoßen sein? Ich weiß es nicht zu sagen, tendiere aber zu "nein". (Wohl kann man etwas verstehen und dann aus anderen, rationalen Gründen ablehnen). Und im Zweifel sind "kalt lassen" oder "abgestoßen sein" ja auch Emotionen! |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#11 erstellt: 26. Nov 2007, 20:42 | |||||||
Ich bin gewiß kein Experte für 12-Tonmusik. Aber ich höre auch andere Musik nicht nur im Hinblick auf Gänsehautstellen. Wieviele Gänsehautstellen gibt es in der Kunst der Fuge oder in den Rasumovsky-Quartetten? In Petrouchka? Es gibt doch ziemlich viel Musik, von der man zunächst eher auf einer nicht so unmittelbar emotionalen Ebene fasziniert ist (intellektuell finde ich mißverständlich, denn es muß mit Durchblick und Analyse gar nichts zu tun haben) Musik von Berg und Schönberg, die ich emotional beeindruckend finde (wobei vermutlich einiges davon nicht 12-tönig, sondern frei atonal ist), ist z.B. Berg: 3 Orchesterstücke op.6, Lyrische Suite (Str. Qu.) Schönberg: 2. Streichquartett (was allein durch den Sopran im Schlußsatz einen Gänsehauteffekt auslöst), "Erwartung" (ein expressionistischer Horrorschocker , Gänsehaut von vorne bis hinten), Streichtrio Schönberg war doch im Grunde ein Spätestromantiker, was an Werken wie den Gurreliedern oder Verklärte Nacht deutlich wird; als sich dann zeigte, dass es schwierig war, völlig frei atonal zu komponieren, dachte er sich die 12tonmethode aus, um wieder etwas mehr Struktur hereinzubringen (das ist jetzt platt formuliert, aber das war es wohl). Aber wie die Verwunderung gegenüber Kolischs Analyse (und dass der Primarius des uraufführenden Quartetts ein Stück vorher analysiert, ist ja nicht so weit hergeholt) zeigt wohl, dass der Hörer die Reihen ebensowenig erkennen soll, wie jemand, der einen Dom bewundert, notwendigerweise etwas von Baustatik verstehen muß. viele Grüße JK jr. |
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Thomas133
Hat sich gelöscht |
#12 erstellt: 27. Nov 2007, 09:04 | |||||||
Da die tonale Musik ja ein extrem weites Feld ist wird man zwangsläufig noch und nöcher Beispiele finden können die für den einen oder anderen subjektiv nie Gänsehautstellen auslösen würden. Das diese aber für die allermeisten Klassikhörer je nach Geschmack irgendwo zwischen den Epochen verstreut zu finden sind, sollte auch ohne Zweifel sein. Es ging mir aber darum ob sowas - prinzpipiell - unter der 12-Ton-Musik überhaupt gefunden werden kann. Aus Euren Argumenten geht aber hervor das diese dann eher frei tonal oder mit teilweise tonalen Strukturen versehen ist. Wenn man zB "Erwartung" einen "Horrorschocker" nennt dann kann ich diese Gefühle sicher noch am ehesten nachvollziehen, weil ich denke das man triste Stimmungen mit der 12-Ton-Musik sicherlich sehr gut ausdrücken kann und soweit würden meine Empfindungen mitgehn. Aber ich könnte bei dieser Anordnung der Musik nie Gefühle wie zB Liebessehnsucht, hoffnungsvolle Freude, Melancholie usw. heraushören. Mir ist klar das jetzt Verfechter hier und da etwas hineininterpretieren könnten, aber da geht es mir wie Gantz Graf schon schrieb wie mit dem Bild mit Punkt wo jeder meint er würde darin die größten Philosphien erkennen. Ich erkenne dann nur den Punkt - aber ich respektiere es natürlich wenn Andere hier einen anderen Zugang wie ich finden der sie subjektiv sehr anspricht.
Das kommt drauf an wie man "kalt gelassen" definiert und in welcher Hinsicht man versteht. Versteht man einen komplexen Vorgang irgendeiner Struktur ist es sicher ein positiver Zugewinn aber erstmal auf rein rationaler Ebene. Wenn man aber von der emotionalen Botschaft nicht in irgendeiner Weise berührt oder zum. angesprochen wird kann man zwar doch - soweit das einem genügt - eine Faszination an dem rein theoretischen Verständnis haben oder man wird als Gefühlsmensch unbefriedigend aus der Auseinandersetzung mit dieser Musik gehn. Das meinte ich auch mit den verschiedenen Veranlagungen eines Menschens und ist ja auch gut so das wir unterschiedliche Prägungen und Vorlieben haben. gruß Thomas |
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Martin2
Inventar |
#13 erstellt: 27. Nov 2007, 13:49 | |||||||
Ich weiß nicht, ob atonale oder serielle Musik unverstehbar ist. Ehrlich gesagt interessiert mich das auch nicht wirklich. Es gibt eine Menge sehr schöner Musik. Warum soll mich atonale Musik interessieren? Ich habe schlicht keine Zeit dafür. Ich kenne von Berg die Wozzeck und Lulusuiten, diese gefallen mir. Möglich, daß mir von moderner Musik noch mehr gefiele, wenn ich bei mir die Neigung verspüren würde, mehr kennen zu lernen. Diese Neigung verspüre ich bei mir momentan aber überhaupt nicht. Ich will Zwölftonmusik nicht abbügeln. Ich kann nur sagen, mich haben diese musikalischen Konzepte nie überzeugt. Und das werden sie wohl auch in Zukunft nicht. |
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G-Kiselev
Hat sich gelöscht |
#14 erstellt: 01. Dez 2007, 17:00 | |||||||
Wenn man Schach spielt, dann berührt es einen auch nicht umbedingt emotional. Interessant ist es trotzdem. Es gibt immer andere Kriterien, z.B. motorische Vorgänge. Auch reine Kombinatorik (und die hört man oft ganz deutlich) ist zumindest unterhaltsam. Für mich besteht überhaupt kein Zweifel, dass es bei zwölftöniger Musik nicht darum geht Reihen herauszuhören. Sonst wäre sie bewusst dementsprechend komponiert worden. Eine Reihe sollte auch keinesfalls mit einem Thema oder Motiv gleichgesetzt werden. Sie ist dann schon eher wie eine Kadenz, oder eine Ostinato-Bass. Wer nicht weiss wie man die Musik hören soll, der kann es auch mal andersrum probieren. Eine Reihe erstellen und schauen, was sich damit anfangen lässt, so habe ich es auch gemacht. Man muss freilich Noten lesen können. Gruß, G. |
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Mellus
Stammgast |
#15 erstellt: 02. Dez 2007, 23:05 | |||||||
Hallo G-Kiselev, mal selbst mit Reihen herumspielen ist eine coole Idee! Ich habe sie selbst bisher noch nicht gehabt. Aber es stimmt schon: wenn man nur Musik hört und selbst keine macht, dann entgeht einem eine ganze Zugangsdimension zur Welt der Klänge. Ich wollte aber noch was anderes loswerden, zur Dichotomie zwischen emotionaler und intellektueller Musik. Mein Beispiel ist Anton Webern. Gestern hatte ich eine Webern-Stunde (oder auch zwei). Das ist freitonale Musik im Frühwerk und 12-Ton-Musik in späteren Stücken. Viele Stücke haben auch irrsinnig clever ausgedachte Kombinatorik. Das habe ich, zugegeben, nachgelesen, nicht gehört. Das ist aber auch egal, weil Weberns Musik ausgesprochen emotional ist. Nicht in dem Sinne, dass er die Gefühlskeule herausholt und uns Freud' und Leid buchstäblich um die Ohren haut. Vielmehr hat Webern eine zutiefst sensible, zarte Musik geschrieben. Äußerst komprimiert, geschliffen, wie ein Diamant. (Ausnahme ist ein Streicherstück, dessen Namen und Op.-Zahl mit gerade nicht einfällt -- bei Bedarf liefere ich das nach.) Wenn man Analogien mit der Sprache, einem Bereich, der uns allen wahrscheinlich besser zugänglich ist, ziehen möchte, dann landet man bei Sätze, die eine Idee auf kürzest mögliche Weise ausdrücken. Sätze, die wie ein Fingerschnipp sind. Brilliante Verdichtungen. Aphorismen beispielsweise. Und das ist zum Seufzen emotional, innerlich, schön. Diese Musik mit diesem Ausdruck ist, so meine ich, überhaupt nicht möglich im Rahmen der Funktionsharmonik. Man braucht viel zu lange um von A nach B zu kommen. Auch Aphorismen wirken ja unter anderem dadurch, dass sie Syntax oder Semantik der Sprache sinnfällig verkürzen. In den Händen der richtigen Komponisten kann atonale oder dodekaphonische Musik eine klangliche Zauberwelt werden. Darin unterscheidet sie sich nicht von "herkömmlicher" Kompositionsweise. Und wenn es überhaupt eine Rechtfertigung für das Nicht-auf-eine-Tonart-bezogene-Komponieren geben muss: Weberns Musik ist sie! Ein immer noch hingerissener Mellus [Beitrag von Mellus am 02. Dez 2007, 23:10 bearbeitet] |
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G-Kiselev
Hat sich gelöscht |
#16 erstellt: 03. Dez 2007, 14:52 | |||||||
Hallo
Weberns Emotionalität ist, finde ich, einfach nicht dramatisch Aufgebaut, man nimmt eben keinen Verlauf wahr, wohl aber eine Grundstimmung. Im Gegensatz dazu steht die Emotionalität der Funktionsharmonik, bei Bruckner z.B. hochdramatisch. Aber es gibt natürlich ausnahmen, etwa Bachs Choralvorspiele. Gruß, G |
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Mellus
Stammgast |
#17 erstellt: 03. Dez 2007, 15:34 | |||||||
Hallo G-Kiselev, ich denke, dass ich Deine Einschätzung durchaus teilen kann, wenn sie nicht besagen soll, dass Bruckners Musik prinzipiell besser oder "richtiger" ist als die Weberns. Ich möchte nochmal einen Vergleich mit sprachlichen Erzeugnissen ziehen, weil ich das besser verstehen kann: Bruckner ist ein großer Roman, Webern dagegen kurze Lyrik. Während der Roman einen dramatischen Aufbau hat, meinetwegen auch eine Geschichte erzählt, öffnet Lyrik kleine poetische Türen. Ich sehe die Unterschiede zwischen beiden literatischen Formen mit ihren jeweiligen Vorzügen, gestehe beiden aber ihre Daseinsberechtigung zu. Ich weiß nicht, wie gut der Literaturvergleich letzlich ist, und ich hoffe, Du kannst ihn wohlwollend lesen, weißt/ahnst was gemeint ist. (Ich vermag Musik nur bildhaft und metaphorisch zu beschreiben, da mir kein Fachvokabular und keine Profi-Ohren zur Verfügung stehen.) Findet er dann auch Deine Zustimmung? Oder wolltest Du auf etwas anderes hinaus? Viele Grüße, Mellus [Beitrag von Mellus am 03. Dez 2007, 15:58 bearbeitet] |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#18 erstellt: 03. Dez 2007, 16:24 | |||||||
Ich finde Bruckner jetzt keinen besonders dramatischen Komponisten, aber das ist egal. Sicher lassen sich gewisse Wirkungen leichter mit Funktionsharmonik erzielen. Aber zum einen ist das ja kein absolutes Kriterium, sonst müßte man fast alle Musik des Mittelalters und der Renaissance, die uns meistens eher "meditativ", "ätherisch", jedenfalls nicht dramatisch vorkommt, abwerten. Monteverdis und Schütz' Musik kann allerdings schon äußerst dramatisch sein, obwohl noch keine Funktionsharmonik im Sinne des 18. u. 19. Jhds. verwendet wird. "Erwartung" und "Wozzeck" werden vermutlich von den meisten unbefangenen Hörern als "dramatischer" wahrgenommen als "Die Fledermaus", unabhängig von der Harmonik (Zu Webern kann ich nichts sagen, dessen Musik kenne ich zu schlecht) viele Grüße JK jr. |
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G-Kiselev
Hat sich gelöscht |
#19 erstellt: 03. Dez 2007, 21:48 | |||||||
Ich wollte natürlich auf keinen Fall Webern und Bruckner bewerten. Als Beispiel für Dramatik habe ich bewusst nichts aus dem Bereich Oper oder Musiktheater genommen. Der Begriff Dramatik bezog sich auf den Aufbau der Komposition und ich finde hier ist Bruckner durchaus dramatisch im Sinne von (nicht negativ gemeint) Theatralik. Gruß, G |
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G-Kiselev
Hat sich gelöscht |
#20 erstellt: 04. Dez 2007, 15:26 | |||||||
Ich wollte noch unbedingt anmerken, dass diese Musik nicht auf Funktionsharmonik aufgebaut ist, sondern auf Skalen. Das ist ein großer unterschied, denn hier ist die konstruktive, d.h. strukturelle Kraft der Harmonie (Dominante->Tonika = Schluss u.s.w) nicht so allumfassend. Diese Musik lässt sich auch schlecht Funktionsharmonisch analysieren. |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#21 erstellt: 04. Dez 2007, 17:06 | |||||||
Das war gerade mein Punkt! Man muß gar nicht in die Moderne gehen. Es reicht völlig, die Abendländische Musik von 1200 bis 1600 (teils sogar noch deutlich länger) zu betrachten, um festzustellen, dass die Funktionsharmonik kein göttliches oder natürliches "Gesetz" ist. So ähnliche Dinge, natürlich etwas raffinierter, werden aber von Ansermet &Co behauptet und teils anscheinend auch von den Hirnforschern impliziert.. viele Grüße JK jr. |
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Mellus
Stammgast |
#22 erstellt: 04. Dez 2007, 21:38 | |||||||
Mmh, den G&G-Artikel, der ganz oben kurz vorgestellt wird, verstehe ich so, dass er doch gerade zeigt, dass Musik, die nicht mit Funktionsharmonik arbeitet, bzw. nicht auf eine Tonart bezogen ist, genauso kulturell bedingt ist, wie funktionsharmonische. Dein Schluss scheint das Gegenteil auszudrücken. Hirnforscher finden doch gerade Anpassungsphänomene an "andere" Musik! Die könnte es ja nicht geben, wenn Harmonik gottgegeben wäre oder ausschließlich Natur sei. Es ist viel Gewohnheit und Gewöhnung im Spiel -- also Erlerntes, nicht (genetisch) Erworbenes. Für an Funktionsharmonik gewöhnten Ohren ist die Musik von 1200 bis 1600, die Du angeführt hast, sicher genauso unverständliche wie 12-Tonmusik. Oder habe ich Dich falsch verstanden und schiebe Dir Fehlaussagen unter? Dann bitte beschweren! Beste Grüße, Mellus [Beitrag von Mellus am 04. Dez 2007, 21:38 bearbeitet] |
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G-Kiselev
Hat sich gelöscht |
#23 erstellt: 05. Dez 2007, 13:48 | |||||||
Naja, die Musik ist natürlich trotzdem größtenteils konsonant. Das dürfte sie auch für Ungeübte Hörer wenigstens akzeptabel machen. Gruß, G |
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Martin2
Inventar |
#24 erstellt: 05. Dez 2007, 18:18 | |||||||
Ich verstehe nicht allzuviel von diesen Dingen. Nur wie ich das sehe, hat die Musik der Renaissance wohl durchaus tonale Zentren. Die Modulationsharmonik hat sie auch, arbeitet aber mit der Verlagerung tonaler Zentren, die durch Modulation erreicht wird. Die 12 Tonmusik etc. will aber gar keine tonale Zentren mehr haben. Das ist ja wohl ein gewaltiger Unterschied zur "sehr alten" Musik. Ich weiß auch nicht, inwiefern die Modulationsharmonik "gottgegeben" ist. Sie ist aber ein Zeugnis einer sehr alten, sehr kultivierten Kultur. Dieses Gefühl der Kultiviertheit habe ich bei "moderner" Musik nicht. Deshalb läßt sie mich auch kalt. Ich bezweifle sehr stark, daß 12 Tonmusik und serielle Musik kulturschaffend sind. Es ist eben nicht alles nur "Gewöhnung". Es muß auch Liebe dazu kommen. Ansonsten - ein bißchen Offtopic - habe ich erst gestern wieder in meinem Reklam Konzertführer geblättert. Ich kann nur sagen, daß ich dabei in höchstem Maße verärgert war. Viele moderne Musik wird dort im Deteil besprochen, Elgar mit ein paar Zeilen abgefertigt. Ich persönlich habe da doch sehr stark den Verdacht, daß eine solche Sichtweise in höchstem Maße "zeitgebunden" ist. Daß moderne Musik immer noch in höchstem Maße "ernstgenommen" wird, hat sicher auch mit dem Einfluß solcher weitverbreiteten Publikationen zu tun. Also ich nehme sie nicht ernst. "Konzertführer" sind aber sowieso Schwachsinn, weil in Konzerten sowieso immer nur das abgenudeltste Repertoire gespielt wird. Und vor ein paar Jahrzehnten wurde halt auch immer mal wieder moderne Musik zur Diskussion gestellt. Damit ist es aber längst vorbei und ein Konzertführer wie der Reklamkonzertführer ist in dieser Hinsicht auch nur als "bizarr" aufzufassen. |
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Mellus
Stammgast |
#25 erstellt: 05. Dez 2007, 23:22 | |||||||
Ich verstehe von all den Dingen auch nicht viel, insofern möchte ich mich Martins Eingangsbehauptung anschließen. Ich finde aber, dass Du, Martin, in den beiden Absätzen, die ich von Dir zitiert habe, zwei verschiedene Dinge zum Ausdruck bringst. Das ist nicht schlimm, da Du (mal wieder) einen spannenden Aspekt in die Diskussion einbringst. Ich will versuchen, dass zu erklären. Im ersten Absatz wird Musik als "Zeugnis" einer Kultur dargestellt. Im zweiten jedoch als "kulturschaffend". Die Relation zwischen Musik und (gesellschaftlicher, politischer, geistiger, moralischer, <insert your preferred word> ) Kultur ist nicht nur gerichtet, die Richtung ist in den beiden Absätzen entgegensetzt! Im ersten wird Musik als Ausdruck einer Kultur beschrieben, im zweiten als Stifter von Kultur. Das sind offenbar zwei verschiedene Rollen von Musik. Ich weiß nicht wie Euch das geht oder ob ihr Euch verorten mögt, aber ich bin Anhänger der ersten Auffassung, nämlich dass Musik Ausdruck von Kultur (als gesellschaftlich-geistige Haltung) ist (und sie nicht schafft). Unter diesem Blickwinkel kann Musik nicht losgelöst von ihrem zeitlich-kulturellen Kontext betrachtet werden (dessen Ausdruck sie ja ist). Der Zeitgeist in der Renaissance war sehr wahrscheinlich durch ein hierarchisches, klar gegliedertes und auf diese Weise "harmonisches" religiöses wie säkulares Weltbild gekennzeichnet. Die ausbalancierte Affektenlehre der Klassik war nicht weniger harmonisch. Entsprechend klingt die Musik, welche die jeweilige Kultur zum Ausdruck bringt. Im 20. Jahrhundert jedoch ist Schluss mit Harmonie. Nicht nur Faschismus und Sozialismus treiben ihre perversen Blüten, auch Industrialisierung und Globalisierung verlangen entschieden ihren Preis. Kurz: die Welt ist aus den Fugen geraten. Und ebenso muss die Musik geschaffen sein, die Audruck dieser Kultur sein will. Und welche Musik erfüllt diese Zeugnis-Funktion besser als Musik, die auch keine harmonische Ordnung hat? Zeugnis-Musik, lebendige, engagierte Musik, Musik die Kultur und Weltanschauungen ausdrückt, Musik, die Stellung bezieht, die deswegen letzlich menschliche Musik ist, lässt sich einfach nicht mehr durch überkommene Komponiertraditionen, die aus einer anderen Kultur (im oben angedeuteten Sinne) stammen, umsetzen. Man muss diese Musik nicht mögen, ebensowenig wie die Zeit und Kultur deren Ausdruck sie ist; man kann ja seiner Zeit und Kultur nicht entfliehen -- auch mit harmonischer Musik nicht! Besonders neu ist der Kulturbezug von Musik sicher nicht. Warum ist dann aber nicht-harmonische Musik so schwer zu hören? Sie ist ja nicht besonders intellektuell-theoretisch, im Gegenteil: sie ist Musik, die völlig lebensnah verankert ist. Weiß auch nicht recht, Mellus [Beitrag von Mellus am 06. Dez 2007, 22:37 bearbeitet] |
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Mellus
Stammgast |
#26 erstellt: 03. Jan 2008, 23:24 | |||||||
Hallo zusammen, ich möchte noch ein paar vermischte Dinge loswerden. Aber davor möchte ich mich den ersten Beiträgern dieses Threads, Michael, Thomas, Gantz_Graf, reflection, im Großen und Ganzen anschließen, dass es bei 12-Ton-Musik wohl nicht darauf ankommt, Reihen bewusst zu erkennen. Gute Gründe wurden von den Genannten ja bereits vorgebracht. Zum "Vermischten": was mir am meisten im Magen liegt, ist die scheinbare größere "Natürlichkeit" von "traditioneller" harmonischer Musik. Sollte das tatsächlich so sein, hätte sie meines Erachtens einen grundsätzlicheren Status als nicht-auf-eine-Grunstonart-bezogene Musik. -- Harmonik ist, zumindest zu einem großen Teil, Physik, genauer: Akustik. Nämlich das Zueinanderpassen von Obertönen. Der fehlende Rest wird vom Hörer, also seinem audio-visellen Cortex (Hesselsche Querwindungen), beigesteuert. Also Natur. Allerdings baut das harmonische Konzept wie wir es kennen, auf der Schwingung einer Luftsäule (Stimme) oder einer Saite auf. Das ist eine kulturelle Konvention; Grundlage könnten ja auch andere schwingende Körper sein wie beispielsweise Metallplatten, wie in indischer Gamelanmusik. Zwar wird es auch dort das Oktaven-Intervall geben, wir, an Saitenschwingungen gewöhnt, werden es aber wohl kaum als solches wahrnehmen. Das ist Kultur. Sogar auf dieser basalen Ebene steht es also unentschieden zwischen Kultur und Natur. -- Da die abendländische Harmonik auf der Schwingung einer Saite oder Luftsäule beruht, ist sie von äußerst geringem Nutzen, wenn Tonerzeuger eingesetzt werden, die sich nicht auf diese Weise verhalten. Man denke zum Beispiel an Sinustöne aus Elektroakustischer Kunst (die haben gar keine Obertöne), Schlagzeug oder exotische Instrumente. Um solche Instrumente systematisch-kompositorisch in den Griff zu bekommen, muss ein allgemeineres System her als es die Funktionsharmonik bietet. Serielle Techniken stellen so ein System zu Verfügung. -- Eine Beobachtung aus dem eigenen Alltag. Bei Freunden: Das kleine Kind entdeckte das Klavier. Lustvoll hämmerte es auf den Tasten herum und scherte sich keinen Deut um harmonischen Wohlklang. Die pure Lust der Klangerzeugung ist stärker. -- Sicherlich klingen harmonische Intervalle anders als disharmonische. Aber warum ist das allein ein Grund dafür, wie ersteren zu verwenden, die letzteren zu verdammen? Und das vor allem, da sich anscheinend weder Kinder (s.o.), noch Hörer mit viel Hörerfahrung darum kümmern. Dass Hörergewohnheiten das Hörempfinden beeinflussen bedarf wohl keiner Rechtfertigung oder keines Nachweises mehr. Und genau solche Gewöhnungseffekte, abzüglich des Eingangskommentares bezüglich des Nicht-Erkennen-Müssens von Reihen, zeigen wohl auch die Experimente, die im G&G-Artikel angeführt werden. Viele Grüße, Mellus |
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Mellus
Stammgast |
#27 erstellt: 04. Jan 2008, 15:04 | |||||||
Ein Nachtrag: das mit den Metallplatten und der Gamelanmusik habe ich aus folgendem Buch: Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Schattauer, 2005. Diese Angabe habe ich im letzten Posting vergessen. Nicht, dass der falsche Eindruck ensteht, ich wüsste so etwas... Viele Grüße, Mellus |
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Martin2
Inventar |
#28 erstellt: 09. Jan 2008, 12:55 | |||||||
Hallo Mellus, ich glaube um die "Verdammung" der Disharmonie ging es noch nie. Also spätestens seit dem Barock gibt es doch auch die Disharmonie. Nur wurde sie immer in einer besonderen Weise eingesetzt. Disharmonie bedeutet Spannung, Harmonie Entspannung. In dieser Weise wurden Disharmonien über Jahrhunderte eingesetzt. Spannung "löst sich". Damit ist es dann irgendwann vorbei. Darum geht die Diskussion. Dies wird als "Emanzipation der Disharmonie" begriffen. Komischerweise müßte in einem solchen Kontext doch eigentlich auch von einer "Emanzipation der Harmonie" die rede sein oder etwa nicht ?? Denn auch die Harmonie spielt ja auch eine Rolle im alten Kontext, etwa als "Entspannung der Disharmonie". Die "Unverständlichkeit moderner Musik" hat sicher nicht mit Disharmonien als solcher zu tun, als daß Disharmonien als solche einfach nichts mehr bedeuten. Sie bedeuten nichts mehr und können dann dementsprechend auch nicht mehr gedeutet werden. Gruß Martin |
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G-Kiselev
Hat sich gelöscht |
#29 erstellt: 09. Jan 2008, 17:14 | |||||||
1. Der Begriff "Emanzipation der Konsonanz" ist in der neuen Musik schon aufgetaucht. In Verbindung mit der postmodernen, also der postseriellen Musik. (aus der seriellen Musik war die Konsonanz verbannt). 2. Ich erinnere an den Umgang mit der Dissonanz in der alten Musik. Z.B. der Polyphonie Palestrinas, wo sie so gut wie nie vorkommt. Das heißt nicht, dass die Konsonanz nichts bedeutet und nicht zu deuten ist! Auch in der Atonalität gibt es druchaus eine "Harmonielehre", harmonische fortschreitung, z.B. durch die strukturelle Kraft der Chromatik. 3. Die Verwendung Begriffe "Harmonie" und "Disharmonie" finde ich ausgesprochen misverständlich. Gruß, G. |
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