Ansermet, Ernest: Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein

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AladdinWunderlampe
Stammgast
#1 erstellt: 24. Okt 2007, 01:46

Martin2 schrieb:
Ich habe mir auch noch mal vorgenommen, das dicke Buch von Ansermet zu lesen, das aber, wie ich schon gemerkt habe, äußerst schwierig ist. Macht doch nichts oder?


Hallo Martin,

das macht wirklich nichts. Denn auch bei allem Respekt vor dem großen Dirigenten Ernest Ansermet: Ich würde der Lektüre der Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein an Deiner Stelle keine besonders hohe Dringlichkeit beimessen, denn dieses sehr weitschweifige Buch, das zugegebenermaßen einen verheißungsvollen Titel trägt, ist in Hinblick auf das Verstehen von Musik meines Erachtens nicht sonderlich hilfreich:

Die ziemlich eigentümliche, für Ansermets Argumentation aber grundlegende These, die Einheit des musikalischen Bewußtseins könne nur auf der Verknüpfung unserer logarithmisch strukturierten Hörwahrnehmung mit dem pythagoräischen Tonsystem basieren, ist schon in den 1960er Jahren gründlich widerlegt worden - prägnant beispielsweise bei Carl Dahlhaus ("Ansermets Polemik gegen Schönberg", in: Neue Zeitschrift für Musik 127/5 (1966), S. 179-183). Dahlhaus hat sehr deutlich herausgearbeitet, dass der phänomenologische Gestus, mit dem Ansermet historische oder psychologische Einwände gegen seine Argumentation von vornherein entkräften will, wesentlich auf uneingestandenen dogmatischen Voraussetzungen beruht, die mit dem aus der Husserlschen Phänomenologie erborgten transzedentalphilosophischen Anspruch der Untersuchung kaum zu vereinbaren sind.

Und selbst aus rein historischem Interesse ist die Lektüre von 800 Seiten altbackener und tausendfach widerlegter Argumente gegen Schönberg, Strawinsky und Boulez, deren Musik man im Jahr 2007 wohl wirklich nicht mehr verteidigen muss, nicht sonderlich aufschlussreich. Anders nämlich als etwa die musikästhetischen Schriften von Richard Wagner, Eduard Hanslick oder Theodor W. Adorno, die auch in vielen Punkten fragwürdig oder anfechtbar sind, haben Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein - jedenfalls so weit ich sehe - seit ihrem Erscheinen im Jahr 1961 keine tieferen Spuren in der Kompositionsgeschichte hinterlassen.

Ich würde daher der engstirnig-schlechtgelaunten Privat-Ontologie eines großen Dirigenten, der allerdings kein wirklich großer Denker war, andere musikalische Bücher vorziehen - und mir stattdessen Ernest Ansermets Einspielungen anhören.



Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 24. Okt 2007, 02:30 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#2 erstellt: 26. Okt 2007, 14:56
Hallo Aladdin

Was hat Ansermet denn gegen den Strawinski? Gut, Strawinski ist in sehr hohem Alter zur 12 Tonschule konvertiert ( als sozusagen niemand mehr damit rechnete), aber ansonsten ist Strawinski doch ein tonaler Komponist.


Schönberg, Strawinsky und Boulez, deren Musik man im Jahr 2007 wohl wirklich nicht mehr verteidigen muss


Die Liebhaber der tonalen Musik, zu denen ich mich zähle, können mit Schönberg und vermutlich auch Boulez ( den ich allerdings nicht kenne) nicht wirklich etwas anfangen.

Die meisten Klassikliebhaber, die ich kenne, können mit moderner Musik nichts anfangen. Aus meinem Freundes und Bekanntenkreis kenne ich drei Menschen, die sich wirklich sehr intensiv mit klassischer Musik auseinandersetzen, aber um moderne Musik einen weiten Bogen machen. Dann kenne ich noch vier weitere Leute, die klassische Musik weniger intensiv hören, aber auch moderne Musik nicht mögen. Dann habe ich einen Bekannten, der mag moderne Musik, hält aber alles andere für "Romantik", hört nur moderne Musik und ähnliches gilt für einen anderen Bekannten, der sich aber weitgehend mit den Elaboraten der Hamburger Musikhochschule auseinandersetzt. Vier weitere Leute, kenne ich flüchtig, sie sind mir allerdings auch bisher immer nur als Liebhaber klassischer Musik, nicht moderner Musik auffällig geworden.

Zusammmengefaßt: Von neun Leuten hören 7 klassische Musik ( wahrscheinlich sogar 11 oder auch viel mehr, denn Du begegnest ja vielen Menschen in deinem Leben), aber keine moderne Musik, 2 moderne Musik aber keine vormoderne Musik.

Das ist natürlich keine statistische Untersuchung, es sind nur Erfahrungswerte. Deshalb habe ich auch ein Problem mit dem Begriff "moderne klassische Musik" für Avantgardemusik, da der Begriff aus meinen Erfahrungen soziologisch nicht stimmt. Die Klassikliebhaber sind eine Gruppe für sich, die Liebhaber moderner Avantgardemusik sind eine Gruppe für sich. So meine ganz persönlichen Erfahrungen. Es mag Überschneidungen geben, das bestreite ich nicht.

Ich glaube moderne Musik muß deshalb nicht "verteidigt" werden, weil sie heute allgemein toleriert wird, denn wir sind eine sehr tolerante Gesellschaft. Kulturelle Grabenkämpfe finden nicht mehr statt und das ist vielleicht auch ganz gut so. Aber die meisten Leute halten moderne klassische Musik eben für "Hurz".

Den Ansermet finde ich trotzdem interessant und ich werde da irgendwann noch mal gründlicher reinschauen, da er meiner Sicht der Dinge vermutlich entgegenkommt. Nur leider ist dieses Buch wirklich sehr lang.

Gruß Martin
Joachim49
Inventar
#3 erstellt: 27. Okt 2007, 13:19

Martin2 schrieb:


Was hat Ansermet denn gegen den Strawinski?


Hallo Martin, Alladin & andere Leser,

die Passage bei Alladin, man müsse Schönberg, Strawinsky und Boulez heute nicht mehr verteidigen, erweckt in der Tat das Missverständnis Ansermet sei ein Gegner der Musik Strawinskys gewesen. Da Boulez in Ansermets Wälzer wahrscheinlich überhaupt nicht vorkommt (aus chronologischen Gründen) ist die Passage bei Alladin wahrscheinlich nicht spezifisch - im Hionblick auf Ansermet - gemeint, sondern drückt nur sein Erstaunen aus, das Schönber & Co noch immer geringgeschätzt wzerden.
Die Beziehung Ansermet-Strawinsky war in der Tat sehr eng. Es gibt eine umfangreiche Korrespondenz zwischen beiden und Ansermet war viele Jahre der Dirigent, der die 'Balletes Russes'von Dhiaghilev durch Europa begleitete für die Strawinsky ja auch schrieb. Natürlich gibt es auch viele Aufnahmen Strawinskys mit Ansermet als Dirigent (etwa alle Balletmusiken bei Decca). Allerdings stimmt es, dass Ansermet Strawinskys Ausflüge in die atonale Musik nicht schätzte und dass er nie Schönberg spielte, allerdings auch nicht den spätromantischen tonalen Schönberg, wie etwa die Gurrelieder und noch anderes. Vielleicht haben da auch andere Motive mitgespielt. In dem Buch von Frans C. Lemaire 'Le Destin Juif et la Musique' werden sehr deutliche antisemitische Vorwürfe gegen Ansermet erhoben. Man muss Schönberg nicht mögen, aber wenn man schreibt, jüdische Komponisten hätten keinen erwähnenswerten Einfluss auf die Musikgeschichte gehabt, dann ist das entweder antisemitisch oder unverschämt. Ansermet wiederholt zigfach in seinem Buch die Hetze Wagners, Juden seien zu kreativen künstlerischen Leistungen nicht fähig. Mahler, bemängelt Ansermet, habe keinen persönlichen Stil, sondern mache nur eine Collage aus unpersönlichen Motiven, wie Vogelgesang, Fanfaren oder Volksliedern. Natürlich haben viele Mahler unterschätzt und das muss man Ansermet nicht zum Vorwurf machen. Aber dass er sich des Wagner-Göbbelschen Clichés bedient (der Jude taugt nicht zur echten Kunst) ist mehr als bedenklich. Ansermet, beklagt Lemaire, nahm die Einladungen in Nazi-Deutschland aufzutreten an, auch noch 1943, obwohl es ihm als Schweizer Staatsbürger leicht möglich gewesen wäre solche Besuche zu vermeiden.
Der atonale Schönberg gehört nun auch nicht gerade zu meinen Lieblingskomponisten, - aber nie käme ich auf die Idee ihm eine bedeutende Rolle in der Musikgeschichte abzusprechen.
Freundliche Grüsse
Joachim
Martin2
Inventar
#4 erstellt: 27. Okt 2007, 14:22
Hallo Joachim,

was Du über den Antisemitismus von Ansermet schreibst, ist allerdings wirklich sehr bedenklich. Das macht ihn in meinen Augen wirklich sehr unsympathisch. Andererseits weiß ich nun wieder, daß er mit Maurice Abravanel, dem jüdischen Dirigenten, lange Jahre eng befreundet gewesen sein soll. Aber da wäre er sicher nicht der einzige, der seinen persönlichen "Lieblingsjuden" hatte, aber ansonsten ein finsterer Antisemit war. Natürlich gibt es immer auch Abstufungen des Antisemitismus, aber dieser ganze Antisemitismus ist doch eine übel riechende Kloake und jemand, der sich einem solchen Verdacht aussetzt, ist eigentlich schon von vorneherein disqualifiziert. Na ja, ich werde mal in dieses Buch herein schauen ( aber vermutlich nicht alles lesen).

Gruß Martin
AladdinWunderlampe
Stammgast
#5 erstellt: 29. Okt 2007, 23:51
Hallo,


Joachim49 schrieb:

Martin2 schrieb:


Was hat Ansermet denn gegen den Strawinski?


die Passage bei Alladin, man müsse Schönberg, Strawinsky und Boulez heute nicht mehr verteidigen, erweckt in der Tat das Missverständnis Ansermet sei ein Gegner der Musik Strawinskys gewesen. Da Boulez in Ansermets Wälzer wahrscheinlich überhaupt nicht vorkommt (aus chronologischen Gründen) ist die Passage bei Alladin wahrscheinlich nicht spezifisch - im Hionblick auf Ansermet - gemeint, sondern drückt nur sein Erstaunen aus, das Schönber & Co noch immer geringgeschätzt wzerden.


In der Tat kritisiert Ansermet in Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, nicht nur die Musik Schönbergs, sondern auch explizit diejenige von Strawinsky und Boulez.

Dass Ansermet Schönbergs atonales Komponieren nicht schätzte, bedarf hier angesichts seines Versuches, durch die krude Verquickung der logarithmischen Struktur menschlicher Wahrnehmung mit einer eigenwilligen Interpretation des pythagoräischen Tonsystems als unabänderliche Grundbedingung der Musik gleichsam phänomenologisch zu fundieren, sicherlich keiner weiteren Ausführungen. Daher nur ein kurzes Zitat, dass die für Ansermet charakteristische Vermischung scheinbar objektiver Beweisführungen mit geradezu weltanschaulich eifernden moralischen Argumenten und religiösem Furor belegen mag:

"Ganz anders geartet wird das Ergebnis meiner kritischen Einstellung zu Schönbergs Musik sein, weil unsere Untersuchung uns darzutun gestattet, daß die Lehre, aus der diese Musik hervorgeht, die Grundvoraussetzungen der musikalischen Sprache und ihres Sinnes im Keim erstickt. Irren ist verzeihlich und sogar das Beharren auf einem Irrtum mag in bestimmten Fällen entschuldbar sein. Nicht anders denn feindselig kann man aber einem Irrtum begegnen, der sich anmaßt, zur Norm erhoben zu werden, und erst recht, wenn er, tatsächlich zur Norm erhoben, von einer blinden Kritik anerkannt und für eine ganze Generation junger Musiker gutgeheißen wird, die buchstäblich nicht wissen, was sie tun. Denn die Musik auf einem Irrtum aufbauen kann nur zu einer falschen Musik führen, die falsche Musik kann nur Un-Sinn hervorbringen, und ich hasse Un-Sinn, der bisher aus der Musik kraft ihrer Grundvoraussetzungen ausgeschlossen war und den nun Schönberg in sie hineingetragen hat. Der Un-Sinn erscheint mir sogar als das einzig Hassenswerte auf der Welt, und ich sehe in ihm eine Quelle des Bösen." [Ernest Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, München: Piper 1965, S. 523]

Dass hier ausgerechnet Schönberg, der vor den Nazi-Schergen ins amerikanische Exil fliehen musste, um sich dort bis an sein Lebensende eher schlecht als recht durchzuschlagen, im Gestus wiedertäuferischer Rhetorik zum fleischgewordenen Diabolus in Musica und Verderber der unschuldigen Jugend erhoben wird, macht diesen Passus - gelinde ausgedrückt - nicht sonderlich sympathisch.

Strawinsky stand Ansermet in der Tat künstlerisch und menschlich sehr viel näher, doch war auch er nicht vor grundsätzlicher Kritik gefeiht - und zwar nicht erst, seitdem er dodekaphone und serielle Verfahren in sein Komponieren einbezog: So wird nicht nur Strawinskys geistliche Musik aufgrund ihres Mangels an "Selbstausdruck" insgesamt als "religiöse Konfektion" diffamiert, sondern der Vorwurf der "Unechtheit des Ausdrucksakts" trifft auch Werke wie die Symphonie in drei Sätzen [Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, a. a. O., S. 488-491]. Die Messe wird unter anderem wegen des Schlussklanges des Gloria geahndet, bei dem sich in den A-Dur-Akkord (in wahrlich beispielloser harmonischer Kühnheit) "die Quinte g-d einschiebt, was zu einer für das Ohr nicht erfaßbaren Anhäufung führt und buchstäblich eine Kakophonie bildet." [Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, a. a. O., S. 493] Aufgrund der Langatmigkeit des Buches ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele anführen, die allerdings - abgesehen von einigen eher persönlichen, auf den Charakter Strawinsys abzielenden Invektiven - eigentlich nur belegen, wie eng der Bereich dessen ist, was zufolge Ansermets vermeintlichen "Grundlagen der Musik" kompositorisch überhaupt noch erlaubt ist.

Im Falle von Boulez, Stockhausen und Nono beschränkt Ansermet sich schließlich nur noch auf reine (im Falle von Boulez wohl auch durch persönliche Antipathien geprägte) Polemik, ohne auch nur eine Komposition der betreffenden Künstler direkt zu nennen - und das, obwohl Meisterwerke wie Stockhausens Kreuzspiel und Gruppen für 3 Orchester, Nonos Canto sospeso und Boulez' 2. Klaviersonate und Le Marteau sans maître im Jahre 1961, als die französische Ausgabe des Buches erschien (die vier Jahre später erschienene deutsche Fassung ist eine "vom Autor überarbeitete und autorisierte" Übersetzung) bereits vorlagen. Auf das letztgenannte Werk dürfte immerhin die Bemerkung anspielen: "Wenn Boulez einen Text von René Char in Musik setzt, wundert man sich nicht, weil das Gedicht von von Char ebenso abstrus ist wie die Musik von Boulez". [Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, a. a. O., S. 576]

Was nun das Ansermetsche Judenbild betrifft, so hat Joachim49 bereits hinlänglich auf die Wiederbelebung des (nicht nur) Wagnerschen Topos des unkreativen, lediglich zur unschöpferischen Nachahmung befähigten Juden hingewiesen. Das führt unter anderem zu folgender, gegenüber den genannten Komponisten unangenehm gönnerhaften Geschichtskonstruktion:

"Was wir soeben dargelegt haben, hilft uns zu begreifen, daß das geschichtliche Werden der abendländischen Musik ohne die Juden möglich gewesen wäre, obgleich sie tatsächlich daran mitgewirkt haben. Aber man denke einmal Salomon Rossi (1587-1628), Meyerbeer, Mendelssohn, Offenbach, Mahler weg - um nur die angesehensten Musiker jüdischer Herkunft zu nennen -, und man wird finden, daß sich nichts Entscheidendes geändert hätte, da nach diesen Männern (von denen drei offensichtlich Genie besaßen) nichts da war, was nicht auch ohne sie hätte geschaffen werden können. Alle haben sich den Stil ihrer Umwelt zu eigen gemacht, alle haben in ihren Schöpfungen einen persönlichen Stil hervorgebracht - Mendelssohn, der im protestantischen Geist erzogen war, hat alle Charakteristika eines echt deutschen Musikers -, doch kann man von keinem von ihnen sagen, er hätte einen Wendepunkt in der Musikgeschichte herbeigeführt oder wäre im Bereich des Stils oder der Form schöpferisch gewesen." [Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, a. a. O., S. 411]

Dazu tritt - durch ein paar wohlfeile Komplimente kaum verbrämt - das ebenfalls bei Wagner vorgeprägte Stereotyp vorgeblich geschwätziger Rhetorik sowie das der Erlösungsbedürftigkeit des "ewigen" Juden - am ausführlichsten in der Einschätzung Gustav Mahlers:

"Mahler drückt sich einerseits durch Rückgriff auf volkstümliche Melodien, Vogelstimmen, Fanfaren und orchestrale Entladungen aus - also durch 'Fakten'! -, andererseits durch die Breite seiner symphonischen Formen; und weil er in Wahrheit über keinen persönlichen Stil verfügt, sondern lediglich über eine persönliche Manier, eine im allgemeinen unpersönliche melodische Ausdrucksweise zu organisieren (was sehr wohl einer persönlichen Art des Empfindens entspricht, manifestiert er seine Persönlichkeit durch die Breite der Form, d. h. er weicht in die Beredsamkeit aus. Durch die Breite der Form findet somit sein innerer 'Dämon' Ausdruck, wie Jean Matter sagt, aber auch sein verzweifelter Appell an den Menschen, seine Sehnsucht nach Glück, dem Frieden der Fluren und der Nacht, nach dem Paradies der Unschuld - lauter Dinge, 'die er nicht ist', die er aber in der Transzendenz erschaut. [...] Diese Musik ist keine jüdische Musik, sie ist Musik von Mahler; aber sie drückt in gängiger Sprache eine Art, Jude zu sein, aus." [Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, a. a. O., S. 412-413]

Ich muss gestehen: Egal wo ich Ansermets Buch aufschlage, stoße ich auf Dummheiten, Floskeln und weitschweifige Welterklärungstheorien höchst zweifelhaften Wertes. Und das hat nichts mit Geschmacksfragen zu tun. Niemandem kann das Recht streitig gemacht werden, die Musik Schönbergs, Strawinskys oder Boulez' nicht zu mögen. Aber achthundert Seiten darauf zu verschwenden, dieses Geschmacksurteil als notwendige Folge schlecht begründeter vorgeblicher "Grundlagen der Musik" zu legitimieren und dabei ganz nebenbei noch die Ressentiments einer düsteren Tradition des Ungeists aufzuwärmen, ist für mich wahrlich keine Lektüre-Empfehlung.


Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 30. Okt 2007, 01:37 bearbeitet]
AladdinWunderlampe
Stammgast
#6 erstellt: 30. Okt 2007, 21:12
Hallo Martin,

auch auf die Gefahr hin, dass auch dieser Thread wegen allzu großer Abschweifungen zerlegt wird, möchte ich kurz noch zu einer Deiner Aussagen Stellung beziehen:


Martin2 schrieb:


Die Liebhaber der tonalen Musik, zu denen ich mich zähle, können mit Schönberg und vermutlich auch Boulez ( den ich allerdings nicht kenne) nicht wirklich etwas anfangen.


Ich zähle mich entschieden zur Gruppe der "Liebhaber der tonalen Musik" und habe auch zahlreiche Freunde und Bekannte, die zu diesem nichts weniger als exklusiven Kreis gehören. Doch trotz dieser unserer Liebhaberei können wir uns ohne Schwierigkeiten auch für alle möglichen Formen nicht-tonaler Musik begeistern. Für meine Freunde und mich ist es selbstverständlich, die Werke von Guillaume de Machaut und diejenige von Arnold Schönberg, von Franz Schubert und von Iannis Xenakis, von Ludwig van Beethoven und von Karlheinz Stockhausen, von Henry Purcell und von Gérard Grisey zu verehren. (Ja, ich muss Dir sogar gestehen, dass meine Bewunderung der Werke Girolamo Frescobaldis, Johann Sebastian Bachs, Leos Janaceks und György Ligetis mich bislang nicht davon abgehalten hat, auch die Musik von John Coltrane, Rickie Lee Jones oder Björk zu lieben.)

Liebe zur Tonalität macht demnach wohl nicht notwendigerweise blind und taub für die spezifischen Qualitäten von Musik, die anders organisiert ist.

Übrigens empfinde ich die Distanz mancher Werke Max Regers und Gustav Mahlers zu denjenigen Arnold Schönbergs und Alban Bergs als weitaus geringer als diejenige der Musik Claudio Monteverdis zu der von Richard Strauss - und das, obwohl die beiden letztgenannten Komponisten zweifellos in das Reich der "Liebhaber der Tonalität" gehören. Wenn aber der Schritt von der Tonalität - die in Wahrheit ein Inbegriff zahlreicher und höchst unterschiedlicher musikalischer Organisationsweisen ist - zur sogenannten Atonalität so klein ist, halte ich Aufregung, die manche, zum Beispiel Ernest Ansermet (womit die Zerschlagung dieses Threads wohl vorerst noch einmal glücklich abgewendet wäre), wegen dieses vermeintlichen Grenzüberschritts veranstalten, gelinde gesagt für ein wenig übertrieben.

Nichtsdestoweniger hat natürlich - wie bereits mehrfach gesagt - jeder das gute Recht, die Werke Schönbergs oder Boulez' nicht zu mögen. (Genauso ist es übrigens mein Menschenrecht, beispielsweise mit den meisten Kompositionen von Telemann, Rossini, Sibelius, Neuwirth oder Adams bislang nicht sonderlich viel anfangen zu können.) Jede Musik, die nicht tonal gebunden ist, für bloßes "Hurz", für dilettanische oder gar hochstaplerische Veralberung eines autoritätsgläubigen Publikums zu halten, ist allerdings eine banausische Unterstellung. Dass nämlich Komponisten wie Schönberg, Strawinsky, Ligeti, Stockhausen, Nono, Berio, Boulez, Ferneyhough, Lachenmann oder Grisey über ein immenses handwerkliches Können, über größte Meisterschaft in der Gestaltung von formalem Zusammenhang, Gestaltenreichtum, Farbigkeit der Instrumentation u. s. w. verfügen, lässt sich - ganz unabhängig davon, ob einem die betreffende Musik nun gefällt oder nicht - anhand der von ihnen vorgelegten Partituren unschwer überprüfen.

Übrigens war Ernest Ansermet ein zu guter Musiker, um Schönberg die kompositorische Meisterschaft abzusprechen.
Statt zu behaupten, es handele sich bei seinen Werken um musikalischen Schwindel, musste er daher die Tonalität zu einer Notwendigkeit des "menschlichen Bewusstseins" aufblähen. Sein Argument ist ideologisch, nicht banausisch: Aus seiner Sicht nutzte Schönberg all seine fraglose Meisterschaft nichts, weil er gegen ein unumstößliches Grundgesetz der Musik verstieß.

Dass freilich Ansermets musikalisches Grundgesetz einer kritischen Prüfung nicht standhält, ist oft genug dargestellt worden. Und mit diesem Grundgesetz fällt seine gesamte Argumentation.


Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 31. Okt 2007, 02:04 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#7 erstellt: 30. Okt 2007, 21:13
Hallo Aladdin,

ich weiß gar nicht wie ich es sagen soll. Du bist so ein intelligenter Bursche, tierisch bewandert, möglicherweise sogar ein moderner Komponist oder so ein hohes Tier.

Ja was soll ich dazu sagen? Ich habe mir jetzt mal den ersten Teil des Ansermetschen Buches geschenkt und mich auf den zweiten gestürzt. Willst Du meine offene Meinung hören? Ich denke, Ansermet hat recht, wenn er die Reihentechnik angreift. Ich habe Schönberg und die Folgen immer als ein Zeichen kultureller Degeneration aufgefaßt und von dieser Meinung kann mich auch keiner abbringen. Amsermet haut in diese Kerbe und das gefällt mir. Trotzdem schon auch möglich, daß er an einigen Punkten übertreibt, ich muß mir dieses Buch noch mal näher ansehen.

Solche Dispute können übel enden, mit Beleidigungen und ich weiß nicht was. Ich hoffe, es kommt nicht dazu. Es geht - ich betone es - wirklich nur darum, seine offene Meinung zu sagen. Und meine offene Meinung ist nun mal eben diese offen geäußerte.

Gruß Martin
Joachim49
Inventar
#8 erstellt: 31. Okt 2007, 01:38

Martin2 schrieb:
Ich denke, Ansermet hat recht, wenn er die Reihentechnik angreift. Ich habe Schönberg und die Folgen immer als ein Zeichen kultureller Degeneration aufgefaßt und von dieser Meinung kann mich auch keiner abbringen. Amsermet haut in diese Kerbe und das gefällt mir.

Solche Dispute können übel enden, mit Beleidigungen und ich weiß nicht was. Ich hoffe, es kommt nicht dazu. Es geht - ich betone es - wirklich nur darum, seine offene Meinung zu sagen. Und meine offene Meinung ist nun mal eben diese offen geäußerte.

Gruß Martin


Hallo Martin, Aladdin & Mitleser,
natürlich kann man etwas gegen die Reihentechnik haben, aber deshalb müssen die Gründe die Ansermet hat dagegen zu sein nicht überzeugen. Es stört mich nicht, wenn jemand 'gegen' Schönberg ist, aber der Ausdruck 'kulturelle Degeneration' gefällt mir überhaupt nicht. Wir sollten vielleicht zwischen zwei Sachen unterscheiden, der atonalen Musik und der Zwölftonmusik (Dodekaphonie oder Reihentechnik (?)). Der Schritt in die Atonalität lag wohl in der Luft, nachdem die Spätromantiker (aber auch andere, z.B. Reger? Debussy?) die tonale Musik bis an die Grenze vorangetrieben haben. Dass jemand dann den n,ächsten Schritt tut, warum sollte dies 'Degeneration' sein? (Ob's einem gefällt, ist natürlich eine andere Sache). Es gibt ja von Schönber durchaus auch tonale Kompositionen, auch nicht gerade leicht verdaulich, aber zweifellos ein Zeichen grossen Könnens (Gurrelieder oder - wenn ich mich nicht täusche die Erste Kammersymphonie u.a.). Dann gibt es die freie Atonalität zu der sehr expressionistische Werke gehören, wie etwa 'Pierrot Lunaire' oder 'Erwartung'. Manches hat da schon seinen Reiz. Und dann gibt's die Zwölftonmusik, die halt die atonale Musik irgenswie bändigen will, da die freie Atonalität eine Art 'anything goes' bedeutete (Korrekturen von Aladdin sind willkommen, wenn da was nicht stimmt, in dem was ich geschrieben habe). Obwohl kein Schönbergfreund habe ich vor einiger Zeit mich doch hin und wieder der Hörerfahrung ausgesetzt, weil das ja die einzige Möglichkeit ist überhaupt hier 'Fortschritte' zu machen. Das Problem ist natürlich, dass das negative Vorurteil es fast unmöglich macht sich solchen Erfahrungen auszusetzen (womit ich nicht sagen will, dass ich frei von negativen Vorurteilen bin. Neben der überwindung eventueller negativer Vorurteile, stellt sich noch das Problem, dass man wahrscheinlich gerade diese Musik öfter hören muss als einem vielleicht lieb ist um Fortschritte zu erzielen. Jedenfalls glaube ich, dass Schönberg ein viel zu ernsthafter Komponist und auch ein viel zu guter Musikkenner war um von kultureller Degeneration zu sprechen. Kulturelle Degeneration erleben wir, wenn uns die deutschen Fernsehprogramme ARD und ZDF mit ihrer unerträglichen Volksmusikscheisse übergiessen (die ja gar keine Volksmusik ist). Schönberg mit so etwas auf eine Stufe zu stellen, das geht nun wirklich nicht.

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich - ohne Schönbergfreund zu sein - zögere so negativ zu urteilen. Und der Grund heisst Alban Berg. Ich habe den Wozzeck mit Mitropoulos gehört und mit Abbado (auf DVD) gesehen. Da geschieht doch manches was mich anspricht. Und schon die Tatsache, dass sich Leute wie Abbado aber auch Karl Böhm für Berg eingesetzt haben ist ein Grund im negativen Urteil vorsichtig zu sein. Vielleicht wäre es zu empfehlen sich den 'neuen' Wienern nicht via Schönberg sondern via Berg zu nähern, oder - why not - via Webern, dessen Stücke nicht so strapaziös lang sind. 'Lulu' ist natürlich auch ein harter Brocken, aber auch hier kann man sich ein bisschen gewöhnen - und irgendwann sogar manches ein bisschen lieben. Bergs Klaviersonate (ich glaube sein opus 1) ist vielleicht auch eine Brücke.

Nochmal zu Ansermet (mit Dank an Aladdin für die Zitate, die gut verdeutlichen, was das Buch so 'anti-semitisch' macht.)Ansermet wäre auch ohne seine Vorurteile (ob 'rassischer' oder 'musiktheoretischer' Art ein harter Brocken, weil die Husserl'sche Phänomenologie ein harter Brocken ist und nur den geduldigsten Lesern zugänglich. Ich hatte vor vielen Jahren Ansermets Wälzer auch mal in den Händen und war ein durchaus geübter Leser in philosophischen Angelegenheiten, aber weit bin ich nicht gekommen.

Ich glaube nicht, dass die Tatsache dass du (Martin) und Ansermet Anti-Schönberg seid auf derselben Grundlage beruht.
Zum Schluss nochmal das wichtigste: volles Verständnis dafür dass jemand mit Schönberg Probleme hat (hab ich auch) aber 'Kulturell degeneriert'war der Mann - trotz mancher charakterieller Mängel - nun gewiss weit weniger als die meisten seiner Kritiker. (Zum Glück hast Du (Martin) nicht das scheussliche Kölner Kardinalswort gebraucht, das du in einem anderen thread angesprochen hast).
Freundliche Grüsse
Joachim
(Ich wär mir auch gar nicht so sicher, dasz Dich keiner von Deiner Meinung abbringen kann; es gibt schon Leute die einem helfen können einen Schritt in eine Richtung zu tun, in die man nie glaubte gehen zu können. Ich hätte auch nie gedacht, dass aus mir mal ein Wagnerfreund werden würde).
AladdinWunderlampe
Stammgast
#9 erstellt: 31. Okt 2007, 01:45
Hallo Martin,

wenn ich Dich in meinen Stellungnahmen zu Ernest Ansermet gekränkt haben sollte, so war dies nicht meine Absicht. Für alle Formulierungen, die Du eventuell als Beleidigungen aufgefasst haben könntest, möchte ich Dich daher herzlich um Entschuldigung bitten.

Dies ist mir um so wichtiger, als ich der festen Überzeugung bin, dass dieses Klassik-Forum nicht der Ort für persönliche Fehden und Streitereien, sondern vielmehr für den sachlichen Austausch zwischen Musik-Interessierten ist. Ganz wie Du bin ich der Auffassung, dass es hier darum gehen sollte, im offenen Dialog seine Meinung zu äußern - ohne irgendwelche Standes- oder Bildungsdünkel.

(In diesem Zusammenhang sei zu Deiner Beruhigung festgehalten, dass ich entgegen Deinen Mutmaßungen weder ein moderner Komponist noch irgendein "hohes Tier" bin - das Letztere würde sich Dir allein schon durch einen Blick auf mein Bankkonto als unwahrscheinlich erweisen. Und selbst wenn es anders wäre, so hielte ich es für irrelvant. Was innerhalb der Diskussionen dieses Forums einzig zählen sollte, ist die Überzeugungskraft der besseren Argumente.)

Das meine ich allerdings ernst: So sehr ich jederzeit das Recht jedes Einzelnen verteidige, seine Meinung zu äußern, so sehr bestimmt sich der Wert einer solchen Meinung in meinen Augen nach der Triftigkeit der Argumente, die diese Meinung untermauern. Und deswegen beharre ich darauf, falsche, unzureichende oder schlechte Argumente auch als falsche, unzureichende oder schlechte Argumente bezeichnen zu dürfen, sofern ich dafür zureichende Gründe anführe. (Ich hoffe, Du fasst es nicht als Beleidigung auf, wenn ich in diesem Zusammenhang anmerke, dass ich eine Formulierung wie "...und von dieser Meinung kann mich auch keiner abbringen" im Kontext einer Diskussion merkwürdig finde. Wenn man nämlich in einem sachlichen Diskurs von vornherein die Möglichkeit ausschließt, eventuell durch Argumente des Dialogpartners zu einer partiellen Revision der eigenen Position zu gelangen, braucht man diesen Diskurs eigentlich gar nicht zu führen.)

In diesem Sinne hatte ich auch gehofft, meinen Standpunkt zu Ansermet deutlich ausgesprochen und begründet zu haben, ohne gegenüber irgend jemanden - am wenigsten gegenüber Dir - verletzend zu werden. (Eigentlich war ich sogar der Meinung, selbst an Ansermet nur inhaltliche Kritik geübt zu haben, ohne dabei seine Person oder künstlerische Integrität in Frage zu stellen.) Leider ist mir dies anscheinend nicht gelungen.

Darum möchte ich ausdrücklich betonen, dass ich gar keinen Anlass sehe, gerade Dir irgendeine Beleidigung an den Kopf zu werfen. Ich bin Dir im Gegenteil dankbar für den Einsatz, mit dem Du das in den letzten Monaten teilweise recht ruhige Forum durch immer neue Threads und Diskussionsbeiträge am Leben gehalten hast. Naturgemäß bin ich nicht immer Deiner Meinung und naturgemäß interessieren mich auch nicht alle von Dir angestoßenen Themen. Das hindert mich aber nicht daran, diese Threads aufmerksam zu verfolgen, auch wenn ich mich nicht aktiv an ihnen beteilige. Und schließlich hast Du mit einem Nebensatz auch diese - für mich sehr interessante und lehrreiche - Diskussion über Ansermet angezettelt...

Übrigens schreibe ich grundsätzlich viel lieber über die Dinge, die ich mag, als über diejenigen, die ich nicht mag. Lieber versuche ich also beispielsweise, jemanden von der Musik zu überzeugen, die mich begeistert, als jemanden von der Musik abzubringen, die ich nicht schätze. Und dass ich Dir so vehement von Ansermets Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein abrate, dürfte wesentlich mit meinem Eindruck zusammenhängen, dass dieses Buch aufgrund falscher, aber sehr autoritativ vorgetragener Argumentationen Ressentiments bestärkt, die viele Menschen davon abhalten, sich einer Musik zu öffnen, die ich persönlich für absolut hörens- und liebenswert halte.


Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 31. Okt 2007, 01:53 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#10 erstellt: 31. Okt 2007, 10:15
Hallo Aladdin und Joachim,

zunächst mal hast Du Aladdin mich keineswegs gekränkt, wenn Du Ansermet ablehnst. Das ist völlig in Ordnung. Ich wollte nur vorbauen, falls man so ein verfängliches Wort wie "Degeneration" in die Runde wirft, daß die Diskussion zu hitzig wird. Wie ich aber sehe, ist dies keineswegs der Fall.

Ich bemühe mich auch, zur modernen Musik ein differenziertes Verhältnis zu haben. Ich mag - natürlich - Schönbergs "Verklärte Nacht", ich glaube fast jeder, der es hört, mag es. Ich mochte auch die Einleitung der Gurrelieder, leider kann mich das Stück im weiteren Verlauf dann weniger zu fesseln. Peleas und Melisande mochte ich zunächst, später dann weniger. Pierot Lunaire ist interessant. Ein Streichquartett und die fünf Stücke für Orchester sind mir in positiver Erinnerung geblieben. "Im Sommerwind" von Webern, ein eher spätromantisches Stück, ist mir in positiver Erinnerung geblieben ohne nun an "Verklärte Nacht" heranzureichen. "Entflieht auf leichten Kähnen", ein schon moderneres Stück, mochte ich auch. Ansonsten habe ich das Gesamtwerk von Webern mal in meiner Jugend gehört, hatte es mir auch auf Cassetten aufgenommen, aber letzlich vermochte es mich nicht zu fesseln. Bergs Suiten aus Wozzeck ( noch keine Reihentechnik, aber recht atonal) und Lulu mag ich durchaus.

Wiegesagt: Es geht um Differenzierung. Ich bin nicht allem modernen abhold. Richard Strauss galt ja zu gewissen Zeiten durchaus als moderner Komponist. Ich müßte mich noch mal gründlicher mit Salome ( die nun einige Zeit bei mir liegt ohne daß ich sie gehört hätte) und Elektra ( die ich in der Oper gehört habe) auseinanderzusetzen. Strauss war zu Zeiten sehr modern. Ich habe ein sehr lesenswertes Buch "Kontrapunkte 2 Die Stimme der Komponisten Aufsätze, Reden, Briefe 1907-1958" in dem sich der Strauss der Salome und Elektrazeit durchaus modern geriert. Interessant an diesem Essay von Richard Strauss "Gibt es in der Musik eine Fortschrittspartei" von 1907 ist die Beziehung zum Publikum.

Ein Zitat:
"Die Hauptsache ist der zwingende Kontakt zwischen dem schaffenden Genie und der über den Rahmen jeder möglichen Partei weit herausreichenden fortschrittswilligen Masse."

Von der "fortschrittswilligen Masse" scheint die Schönbergschule nun gar nichts zu halten, mir ist bekannt, daß die Schönbergschule "Privataufführungen" gab, in die dann schon nicht mehr jeder hineinkam. Das ist Esoterik und die ganze Entwicklung, die die moderne Musik genommen hat, hat für mich einen stark esoterischen Touch.

Busonis Essay in demselben Kontrapunktebuch ist auch sehr interessant ( "Von der Einheit und Allheit der Musik", ebenfalls 1907). Busonis Essay ist für mich das Zeichen einer völligen "Fortschrittsbesoffenheit". Alles soll möglich sein, alle Skalen alle Möglichkeiten, Vierteltöne, Dritteltöne. Freiheit für die Kunst, alles ist möglich.

Es ist nun interessant, daß die völlige Fortschrittsbesoffenheit eines Busoni, die im Prinzip auf ein Konzept völliger Freiheit hinauslief, in der Schönbergschule dann wieder in eine "strenge Lehre" umschlägt.

Genau da gerät für mich die Musik auf Abwege. Ich bin überhaupt kein Spielverderber, ich mag persönlich den Avantgardisten Charles Ives sehr gerne. Der Künstler muß mit allem experimentieren dürfen, auch mit der Reihentechnik, wenn sie ihm zusagt, aber mit der Schönbergschule wird die Moderne zur strengen Lehre, zum Dogma ( wobei die Schüler Schönbergs meist noch dogmatischer waren als er selber).

Mir ist jedenfalls die Haltung von Strauss, der zur Salomezeit wohl durchaus nicht als Konservativer galt, in höchstem Maße sympathisch. Ich glaube nämlich, daß die zeitgenössische Musik heute möglicherweise modernere Musik machen als zu Strauss Zeiten, daß aber das Publikum zu den Zeiten von Strauss möglicherweise wirklich eine "fortschrittswillige Masse" war, während heute eine "fortschrittswillige Masse" wirklich nirgendwo in Sicht ist.

Worauf zielt denn ein moderner Komponist von heute? Auf die "fortschrittswillige Masse"? Ach was. Der zielt doch nicht mal auf den Klassikliebhaber. Im Grunde zielt er auf eine Minderheit einer Minderheit. Die Masse hat er längst aufgegeben, den Klassikliebhaber im Grunde auch, aber vielleicht gibt es ja noch eine Minderheit unter den Klassikliebhabern, die das alles noch interessiert.

Ich finde das falsch. Und ich glaube - um auf den Ansermet zurückzukommen, dessen zweiten Teil seines Buches ich doch mal lesen möchte - daß die Kritik eines Ansermet vielleicht weniger heftig ausgefallen wäre, wenn zu Zeiten eines Ansermet nicht der erfolgreiche Versuch gemacht worden wäre, neue Standards in Sachen klassischer Musik zu setzen.

Und welche Komponisten sind denn heute beliebt. Gorecki mit seiner sehr fragwürdigen Sinfonie der Klagegesänge, Tavener, John Adams, Pärt ( den kenne ich allerdings kaum). Alles wie ich glaube im Grunde eher konservative Musik. Selbst gemäßigte Fortschrittler wie Messiaen, Lutoslawski, Karl Amadeus Hartmann oder Dutelleux kommen da möglicherweise unter die Räder. Das Publikum hat von allem Modernen die Nase voll und jubelt den Komponisten zu, die ihm konservativere Musik liefern.

Und da sind in der Vergangenheit einfach Dinge falsch gelaufen. So glaube ich nicht, nach meinem ersten Eindruck von dem Ansermet, daß Ansermet tatsächlich ein "Stockkonservativer" gewesen ist. Immerhin kann er sich für so etwas wie Polytonalität erwärmen. Das ist doch nicht konservativ. Im Parteienstreit geht die Differenzierung völlig verloren. Und der konservative Fortschrittler geht mit seiner Partei unter, wie umgekehrt der progressive Konservative zwar den Leuten gefällt, sich aber in den Augen der Avantgardisten unmöglich macht.

Und die Leute lieben im Grunde alles neues, das ist eine menschliche Grundkonstante. Eine zeitgenössische Musik, die auf das Publikum zielt, würde im Grunde der klassischen Musik als solcher sehr gut tun. Eine "esoterische Avantgarde" hat nicht nur der zeitgenössischen Musik geschadet, sie hat auch der klassischen Musik geschadet, die nun als etwas Altbackenes galt.

Nun, wie auch immer, ich muß den Ansermet erst mal richtig lesen, vielleicht findet dann ja hier eine lebendige Diskussion über dieses Buch statt.

Gruß Martin
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