Nobuyuki Tsuji und der Blindenbonus

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Steffen_Bühler
Inventar
#1 erstellt: 06. Nov 2015, 12:00
Liebes Forum,

mein Abo der Münchner Philharmoniker hatte diesmal unter anderem Beethovens Fünftes auf dem Plan. Der Interpret war Nobuyuki Tsuji, ein Name, den ich bisher nicht kannte. Ich bereite mich selten vor und wusste daher auch bis Konzertbeginn nicht, was mich erwartet.

Wie überrascht war ich daher, als Gergiev einen kleinen, offenbar blinden Menschen langsam zum Flügel führte, wo dieser Platz nahm, mit beiden Händen die Klaviatur ertastete, sich noch einmal zurechtsetzte und das Klavierkonzert dann fehlerfrei abspielte.

Bei behinderten Musikern ist es zumindest bei mir so, dass sofort der Mitleidsreflex zuschlägt. Daher wird die Urteilskraft etwas eingeschränkt. Es kann gut sein, dass ich bei einem anderen Interpreten das perfekte Klavierspiel eher als zu steril und gefühllos empfunden hätte, hier verbietet sich das für mich, ich kann nichts dafür.

Genauso würde es mich bei nichtbehinderten Pianisten extrem nerven, wenn sie, wie Tsuji, beim Tacet andauernd unrhythmisch mit dem Oberkörper vor- und zurückwippen. Das irritiert furchtbar. Nur schaltet sich hier sofort mein Anstand ein und belehrt mich, dass der das darf, er ist ja behindert.

Und die Gedanken kreisen natürlich nicht nur ums Klavierkonzert, sondern hier auch darum, wie er das technisch schafft. "Bei Beethoven gibt es ja nicht so Riesensprünge, aber ob er einen Liszt hinbekommt?" dachte ich. Als ob er's gespürt hätte, gab's die Campanella als Zugabe, wieder ohne Fehler.

Insgesamt ein schöner Abend, aber eigentlich war das Leitmotiv "das blinde Genie" und nicht "Beethoven". Vorher gab's Hartmann und Schostakowitsch, aber die verblassten ohnehin im Nachhinein, was man auch am Applaus merkte.

Geht es Euch auch so? Könnt Ihr den Behindertenbonus auch nicht wegblenden?

Viele Grüße
Steffen


[Beitrag von Steffen_Bühler am 06. Nov 2015, 12:02 bearbeitet]
Pilotcutter
Administrator
#2 erstellt: 06. Nov 2015, 13:50
Servus Steffen

Danke für Deinen interessanten Beitrag. Der Intrerpret Nobuyuki Tsuji sagt mir jetzt nichts, zumal ich auch was Interpreten und Aufführungen angeht nicht ganz up to date bin. Den letzten Newcomer in der Klavierbranche, den ich live erlebt habe, ist David Fray.

Ich würde sagen, den sog. Behinderten- bzw. Blindenbonus für Klavier darfst Du seit Ray Charles und Stevie Wonder gerne vergessen.

Grundsätzlich und rein technisch ist es von auswendig spielen bis zum völligen Blindspiel nicht mehr weit. Ich habe einige Jahre Klavierunterricht genossen, bin aber Lichtjahre entfernt von irgendeinem halbwegs ordentlichen Klavierspiel, gleichwohl kann ich einigermaßen nachvollziehen, dass ein Gutteil der Noten ohnehin (auch bei mir) schon blind gespielt wird. Bei fremden Stücken zB. muss man ohnehin mehr auf die Noten schauen als auf die Klaviatur, d.h. man hat die ca. 4 Oktaven, die man für eine "gewöhnliche" Klavierliteratur braucht auswendig im Griff. Eine große Hilfe sind bei Klavier ja die Halbtönte der schwarzen erhabenen Tasten. In Zeitlupe beschrieben, ist ein Klavierspieler stets in Tastkontakt mit der Klaviatur und orientiert sich bei größeren Sprüngen an den erhabenen Tasten, d.h. wenn man nur für eine 1/16 Note das fünfgestrichene C anschlagen muss, dass sich rechts am Ende des Klaviers befindet, dann schlägt u.U. der Pianist die Taste nicht völlig aus der Luft an sondern gleitet die Klaviatur hoch ohne das Maß zu verlieren.

Die 88+ Tasten eines Klaviers blind zu beherrschen ist rein technisch gesehen nicht die Kunst an sich. Ich habe zB. in der kfm. Schule noch Maschinenschreiben blind gelernt und nach etwas Unterricht beherrscht man die QWERTZ Tastatur blind.

Die Kunst, die ich hier mehr sehe, wäre die nicht-technische Seite, als Blinder Pianist sich Beethovens 5. KK zu nähern oder es überhaupt zu lernen, da er ja die Partitur nicht derart studieren kann wie ein Sehender es tut. Ich weiß nicht, in wie weit es Braille Literatur für klassiche Musik gibt, von daher finden die blinden Interpreten anders - und ich denke durch nur Hören intensiver - Zugang zu der Musik als wir Sehenden.

Hat Nobuyuki Tsuji beim Vortrag des KK denn das Orchester geleitet oder wie lief das vonstatten? Als blinder Solist muss man ja quasi oder logischerweise die leitende Rolle übernehmen, denn sich einem Dirigenten unterordnen geschieht ja allemal durch Sehen.


Es kann gut sein, dass ich bei einem anderen Interpreten das perfekte Klavierspiel eher als zu steril und gefühllos empfunden hätte, hier verbietet sich das für mich, ich kann nichts dafür.


Das brauchst Du nicht. Bei vielen Musikern mit Behinderung, insbesondere der Blindheit, ist das handicap ihre Stärke und ihre Musik, die in Raum und Ohr gelangt, darf wie alle Musik bewertet werden. Blinde Solisten klassischer Aufführungen haben es gewiss etwas schwerer, weil sie Bekanntes spielen und nicht, wie Ray Charles und Stevie Wonder eigene Musik am Klavier. Seine, wie Du sagst, sterile Interpretation wird unabhängig des mangelnden Sinnes seine (derzeitige) Auffassung, geprägt durch Erziehung, Studium und Erkenntnis des Werkes des 5. Beethoven KK's sein und sollte man auch entsprechend beim Namen (steril/gefühllos) nennen. Ich meine zu wissen, dass sämtliche Behinderte Künstler einen sog. Behindertenbonus in Betrachtung ihrer Werke eher als destruktiv empfinden.

Gruß. Olaf


[Beitrag von Pilotcutter am 06. Nov 2015, 14:17 bearbeitet]
Kreisler_jun.
Inventar
#3 erstellt: 06. Nov 2015, 14:04
Bei Organisten (mehrere Manuale und Pedal...) gibt es eine "Blindentradition" bis ins Mittelalter zurück. (Überhaupt sind in vielen Kulturen Sänger/Musiker traditionell blind...)


[Beitrag von Kreisler_jun. am 06. Nov 2015, 14:51 bearbeitet]
Steffen_Bühler
Inventar
#4 erstellt: 06. Nov 2015, 15:30
Hi Olaf,


Pilotcutter (Beitrag #2) schrieb:
gleichwohl kann ich einigermaßen nachvollziehen, dass ein Gutteil der Noten ohnehin (auch bei mir) schon blind gespielt wird.


Ich spiele wohl ungefähr auf demselben Level wie Du Klavier: Unterricht von 10 bis 18 Jahren, zum Schluss Beethovens Pathétique und Rachmaninows cis-moll, jetzt scheitere ich schon an Brahms-Intermezzos...

Und natürlich schaue ich auch kaum auf dieTasten, so wie jetzt gerade kaum aufs Keyboard (ja, auch ich hab asdfjklö gelernt).

Aber der Liszt hat wirklich Sprünge drin, dass alles zu spät ist. Da geht's schon mal locker vom e zum fis zwei Oktaven drüber und wieder zurück in Sechzehnteln, und das bei Allegretto. Hier sind die Noten, wenn Du das Fürchten lernen willst. Da muss der kleine Finger eine halbe Weltreise machen und richtig landen. Danach gleich wieder runter und mit dem Daumen richtig treffen. Sicher, mit Übung bekommt man das auch hin, den Arm entsprechend hin- und herzubewegen. Aber das ganze Stück fehlerfrei vor Publikum? Mit 27 Jahren? Das ist schon fast roboterhaft.


Pilotcutter (Beitrag #2) schrieb:
Ich weiß nicht, in wie weit es Braille Literatur für klassiche Musik gibt, von daher finden die blinden Interpreten anders - und ich denke durch nur Hören intensiver - Zugang zu der Musik als wir Sehenden.


Da hab ich mich mal reingeguglt: es gibt tatsächlich Braillenoten. Die werden mit der einen Hand gelesen, mit der anderen gespielt. Und dann umgekehrt. Und dann beide Hände zusammen. So hat er wohl mal angefangen. Danach durch reines Anhören der beiden getrennten Hände vom Klavierlehrer und Nachspielen. Und jetzt wohl auch durch Vorlesen der Noten. Unglaublich.


Pilotcutter (Beitrag #2) schrieb:
Hat Nobuyuki Tsuji beim Vortrag des KK denn das Orchester geleitet oder wie lief das vonstatten? Als blinder Solist muss man ja quasi oder logischerweise die leitende Rolle übernehmen, denn sich einem Dirigenten unterordnen geschieht ja allemal durch Sehen.


Ein interessanter Aspekt. Nein, Gergiev hat ganz normal dirigiert. Es gibt eigentlich bei diesem Werk auch keine "gefährliche" Stelle, wo zum Beispiel ritardiert und dann plötzlich wieder a tempo gespielt wird, wir sind ja nicht in der Romantik. Aber er scheint auch solche Sachen aufzuführen, wie das dann geht, weiß ich nicht.


Pilotcutter (Beitrag #2) schrieb:
Ich meine zu wissen, dass sämtliche Behinderte Künstler einen sog. Behindertenbonus in Betrachtung ihrer Werke eher als destruktiv empfinden.


Ja, das kenne ich auch von anderen Behinderten, die keinesfalls als solche behandelt werden wollen. Wahrscheinlich kenne ich einfach zuwenige, als dass ich mich ihnen unbefangen nähern kann. So geht es ja vielen, glaube ich. Sonst hätte doch sein Manager ihm bestimmt schon mal gesagt, dass er mit dem nervenden Gezappel aufhören soll.

Viele Grüße
Steffen


[Beitrag von Steffen_Bühler am 06. Nov 2015, 15:38 bearbeitet]
Klassikkonsument
Inventar
#5 erstellt: 08. Nov 2015, 06:56
Auf Youtube gibt es den letzten Satz von Beethovens Sturm-Sonate von ihm gespielt:

'https://www.youtube.com/watch?v=24OPuC09fVc

Er setzt starke Gegensätze in den Klangfarben ein: Mal ein Non-Legato, das mir als Gould-Fan natürlich entgegenkommt, wobei es nicht so krass & trocken ist wie das berühmte das Kanadiers (wäre wohl in diesem Satz auch nicht unbedingt angebracht). Mal spielt er ein Legato, das aber doch nicht verwaschen klingt, sondern sorgfältig gestaffelt (wenn man das so sagen kann). Beim ersten Hören kam es mir aber so vor, als ob er die Klangfarben eher blockhaft einsetzt (ich hatte die Terrassen-Dynamik des Barock als Assoziation). Das muss aber noch kein Einwand sein.

Aber damit will ich nicht behaupten, dass meine Amateur-Kenntnisse reichen würden, sein Spiel irgendwie qualitativ einzuordnen.
Steffen_Bühler
Inventar
#6 erstellt: 09. Nov 2015, 15:37

Klassikkonsument (Beitrag #5) schrieb:
Mal spielt er ein Legato, das aber doch nicht verwaschen klingt, sondern sorgfältig gestaffelt (wenn man das so sagen kann).


Ich hab mir das Video nicht angeschaut, aber mir war auch beim Konzert positiv aufgefallen, dass er das rechte Pedal sehr sparsam einsetzt. Manche Pianisten arbeiten da ja regelrecht mit Bleifuß.

Eventuell erklärt/bestätigt das Deinen Höreindruck.
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