Mozart, W.-A.: Mozart und der Fortschritt

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Thomas133
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#1 erstellt: 28. Jan 2015, 11:28
edit Anm. der Moderation (op111):
Diese Diskussion wurde aus "Was hört Ihr gerade jetzt? (Klassik !!!)" hierhin verschoben.

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Klassikkonsument (Beitrag #14049) schrieb:
Wer allen Ernstes den Fortschritt in der Musik leugnet, ignoriert das, was Beethoven nicht zuletzt geleistet hat.


Den Satz versteh ich jetzt nicht ganz, soll ich mich angesprochen fühlen oder wer leugnet denn einen gewissen Fortschritt? Außerdem kommt das so raus als wäre Beethoven der bessere Mozart - denkst du nicht auch dass man große Komponisten getrennt voneinander betrachten soll da jeder seine eigenen Stärken und Schwächen hat ohne das jetzt in irgendeine Richtung dogmatisch zu sehn? Mozart und Haydn waren sicher auch nicht besser als Bach, Bruckner und Mahler nicht die besseren Sinfoniker als Beethoven nur weil sie der Zeit voraus waren...außerdem halte ich übrigens das Hornquintett nicht gerade als eines der Highlights aus Mozarts Werkschaffen, wäre also ungerecht das jetzt aufgrund dieses Höreindrucks den ganzen Mozart als lediglich nett und ok zu pauschalieren.


[Beitrag von op111 am 31. Jan 2015, 19:55 bearbeitet]
Kreisler_jun.
Inventar
#2 erstellt: 28. Jan 2015, 12:19
Beethovens Kammermusik mit Bläsern der Mozarts als überlegen oder objektiv fortgeschritten zu betrachten, scheint mir eine relativ kühne Behauptung. Wobei selbstverständlich diese Stücke in Beethovens Schaffen nicht den Stellenwert haben wie Mozarts Klarinettenquintett, Bläserquintett usw.
op111
Moderator
#3 erstellt: 28. Jan 2015, 20:13

Thomas133 (Beitrag #14050) schrieb:
... wer leugnet denn einen gewissen Fortschritt? Außerdem kommt das so raus als wäre Beethoven der bessere Mozart...

Ich verstehe es vermutlich auch nicht richtig.
Ich könnte, um auf eine andere, mir vertrautere Disziplin zu wechseln, auch nicht entscheiden, wer der bessere (?) Mathematiker war: Pythagoras von Samos, Leonardo Fibonacci, Pierre de Fermat, Gottfried Wilhelm Leibniz, Jean Baptiste Joseph Fourier?

Aber so war's wohl auch nicht gemeint.



[Beitrag von op111 am 28. Jan 2015, 20:26 bearbeitet]
Thomas133
Hat sich gelöscht
#4 erstellt: 28. Jan 2015, 23:04

Kreisler_jun. (Beitrag #14051) schrieb:
Wobei selbstverständlich diese Stücke in Beethovens Schaffen nicht den Stellenwert haben wie Mozarts Klarinettenquintett, Bläserquintett usw.


Das Klarinettenquintett gehört (aber auch nicht ganz zu Unrecht) zum erweiterten Kreis der populären Werke Mozarts aber das Hornquintett ist soweit ich das mitbekommen hab weder sehr häufig auf Konzertprogrammen zu finden, noch wird es von Musikkritikern besonders geschätzt, wohl eher nur für Hornisten ein bedeutsames Repertoirstück - auf jeden Fall von der Kompositionskunst Welten von den zB Haydn-Quartetten, den letzten Sinfonien, gewissen Klavierkonzerten usw. entfernt. Abgesehen dass sich 2 verschiedene Tonsprachen, Stilistiken sowieso schwer vergleichen lassen ist es für mich kurios so ein Stück als Qualitätsvergleich herzunehmen, als würde man Beethovens Quintett op.16 mit Mozarts Opern, Klavierkonzerte, der c-moll Messe vergleichen. Aber was will man schon vergleichen? Wer den besseren subjektiven Geschmack hat? (wobei ich Mozart und Beethoven wie auch Bach ungefähr auf Augenhöhe sehe und nicht in einem Wettkampf, ich bin froh dass die Klassik so vielfältig ist und in anderer Art und Weise mit verschiedensten Ansätzen geniale Komponisten und Werke hervorgebracht hat)
Klassikkonsument
Inventar
#5 erstellt: 30. Jan 2015, 21:58

Thomas133 (Beitrag #14050) schrieb:
Außerdem kommt das so raus als wäre Beethoven der bessere Mozart - denkst du nicht auch dass man große Komponisten getrennt voneinander betrachten soll da jeder seine eigenen Stärken und Schwächen hat ohne das jetzt in irgendeine Richtung dogmatisch zu sehn?


Doch, ich meine, in gewisser Weise war Beethoven der bessere Mozart. Kommt halt drauf an, welche Kriterien man anlegt. Er hat ihm zunächst nachgeeifert, dann wurden die Durchführungen und langsamen Sätze länger und komplexer. Das kann man als Vertiefung, Erweiterung, auch als Verbesserung betrachten.
Man kann jeden Künstler auch für sich gelten lassen. Wobei natürlich die Frage ist, inwieweit das nur eine Frage der persönlichen Vorliebe ist. Aber das Moment der Tradition in der Musikgeschichte stellt eine Verbindung, damit auch einen Vergleich, verschiedener Künstler her. Das betrachte ich nicht als absolutes oder allein mögliches Kriterium. Aber heute trifft man die (böse gesagt) "Gleichmacherei" aller Künstlerpersönlichkeiten so häufig an, dass man dieses Moment mal wieder stärker betonen kann.
Und es ist doch nicht so unplausibel: Denn sowohl Mozart wie auch Beethoven je für sich genommen, haben sich ja entwickelt. Sicherlich hat Entwicklung auch die Seite, dass man etwas anderes ausprobiert. Aber sie hatten wohl schon auch den Anspruch sich selbst zu verbessern. Warum sollte man diesen Anspruch nur auf ein Individuum beschränkt zulassen und nicht auch für eine Traditionslinie?


Mozart und Haydn waren sicher auch nicht besser als Bach, Bruckner und Mahler nicht die besseren Sinfoniker als Beethoven nur weil sie der Zeit voraus waren...


Z.T. ist natürlich auch die Frage, inwiefern man Äpfel mit Birnen vergleicht. Aber wenn man mal am Fortschrittsparadigma festhalten will, kann man diesen Aspekt vielleicht auch mit Autos illustrieren: In gewisser Weise gab es hier im Großen & Ganzen einen technologischen / sicherheitstechnischen Fortschritt. Trotzdem kann es natürlich sein, dass man lieber mit einem Oldtimer oder einem Ford Mustang fährt.

Moderation: HF Code repariert


[Beitrag von Pilotcutter am 31. Jan 2015, 02:06 bearbeitet]
Klassikkonsument
Inventar
#6 erstellt: 30. Jan 2015, 22:02

Kreisler_jun. (Beitrag #14051) schrieb:
Beethovens Kammermusik mit Bläsern der Mozarts als überlegen oder objektiv fortgeschritten zu betrachten, scheint mir eine relativ kühne Behauptung.


Das habe ich auch nicht behauptet. Und sicher ist nicht daran zu rütteln, dass Mozart mit seiner Behandlung der Blasinstrumente für einen Fortschritt gesorgt hat. Nur wollte ich mich auf Aspekte jenseits der Instrumentation kaprizieren.


[Beitrag von Klassikkonsument am 31. Jan 2015, 14:28 bearbeitet]
Thomas133
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#7 erstellt: 31. Jan 2015, 01:47

Klassikkonsument (Beitrag #14069) schrieb:

Z.T. ist natürlich auch die Frage, inwiefern man Äpfel mit Birnen vergleicht.


Du verwendest das gegen meine Argumentation obwohl es eigentlich genau auf deine Sichtweise paßt. Wenn du Beethoven nur als Fortschritt von Mozart siehst dann hast du aber so gut wie gar keinen Zugang zu Mozart gefunden und seinen eigenen Stil nicht verstanden. Es sagt nur etwas über deinen subjektiven Geschmack aus den du wohl leider etwas zu dogmatisch zu vertreten und als allgemeingültige Wahrheit durchdrücken willst (was ich immer fatal bei Geschmacksfragen finde). Die meisten Dirigenten, Interpreten und nachlebende Komponisten vertreten da auch eine ganz andere Meinung als du und man kann ihnen nicht vorwerfen Sie wären nicht vom Fach oder hätten sich nicht ausreichend mit der Materie beschäftigt. Du verstehst jetzt zB Mozarts große g-moll oder Jupiter-Sinfonie minderwertiger als die Eroica, Pastorale, Schicksalssinfonie usw. ...Beethoven für Arme sagt man ja dazu oder? Also ich hab ja schon viel in Foren und bei der Musikliteratur gelesen aber so eine Meinung lese ich zum ersten Mal. Und damit kein Missverständnis aufkommt, ich bin sicher kein undifferenzierter Mozart-Freak, ich höre querbeet und Mozart ist nur ein kleiner Teil davon. Beethoven hatte einen ganz andere Kompositionsansatz und nicht nur der Zeit sondern auch seiner Persönlichkeit bedingt...seine Stärke war oftmals der motivische Ansatz und diesen weiter zu verarbeiten während Mozart seine Stärke öfters in der Melodik lag, Beethoven seine Musik hat öfters aprupte Brüche (die übrigens nicht jedem gefallen, soviel also ob Fortschritte in der Kunst insofern man das überhaupt einen nennen kann immer von Vorteil sein müssen!) während Mozarts Musik homogener in Form und Struktur ist (gefällt dir wahrscheinlich weniger aber wie geschrieben...dein Geschmack...ist aber kein objektives Qualitätskriterium!) Beethoven seine Musik hat oftmals viel über Beethoven ausgesagt indem er viel von seiner Zerrissenheit, Temperament, Leidenschaft heinverpackt hat, Mozarts Musik hingegen gleicht oftmals eher die einer allgemeinen emotionalen Situationsbeschreibung (was nicht nur zeitlich geprägt ist sondern sicher auch großteils vom Charakter her) und mir würde wahrscheinlich noch mehr einfallen was mir aber die Mühe nicht wert ist, aber wenn es eine Wahrheit gibt, dann das Mozart und Beethoven stilistisch eigenständige Komponisten sind und das nicht nur aufgrund der zeitlichen Mode geprägt sondern auch aufgrund ihrer Wesensart, Vorlieben und Geschmäcker. (und wäre Mozart so alt wie Haydn geworden wäre er wohl auch wenn er mit der Zeit gegangen wäre mit Sicherheit nicht ein 2. Beethoven-Klon geworden) Das ist eine Tatsache die auch die Fachwelt nicht ignoriert und somit dein Vergleich mit Autos voll daneben ist, als wäre ein Komponist und die Musik mit einem Gegenstand zu vergleichen (da bin ich auch einer Meinung mit Fabian). Da trifft ja der "Äpfel und Birne-Vergleich" ja zu. Sicher gibt es auf der anderen Seite Weiterentwicklungen, für dich scheint da die Durchführung das wichtigste Argument zu sein, aber wer misst die Wertigkeit was für eine Neuerung wieviel an Mehrwert und Qualitätszuwachs hat? Manche legen mehr darauf wert, manche Hörer wieder weniger, ist jetzt ein Werk von Beethoven besser wenn es 2 Minuten länger in der Durchführung bleibt aber Mozart in manch anderen Werken eigängigere Themen schreibt die aber weil es dir persönlich nicht so wichtig ist keinen Stellenwert besitzt und demnach die längere Durchführung gewinnt? Nicht falsch verstehen, ich habe schon manch deiner Beiträge geschätzt aber hier verrennst du dich mit absoluter Sicherheit in etwas.
Kreisler_jun.
Inventar
#8 erstellt: 31. Jan 2015, 13:50
Aber warum ist es ein Fortschritt, dass "Durchführungen und langsame Sätze länger und komplexer werden"? Das ist doch erstmal völlig neutral.
Sonst müsste weitgehend Einigkeit bestehen, dass Bruckner oder erst recht Reger "besser" als Beethoven seien, weil "lang und komplex"
Klassikkonsument
Inventar
#9 erstellt: 31. Jan 2015, 17:37

Thomas133 (Beitrag #14071) schrieb:

Klassikkonsument (Beitrag #14069) schrieb:

Z.T. ist natürlich auch die Frage, inwiefern man Äpfel mit Birnen vergleicht.


Du verwendest das gegen meine Argumentation obwohl es eigentlich genau auf deine Sichtweise paßt.


Nein, im Gegenteil, genau an dieser Stelle gebe ich dir recht. Es ist immer die Frage, ob man Künstler miteinander vergleichen kann, weil jeder seine individuelle Vorstellung von seinem Tun hat. Auch kann man jedes Werk als eigenständiges Individuum betrachten.
Damit ist aber nicht die Tatsache aus der Welt, dass sich klassische Komponisten wie Beethoven & Mozart in einer Tradition sehen, die sie weiterentwickeln. Ein Werk ist unter diesem Aspekt betrachtet auch immer eine Kritik an den vorangegangenen - sowohl der eigenen wie auch derjenigen anderer.
"Verwässert" wird dieser Aspekt durch Gelegenheitswerke. Relativ "rein" hat man ihn bei Komponisten nah am Verstummen, die nicht so viel schreiben: z.B. Anton Webern oder Franco Evangelisti, der sich schließlich vom traditionellen Werk-Konzept verabschiedet und stattdessen mit Kollegen improvisiert hat. Dieser Sichtweise entsprechen auch die "kulturstalinistischen" Äußerungen von Pierre Boulez (z.B. "Schönberg ist tot" oder die Bewertung von Werken Schostakowitschs als 2. oder 3. Aufguss Mahlers bzw. Strawinskis) oder das (vielleicht apokryphe) Schubert-Zitat "Was kann man nach Beethoven noch machen?".
Für mich bezieht der erste Satz von Schuberts Klaviersonate a-moll D 784 seinen Reiz nicht zuletzt daraus, dass man sich während des Hörens fragen kann, wie es überhaupt noch weitergehen soll. Da wird vor Eintritt des 2. Themas das bereits Gesagte, das eigentlich in sich abgeschlossen ist, nochmal in laut wiederholt. Das wirkt unfreiwillig komisch. Das 2. Thema scheint zwar zunächst zu trösten, es bringt etwas Licht in die Sache. Aber es löst sich auf, es bricht in sich zusammen. Es gibt anscheinend keine Hoffnung mehr. Dieser Satz neigt zum Defätismus. Das scheint mir Musik zu sein, die mit dem Rücken zur Wand steht. Eigentlich kann nach diesem ersten Satz nichts mehr kommen. Die Musik ist am Ende. Dass dennoch zwei Sätze folgen, nehme ich Schubert aber nicht übel; auch die höre ich gern.


Wenn du Beethoven nur als Fortschritt von Mozart siehst dann hast du aber so gut wie gar keinen Zugang zu Mozart gefunden und seinen eigenen Stil nicht verstanden. Es sagt nur etwas über deinen subjektiven Geschmack aus den du wohl leider etwas zu dogmatisch zu vertreten und als allgemeingültige Wahrheit durchdrücken willst (was ich immer fatal bei Geschmacksfragen finde).


Könnte man meinen, aber ich glaube, es ist anders. Mozarts Klavierkonzerte Nrr. 19 & 20 gehen mir mit ihrer Wolferl-typischen Fröhlichkeit gehörig auf die Nerven. (Gut, im Finale von Nr. 20 "kriegt" er mich dann doch.) Trotzdem gehören sie zu meinen liebsten Klavierkonzerten. Ich kann diesen Tonfall, der mir nicht gefällt, als individuelle Eigenheit akzeptieren.


Die meisten Dirigenten, Interpreten und nachlebende Komponisten vertreten da auch eine ganz andere Meinung als du und man kann ihnen nicht vorwerfen Sie wären nicht vom Fach oder hätten sich nicht ausreichend mit der Materie beschäftigt. Du verstehst jetzt zB Mozarts große g-moll oder Jupiter-Sinfonie minderwertiger als die Eroica, Pastorale, Schicksalssinfonie usw. ...Beethoven für Arme sagt man ja dazu oder?


Nein, ich sehe Mozarts späte Sinfonien (die Prager finde ich auch noch besonders herausragend) schon als eigenständige Individuen, die durch spätere Sinfonien nicht mehr vom Tisch gewischt werden können.
Überhaupt meine ich, dass Mozart relativ am Anfang einer Tradition oder eines neuen Kunstverständnisses steht (die dann Beethoven halt fortgeführt hat), bei der / dem der Künstler nicht nur etwas abliefert, damit die Musikanten eben was zu spielen und das Publikum was zu hören hat. Dies wären Produkte, die völlig ephemer und nur für den damaligen Augenblick produziert wären. Sie wären wahrscheinlich schon allein durch den sich eben ändernden Zeitgeschmack hoffnungslos veraltet und obsolet. Man lese mal Witze aus der Antike. Bei vielen denkt man nur: "Aha, darüber hat man also früher gelacht."
Meinem Eindruck nach hat Mozart damit begonnen, (sehr plakativ gesagt) "für die Ewigkeit" zu schreiben.

Dieses seltsame Fortschrittsparadigma kann ja auch leicht einseitig werden. Spätere Werke sind nicht nur Kritik der vorangegangenen. Schließlich sollte es ja auch etwas geben, das sich entwickelt. Das wäre dann etwas, das sich im beständigen Wandel erhält.

Aber es gibt ja z.B. eine Äußerung von Schumann über Haydn (~ "immer noch ein gern gesehener Gast, es macht immer Spaß mit ihm, aber heute ist man weiter"), die ich sogar ambivalent sehe. Einerseits finde ich sie nachvollziehbar (z.B. bei vielen Klaviersonaten), andererseits habe ich z.B. bei einigen Streichquartetten nicht den Eindruck, dass sie "überholt" seien.

Merkwürdigerweise sehe ich J.S. Bach in diesem Zusammenhang als zu einem anderen Kapitel gehörig an. Er (und erst recht frühere Musik) scheint mir nachträglich in das neuere Kunstverständnis eingemeindet worden zu sein. Aber ich will auch überhaupt nicht ausschließen, dass ich komplett auf dem Holzweg bin.


aber wenn es eine Wahrheit gibt, dann das Mozart und Beethoven stilistisch eigenständige Komponisten sind und das nicht nur aufgrund der zeitlichen Mode geprägt sondern auch aufgrund ihrer Wesensart, Vorlieben und Geschmäcker.


Das sehe ich auch so.


Das ist eine Tatsache die auch die Fachwelt nicht ignoriert und somit dein Vergleich mit Autos voll daneben ist, als wäre ein Komponist und die Musik mit einem Gegenstand zu vergleichen (da bin ich auch einer Meinung mit Fabian). Da trifft ja der "Äpfel und Birne-Vergleich" ja zu.


Natürlich hinkt der Auto-Vergleich. (Übrigens ging Arno Schmidt ja sogar noch weiter, indem er traditionelle Literatur & moderne (deren Anfang er wohl ungefähr bei Lewis Carroll verortete) mit Kutschen und Autos verglich.) Aber Kunst hat eben auch eine handwerkliche, "technische" Seite. Die wird besonders deutlich, wenn ein Komponist einen älteren Stil kopiert. Und Mahler waren eben Dinge möglich, auf die Mozart nie im Leben gekommen wäre.


Sicher gibt es auf der anderen Seite Weiterentwicklungen, für dich scheint da die Durchführung das wichtigste Argument zu sein, aber wer misst die Wertigkeit was für eine Neuerung wieviel an Mehrwert und Qualitätszuwachs hat? Manche legen mehr darauf wert, manche Hörer wieder weniger, ist jetzt ein Werk von Beethoven besser wenn es 2 Minuten länger in der Durchführung bleibt aber Mozart in manch anderen Werken eigängigere Themen schreibt die aber weil es dir persönlich nicht so wichtig ist keinen Stellenwert besitzt und demnach die längere Durchführung gewinnt?


Keine Ahnung, ob ich das richtig auseinanderklamüsern kann.
Klar, für mich hat die Durchführung besondere Bedeutung. Oft habe ich den Eindruck, dass die Exposition wie ein Anlaufnehmen ist oder wie wenn man auf einem Skateboard erstmal mit ein paar Tritten Fahrt aufnimmt. Die Durchführung hat dann etwas Befreites, Losgelöstes; nun steht man sozusagen auf dem fahrenden Skateboard. Krass gesagt, fängt die Musik für mich oft eigentlich erst mit der Durchführung an. (Übrigens habe ich diesen Eindruck nicht so sehr bei dem ersten Satz von Schuberts a-moll-Sonate D 784. Die Durchführung bringt dann natürlich auch hier die Entfesselung von in der Exposition angelegten Dynamiken. Aber bei der Exposition habe ich überhaupt nicht das Gefühl von "Vorlauf".)

Objektiv betrachtet kann man natürlich sagen, dass die Durchführung nur einer von vielen Aspekten in der klassischen Musik ist. Im engeren Sinne passt er ja auch gar nicht z.B. auf vorklassische Stücke wie etwa eine Bach-Fuge. Und über den ersten Satz von Alban Bergs Lyrischer Suite sagt Adorno, es handele sich um einen Sonatensatz ohne Durchführung. Die sei auch gar nicht mehr nötig, weil bereits die Musik der Exposition Durchführungscharakter hat.
Andererseits war die Durchführung eben zu einem Ort geworden, in dem es zum einen besonders komplexe Verarbeitung gibt. Zum anderen war es eben in der Durchführung möglich geworden sich von starren Schemata zu lösen und einen individuelleren Ausdruck zu erreichen. Insofern meine ich, dass der Durchführung auch musikimmanent betrachtet eine besondere Rolle zukommt.

Wahrscheinlich brauchen wir mal nen Thread zu "Fortschritt in der Musik", wenn es ihn noch nicht gibt.

Klassikkonsument
Inventar
#10 erstellt: 31. Jan 2015, 18:34

Kreisler_jun. (Beitrag #14072) schrieb:
Aber warum ist es ein Fortschritt, dass "Durchführungen und langsame Sätze länger und komplexer werden"? Das ist doch erstmal völlig neutral.

Nein, neutral ist es sicher nicht. Aber eine Verkürzung oder Verknappung kann natürlich auch ein Fortschritt sein. Z.B. In Beethovens Bagatellen op. 119 oder seinem Quartetto serioso op. 95. Oder bei Webern.
Kreisler_jun.
Inventar
#11 erstellt: 01. Feb 2015, 13:22
Wenn eine Erweiterung ebenso wie eine Verknappung beide ein Fortschritt sein können, warum sind dann nicht beide erstmal ("ceteris paribus") neutral?

Dass musikalische (oder andere Kunstwerke) eine "Kritik" an vorhergegangen sein sollten, halte ich für fragwürdig oder mindestens einseitig. Sie nehmen oft (aber längst nicht immer) Bezug auf vorhergehende. Das muss aber kein Bezug im Sinne einer versuchten "Verbesserung" sein und es gibt genügend Beispiele, die "quer" zu vorhergehenden Kunstwerken liegen, bei denen ein Bezug kaum konstruktiv herzustellen ist. Mozarts Haydn gewidmete Quartette sind ein Beispiel mit einem deutlichen Bezug. Aber zB Mozarts Klavierkonzerte oder das Quintett für Klavier und Bläser haben meines Wissens keinen offensichtlichen Bezug, sie sind keine "Kritik" oder offensichtliche Fortentwicklung an vorhergehenden Werken. (Selbst innerhalb der Reihe der Mozart-Konzerte, fällt es schwer, durchgehenden "Fortschritt auszumachen: KV 271 ist in vieler Hinsicht origineller und kühner als die meisten späteren; von ca. 20-25 kann man vielleicht zunehmend einen stärker sinfonischen Zug ausmachen, der aber den letzten beiden Konzerten wieder fehlt.)

Wenn man sagt, dass für Mahler Dinge möglich waren, auf die Mozart nicht kommen konnte, gilt das natürlich auch umgekehrt. Für Mozart waren Dinge möglich, die bei Mahler nicht mehr möglich waren.

Selbst im Schaffen eines einzigen Komponisten hat man doch oft eher den Eindruck eines Auslotens paralleler Optionen anstatt eines Fortschritts. z.B schreibt der junge Beethoven eine Anzahl "großer" brillanter viersätziger Klaviersonaten (beginnend mit op.2, besonders Nr.3). Selbst wenn das vielleicht einige Musikwissenschaftler anders sehen mögen, ist interessanterweise die letzte dieser Sonaten, op.22 eher ein "Stiefkind" und weit weniger populär und angesehen als op.2/3 und op.10/3. War das nun ein Fortschritt von op.2 bis op.22? oder eine Sackgasse? Oder sind das beides viel zu einseitige Sichtweisen?

Oder vielleicht noch extremer bei den späten Sonaten: op.106 ist nicht zu übertreffen. Aber nur wenige Jahre später konnte Beethoven drei Sonaten schreiben, sozusagen drei alternative/parallele Optionen verwirklichen. Keine von denen ist in Umfang, Komplexität usw. "besser" als op.106. Aber bei opp. 109 und 110 könnte man argumentieren, dass sie op.106 in der lyrischen Melodik und in der "Freiheit" unkonventioneller Formgestaltung überlegen sind und der zweite Satz von op.111 ist wieder ein neues Extrem, eine auf die Spitze getriebene Version einer Satzform, die in op.106 gar nicht vorgekommen ist.

Und noch ein paar Jahre später komponiert Schubert seine letzten 5 oder 6 Sonaten, die zwar untereinander nicht so extrem voneinander verschieden sind wie die letzten 5 von Beethoven, aber sich jedenfalls vom späten Beethoven sehr deutlich unterscheiden.

Zwar ist danach die Klaviersonate historisch etwas "erschöpft", aber es gibt natürlich dennoch einige Werke, die man entweder als Fortschritt (zB die Liszt-Sonate?) oder eher als Erschließen alternativer Möglichkeiten (Chopin, Schumann), die sich zu Beethoven oder Schubert schlecht in ein Fortschritts- oder Degenerationsverhältnis setzen lassen, verstehen könnte.
Klassikkonsument
Inventar
#12 erstellt: 02. Feb 2015, 01:46

Kreisler_jun. (Beitrag #11) schrieb:
Wenn eine Erweiterung ebenso wie eine Verknappung beide ein Fortschritt sein können, warum sind dann nicht beide erstmal ("ceteris paribus") neutral?

Klar, die bloße Anzahl von Takten sagt nix über die Qualität. Aber das ist auch nicht meine Aussage. Beethoven schließt ja an das Schaffen von Mozart an. Warum sollte man die Vertiefung und Erweiterung der langsamen Sätze nicht als Verbesserung empfinden? Beethoven hat ja z.B. in dem Bereich weitergearbeitet. Klar können einem lange langsame Sätze auch auf die Nerven gehen. Es gibt ja auch Leute, die ausgedehnte Gitarrensoli (Santana, Johnny Winter, womöglich schon Jimi Hendrix) ablehnen.


Dass musikalische (oder andere Kunstwerke) eine "Kritik" an vorhergegangen sein sollten, halte ich für fragwürdig oder mindestens einseitig. Sie nehmen oft (aber längst nicht immer) Bezug auf vorhergehende. Das muss aber kein Bezug im Sinne einer versuchten "Verbesserung" sein und es gibt genügend Beispiele, die "quer" zu vorhergehenden Kunstwerken liegen, bei denen ein Bezug kaum konstruktiv herzustellen ist.


Für den Fortschritt in der Musik gibt es kein allgemeines quantitatives Maß. Gut, meine Ausführungen konnte man missverstehen im Sinne eines "Wer hat das längste Adagio?". Aber der Fortschritt, den ich meine, ist schon eine inhaltlichere Angelegenheit. Voraussetzung dafür ist, dass es eine Gemeinsamkeit, eine Basis gibt, die ein Vergleichen erst ermöglicht.
Und die besteht nun einmal in der Tatsache, dass sich die klassischen Komponisten gegenseitig rezipiert haben. Nicht lückenlos, und es gab Außenseiter, die erst später entdeckt wurden. Als grundsätzliche Einwände kann ich das allerdings nicht verstehen. Ausnahmen sind nunmal Ausnahmen und nicht die Regel.

Wagner ist wohl ein guter Bezugspunkt, wenn man sich klar machen will, was los ist, wenn der Fortschritt stockt. Wagner hat die Musik revolutioniert. Aber seine Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger haben sich entweder bewusst gegen seinen Stil entschieden oder waren mehr oder minder Epigonen. Gut, "Epigonen" ist sicher übertrieben. In der Wagner-Richtung waren sicher noch Möglichkeiten auszuloten. Aber es gab wohl eine Reihe von tatsächlich epigonalen wagnerianischen Opernkomponisten. Und selbst noch Debussy hat sich doch jahrelang damit herumgequält, sich dem Bann Wagners zu entziehen. Wagner scheint also den Fortschritt in der Musik nicht nur befördert, sondern zeitweilig auch blockiert zu haben.

Das ist sicher nur ein lückenhafter, grober & schiefer Abriss der Wagner- & Post-Wagner-Epoche. Aber worauf ich hinaus will: Auch wenn die Stile von Komponisten jeweils anders sind, womöglich ein Unterschied wie Tag & Nacht, können sie im Sinne des Fortschritts aufeinander bezogen sein. So kann man die Stile von Debussy, der Schönberg-Schule oder Strawinskys auch als Antworten auf die Frage: "Was kann man nach Wagner noch machen?" verstehen. Und gerade von Debussy & Strawinsky kennt man ja einige Wagner-Bash-Zitate.


Mozarts Haydn gewidmete Quartette sind ein Beispiel mit einem deutlichen Bezug.


Wenn der Bezug explizit genannt wird, muss es irgendeinen Bezug geben. Aber man muss natürlich trotzdem nochmal inhaltlich nachgucken, worin er jenseits der Benamsung eigentlich besteht. In deinem Beispiel wird ein Musikwissenschaftler sicher ne Menge dazu darstellen können.
Mir fällt ein Quasi-Gegenbeispiel aus der schönen Literatur ein: Brechts Mutter Courage kann man sicher als Hommage an die Courasche von Grimmelshausen verstehen. Es gibt ja auch ein paar Gemeinsamkeiten: Beide Titelfiguren versuchen sich zur Zeit des 30jährigen Krieges als Marketenderin durchzuschlagen. Ansonsten hat aber Brechts Heldin und das ganze Stück doch recht wenig mit dem satirischen Barock-Roman zu tun. Der war sicherlich eine Inspiration, und man kann sich vorstellen, dass Brecht die Courasche gemocht hat. Aber er wollte schließlich etwas ganz anderes machen.


Aber zB Mozarts Klavierkonzerte [...] haben meines Wissens keinen offensichtlichen Bezug, sie sind keine "Kritik" oder offensichtliche Fortentwicklung an vorhergehenden Werken.


Bitte? Die ersten Gehversuche Mozarts in diesem Genre waren doch Arrangements von Werken anderer Komponisten. Natürlich hatte er irgendwann auf dem Schirm, was es zu seiner Zeit bedeutete, ein Klavierkonzert zu schreiben. Der "epigonale" Weg der Aneignung der Tradition ist doch in diesem Fall recht gut dokumentiert.


Selbst innerhalb der Reihe der Mozart-Konzerte, fällt es schwer, durchgehenden "Fortschritt auszumachen: KV 271 ist in vieler Hinsicht origineller und kühner als die meisten späteren; von ca. 20-25 kann man vielleicht zunehmend einen stärker sinfonischen Zug ausmachen, der aber den letzten beiden Konzerten wieder fehlt.


Wahrscheinlich gab es auch Leute, die von der wachsenden Besetzung von Konzert zu Konzert nicht begeistert waren (z.B. wegen erschwerter Aufführbarkeit). Aber dass die zunehmende Bedeutung gerade auch der Blasinstrumente ein Fortschritt war, ist doch geradezu ein Gemeinplatz.
Und wenn die letzten beiden Konzerte von Mozart in Bezug auf sinfonischen Charakter ein "Rückschritt" ist, dann konnte er wohl auf dem zuvor eingeschlagenen Weg gerade nicht weitermachen. Vielleicht fiel ihm gerade nix ein, vielleicht besann er sich darauf, die Möglichkeiten bei kleinerer Besetzung auszuloten. Und das letzte Klavierkonzert Nr. 27 wird ja allgemein als herausragendes Werk angesehen.
Aber das ist ja kein Einwand gegen das Fortschrittsparadigma, sofern man darunter nicht versteht, dass das Spätere pauschal als fortgeschrittener zu betrachten sei.

Was Kammermusik angeht, so hört man doch andauernd, welche Verdienste sich Mozart um die zunehmende Unabhängigkeit der Stimmen erworben hat. Er war da nicht der einzige, nicht der erste oder letzte, andere mögen andere Lösungen gehabt haben. Aber dass er an einer Problemstellung gearbeitet und dabei durchaus gewisse Fortschritte erzielt hat, lässt sich doch nicht leugnen.

Ein & derselbe Zweck, zumal bei wechselseitiger Rezeption, bedeutet eben eine Vergleichbarkeit. Und mitunter auch mal ein "besser" bzw. "schlechter". Im Einzelfall wird das nicht immer klar zu entscheiden sein. Die eine mag eine Lösung überzeugender finden als der andere. Und dabei wird auch nicht immer klar sein, wo der subjektive Geschmack aufhört und ab wann man von objektiven Geschmackskriterien spricht. Doch das alles sind keine Gründe dafür, dass es schlicht nicht sinnvoll wäre, ein Werk "besser" oder "fortgeschrittener" zu nennen.


Wenn man sagt, dass für Mahler Dinge möglich waren, auf die Mozart nicht kommen konnte, gilt das natürlich auch umgekehrt. Für Mozart waren Dinge möglich, die bei Mahler nicht mehr möglich waren.


Ach, warum sollte Mahler nicht zu Stilkopien in der Lage gewesen sein? Aber auch wenn nicht: Wenn man einräumt, dass Mahler zum Fortschritt in der Tradition der europäischen klassischen Musik beigetragen hat (z.B. Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten), wird dieses Verdienst doch nicht kleiner, weil er anderes, was seine Vorgänger drauf hatten, nicht konnte. Das scheint mir zu fixiert auf die einzelne Person zu sein.
Der Gegenstand des Fortschritts, wenn denn da was dran ist, wäre doch eben in erster Linie die musikalische Tradition und nicht ihre Beiträger. Ich finde eine Analogie zum Fortschritt in den Wissenschaften schon recht tragfähig.


Selbst im Schaffen eines einzigen Komponisten hat man doch oft eher den Eindruck eines Auslotens paralleler Optionen anstatt eines Fortschritts.


Am Unstrittigsten ist die Rede vom Fortschritt in Fällen, in denen Einzelaspekte / -probleme mehrfach bearbeitet werden (mehr Eigenständigkeit aller Stimmen, größere Bandbreite rhythmischer Möglichkeiten, mehr Klangfarben usw.). Zwar spielt auch hier subjektiver Geschmack eine gewisse Rolle. Aber doch nur in dem Sinne, dass man für sich entscheiden muss, wie wichtig einem der jeweilige Einzelaspekt ist. Wenn er vorausgesetzt ist, lässt sich recht klar angeben, was besser oder fortgeschrittener ist.

Aber auch das Ausloten paralleler oder sogar konträrer Optionen, kann man m.E. als Fortschritt interpretieren. Wenn eine Option (wenigstens vorläufig) ausgereizt ist, macht man eben mit einer anderen weiter.


Oder vielleicht noch extremer bei den späten Sonaten: op.106 ist nicht zu übertreffen. Aber nur wenige Jahre später konnte Beethoven drei Sonaten schreiben, sozusagen drei alternative/parallele Optionen verwirklichen. Keine von denen ist in Umfang, Komplexität usw. "besser" als op.106. Aber bei opp. 109 und 110 könnte man argumentieren, dass sie op.106 in der lyrischen Melodik und in der "Freiheit" unkonventioneller Formgestaltung überlegen sind und der zweite Satz von op.111 ist wieder ein neues Extrem, eine auf die Spitze getriebene Version einer Satzform, die in op.106 gar nicht vorgekommen ist.


Stimmt, op.106 ist "fetter", repräsentativer, eben eine "große" Sonate. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass opp.109 - 111 anspruchslose Gelegenheitswerke wären.
Inkommensurabel (und daher einem Fortschrittskonzept in Analogie zu den Wissenschaften widersprechend) werden Werke durch verschiedenen Anspruch, aber auch durch verschiedenen Gehalt / Aussage / Sinn.
Da hilft aber vielleicht der Hinweis, dass eben auch op.106 nicht das ganze Spektrum des ästhetischen Ausdrucks abdecken kann.
Joachim49
Inventar
#13 erstellt: 02. Feb 2015, 21:21
Etwas gefällt mir an dieser Fortschrittsdiskussion nicht. Es gibt doch auffällige Disanalogien. Wo die Kategorie des Fortschritts am deutlichsten ist, ist es sinnvoll zu sagen, dass etwas überflüssig geworden ist. Ein heutiger Kleinwagen ist besser, als ein Käfer aus den 50-er Jahren. Wo ein heutiges Medikament oder eine medizinische Behandlungsmethode besser wirkt, ersetzt sie die alte und macht sie überflüssig. Die heutigen physikalischen oder chemischen Theorien sind ein guter Ersatz für jahrhunderte alte Vorläufer. Aber kein Mensch käme doch auf die Idee, dass wer Beethoven hört keinen Mozart mehr braucht oder Mahler Bach überflüssig gemacht hat. Es gibt Gebiete, da funktioniert der Begriff des Fortschritts - aber ob die Musik dazu gehört scheint mir fraglich. Es mag Fortschritte im Sinne von Reifungsprozessen geben, man muss das Handwerk des Komponierens ja erlernen und kann dabei Fortschritte machen, aber die Musikgeschichte ist kein Reifungsprozess solcher Art.
Thomas133
Hat sich gelöscht
#14 erstellt: 02. Feb 2015, 21:53
Weißt du das Problem ist das es gerade bei der Kunst keine eindeutigen Qualitätskriterien gibt als würde man wie zB beim Sport nach gewissen erreichten Punkten, bei Autos nach Ausstattung, bei Immobilien nach Lage, m2, Zustand usw. objektive (!) Qualitätskritieren aufstellen. Gerade weil Musik auch eine sehr subjektive Betrachtung zulässt und sich daraus die Wertigkeit für den jeweils Einzelnen ergibt kann man hier nicht nach objektiv besser und schlechter beurteilen. Ich bin ja schon beruhigt dass du Mozart und Beethoven ihre eigene Persönlichkeit und demzufolge eigene Stilistik zugestehst, aber dadurch gestehst du ja auch ein dass man Beide eigentlich schwer vergleichen kann. Ich habe sicher kein Problem wenn du es als deinen eigenen subjektiven Standpunkt vertrittst, es als deine persönlichen Geschmacksvorlieben deklarierst aber problematisch ist es wie geschrieben wenn man es als eine allgemeingültige Regel verstanden wissen will. Tatsache ist, es gab in einigen Bereichen (vor allem Harmonik, Loslösung von gewissen traditionellen Formen der Melodiegestaltung, Erweiterung bzw. Veränderung von Gewichtungen innerhalb der Sonatenhauptsatzform,...) eine Weiterentwicklung und ich persönlich bin auch über manche sehr froh...andere Musikliebhaber auch...aber auch genug denen gewisse typische Formen und Regeln des Barocks und der Klassikepoche mehr anspricht. Aus ihrer Sicht sind diese Epochen "besser" sie würden es wahrscheinlich dann anders nennen wie zB noch nicht so pathetisch, (für Diejenigen) teilweise sperrig, weniger überladen, die großteils ökonomischere Gestaltung der Satztechnik usw.
Wie ich ja schon in einem anderen Thread geschrieben habe ist es höchstens sinnvoll eine gewisse Qualität anhand von der Anzahl der Einspielungen und Berücksichtigung in Konzertprogrammen auszumachen denn die Fachwelt von Dirigenten, Interpreten sowie die Klassikhörer selbst entscheiden darüber und meiner Meinung nach setzt sich hier früher oder später Qualität auch durch und hier sind Mozart und Beethoven sicher auf Augenhöhe. Das es abseits wie geschrieben persönliche Geschmacksvorlieben gibt ist auch bei Kennern völlig legitim und normal, es gab sicher einige die Beethoven den Vorzug gaben bzw. geben, genausogut wie solche die Mozart bevorzugen bzw. bevorzugten (obwohl sie sich auch mit Beethoven viel auseinandergesetzt haben) mir fallen da spontan Harnoncourt, Böhm, Gulda oder Krips ("Beethoven erreicht in manchen seiner Werke den Himmel, aber Mozart, der kommt von dort") ein. Sagt natürlich auch nicht aus dass Sie recht haben, aber das man es aus unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmen kann. Der Fortschritt ist die eine Tatsache, ob es für den jeweils Einzelnen immer auch als Vorteil und Zugewinn empfunden wir die andere.

Man kann ja auch oder muss auch differenzieren (pauschalieren kann man heir sowieso nicht), Messiaen sagte einmal Mozart wäre der beste Rhythmiker unter den Komponisten gewesen, das war was er selbst empfunden hat. Debussy meinte einmal "Er ist der reinste aller Musiker, er ist die Musik selbst" und Reger meinte sogar "Das größte musikalische Wunder, das die Erde gesehen, war Mozart" - Ich möchte da kein Zitatwettbewerb machen (sicher würde ich noch bei Tschaikowsky und Anderen noch fündig werden) zeigt aber das - und man kann diesen Leuten sicher keine musikalische Kompetenz absprechen - dieses Thema nicht einfach mit Fortschritt abzuhandeln und zu beurteilen ist. Und wie geschrieben ich habe kein Problem damit wenn du schreibst "Ich finde Beethoven besser als Mozart" - das ist völlig legitim.

Ich habe etwas nur jetzt mal über Tonarten gefunden, falls Interesse besteht kann man es sich durchlesen und soll nur zeigen das die Materie nicht so einfach mit Fortschritt herunterzubrechen ist. Musikbeurteilungen sind in Wahrheit viel komplexer.

Alfred Einstein schreibt:
Tonart’ hat für ihn eine ganz andere Bedeutung als für Bach, Beethoven und eine ganze
Reihe anderer Meister; auch für Haydn. Jeder feinfühlige Musiker hat vielleicht schon
beobachtet, daß bei solchen Meistern bestimmte melodische Wendungen oder Figurationen
mit bestimmten Tonarten fest verbunden sind. Bei Bach zum Beispiel mit G-dur die
Sechsachtelketten, mit d-moll eine Art von reizbarer Figuration (verbunden mit
Chromatik); bei Beethoven mit C-dur eine spezifische Brillianz, verbunden mit
akkordischer Figuration […] Es handelt sich hier um eine Art von Idiosynkrasien, die bei
der Wahl besonderer Tonarten besondere melodische Wendungen ausschließen und andern
den Zugang erleichtern. […] Bei Mozart ist die Tonart neutral, so sorgsam er sie in jedem
Fall gewählt hat. Sein C-dur, D-dur, Es-dur ist ihm ein reicherer, weiterer Bezirk als andern
Zeitgenossen, ein fruchtbarer Boden, auf dem Rosen, aber auch Zypressen wachsen
können.


Doktorarbeit von Uri B. Rom:
Die Unterschiede zwischen Mozarts
„Tonartenidiomatik“ und vergleichbaren Momenten etwa bei Haydn und Beethoven
dürften qualitativer sowie quantitativer Natur sein – ein gebührend eingehender Vergleich
bleibt indes ein Desiderat für die weitere Forschung.


Es braucht kaum explizit darauf hingewiesen zu werden, dass der als konservativ
erscheinende, verhältnismäßig geringe Gebrauch von Moll-Tonarten in Mozarts Werken
keinesfalls als Merkmal von Prävalenz heiterer Gefühle in seiner Musik zu interpretieren
ist. Zum einen ist das Mozartsche Dur ebenso fähig, mitunter „negative“ Affekte wie
Traurigkeit oder Bangen auszudrücken (wie etwa in der Cavatina der Contessa Nr. 11 aus
Figaro), zum anderen enthält ein beträchtlicher Teil der Mozartschen Dur-Sätze
bedeutende Moll-Passagen, die die interne tongeschlechtliche Balance wesentlich
mitprägen. Etwa im Kopfsatz des Klavierkonzerts KV 503/I begegnen 13 Stellen, die im
jeweiligen tonalen Kontext als Wendungen zur Moll-Varianttonart zu klassifizieren sind
(bereits ein Fünftel der Orchestereinleitung dieses Satzes steht in c-Moll!). In Anbetracht
eines solchen „angehäuften“ Gebrauchs von Vermollungsverfahren scheinen etliche
Mozartsche Dur-Sätze – vor allem aus den späten Wiener Jahren – ein veritables
Dur/Moll-Zwittergeschlecht zu repräsentieren.


Es fällt allerdings auf, dass die Wendung zur Dur-Varianttonart im Finalsatz
von op. 37 durch einen markanten Wechsel der Instrumentation gekennzeichnet ist – in T.
42 werden auf einmal die Bläser in den Mittelpunkt gestellt: Durch den klanglichen
Wechsel wird eine gleichsam für sich stehende Ebene der musikalischen Geschehnisse
geschaffen. Insofern scheint Beethovens Dur-Wendung aus tonal-harmonischer Sicht
tatsächlich weniger organisch integriert zu sein als die Mozartschen Moll-Wendungen.
Kreisler_jun.
Inventar
#15 erstellt: 02. Feb 2015, 23:48
Weiterentwicklung muss ja nicht "Höherentwicklung" bedeuten. Es könnte auch Degeneration oder Dekadenz bedeuten. Oder eben "vertikale Verzweigung", also gleichwertige, aber unterschiedliche Alternativen.

Abschnittsweise können wir vermutlich in vielen Epochen oder im Schaffen eines einzelnen Künstlers eine gerichtete Entwicklung zu höherer Qualität in fast allen relevanten Dimensionen feststellen. Aber das scheint nicht auf allen Ebenen plausibel. In größerem Maßstab gibt es zum einen Brüche oder Revolutionen. Es ist kaum zu bestreiten, dass zB die frühe Barockmusik der Renaissancepolyphonie nach den Maßstäben letzterer unterlegen ist, da Stimmen weniger selbständig usw. Und noch weniger wird vermutlich jemand sagen wollen, dass die Musik der 1750er/60er Jahre von Jan Stamitz oder Wagenseil "besser" wäre als zB JS Bach, Händel oder Rameau.
Und besonders wenn man große historische Sprünge macht, scheint einem eine vernünftige Basis für ein Urteil zu fehlen. Inwiefern soll Mahler besser/schlechter sein als Monteverdi. Die sind stilistisch einfach zu unterschiedlich.

(Interessant ist vielleicht, dass man in der Musik am deutlichsten solchem Fortschrittsdenken anzuhängen scheint. Ich kann mich nicht erinnern, jemals gehört zu haben, eine Novelle Fontanes sei fortgeschrittener gegenüber Kleist oder Hoffmann; meiner vagen Schulerinnerung nach ist Fontane eher etwas bieder gegenüber dem neurotisch-atemlosen Kleist und dem fantastisch-pittoresken Hoffmann. Wenn überhaupt, scheint in der Literatur eher die Idee uneinholbarer Vorbilder zu herrschen: Homer, Sophokles, Vergil, Dante, Shakespeare, vielleicht noch Goethe, aber im Zweifel je älter, je besser. Vergil ist schon ein "Abklatsch" Homers usw.)

Nun sind Mozart und Beethoven freilich nahe genug beieinander, dass ein Vergleichen und ggf. das Feststellen einer Fortentwicklung i.S. einer Höherentwicklung weniger abwegig als bei Monteverdi vs. Mahler. Dass man auch hier vorsichtig sein sollte, habe ich versucht, mit den Beispielen innerhalb des Schaffens eines Komponisten zu belegen. Selbst einer der Komponisten, der einen ziemlich plausiblen Fall für eine emphatische Weiterentwicklung (innerhalb reifer Werke), bieten sollte, nämlich Beethoven, ist nicht so einfach gelagert. Und das war einer der ersten Komponisten, der sich selbst zu einer solchen Haltung bekannt hat! Es gibt sicher Kriterien, nach denen zB Beethovens 5. der Eroica überlegen ist, und welche, nach denen es umgekehrt ist.

Und bei Beethoven und Mozart besteht, was "Durchführungen" betrifft, m.E. eine Diskrepanz, die mit Fortschritt nicht unbedingt etwas zu tun hat. Mozart hat selten oder nie Interesse an (annähernd) monothematischen Sätzen, die fast alle Gestalten auf sparsames Grundmaterial zurückführen. Es gibt ein paar Sätze, die in die Richtung gehen (Kopfsätze Haffner-Sinfonie, D-Dur-Streichquintett), aber das sind Ausnahmen. Es gibt einige ziemlich lange Durchführungen (zB Prager Sinfonie), aber u.a. aufgrund des Materialreichtums der Expositionen ist auch das eher die Ausnahme. Bei Haydn ist das Gewicht der Durchführungen (bei insgesamt knapperen Sätzen mit weniger unterschiedlichen Themen) größer und es gibt auch eine stärkere Tendenz zu durchführungsartigen Elementen in der Reprise (was bei Beethoven dann normalerweise als Coda ein weiterer Großabschnitt wird).
Insofern zeigt Beethoven hier manchmal eher eine Fortentwicklung Haydns bzw. eine Synthese von Aspekten Haydns und Mozarts (breitere Anlage, kaum Monothematik). Ein Satz, den ich als besonders Beethovennah in der beinahe obsessiven Materialökonomie empfinde, ist der Kopfsatz von Haydns "Quintenquartett" op.76/2.

Eine schwierige Frage ist, inwiefern schon bei Beethoven etwas ggü. Mozart "verloren" geht. Das wage ich auch nicht zu beantworten; hier fallen normalerweise Stichworte wie Balance, Eleganz oder auch überlegene melodische Inspiration Mozart, naturgemäß alles schwieriger zu objektivieren als die Länge einer Durchführung
Kreisler_jun.
Inventar
#16 erstellt: 03. Feb 2015, 00:41
Haydn ist für mich ein deutliches Beispiel für eine "Breitenentwicklung". Klar, Haydn war kein Wunderkind und hatte keine so frühe so gute Ausbildung wie Beethoven oder gar Mozart und braucht etwas länger, um einen "reifen Stil" auszubilden. Ab den Sinfonien um 1770 und den Quartetten op.20 sehe ich jedoch keine eindeutige oder offensichtliche Qualitätssteigerung mehr. Selbst wenn Rosen einen Fortschritt zum "echten" klassischen Stil zwischen ca, 1770 und 1781 sehen mag, gibt es andere Aspekte, die "verloren" zu gehen scheinen. Man findet später kaum mehr so spannungsvolle Werke wie die Sinfonien 44 und 45, letztere auch formal experimentell (nicht nur im Finale, sondern auch im Kopfsatz). Die Sinfonie 46 bringt eine thematische Vereinheitlichung mit verwandten Hauptthemen im Kopfsatz und Finale, sowie einer Wiederkehr der Menuetts im Finale, die Haydn danach nie mehr versucht hat.
Sicher gibt es auch noch "Entwicklungen" bei seinen Quartetten der 1780er und 90er oder von den "Pariser" zu den Londoner Sinfonien, aber ich sehe nicht, wie man begründen sollte, dass zB die "Londoner" "besser" als die Pariser wären.
Ich sehe das weit eher als eine fortgesetzte Exploration der musikalischen Möglichkeiten als eine lineare Weiterentwicklung


[Beitrag von Kreisler_jun. am 03. Feb 2015, 00:43 bearbeitet]
Thomas133
Hat sich gelöscht
#17 erstellt: 03. Feb 2015, 01:19

Kreisler_jun. (Beitrag #16) schrieb:

Ich sehe das weit eher als eine fortgesetzte Exploration der musikalischen Möglichkeiten als eine lineare Weiterentwicklung


Das würde diese Diskussion auch auf den Punkt bringen, die Musik ändert sich im Laufe der Zeit, sie ist jeweils anders, aber anders bedeutet nicht das sie deswegen irgendwo objektiv besser ist. Und persönliche Präferenzen sind wieder ein ganz anderes Thema und (leider ) nicht der Ausgang dieser Diskussion.
Thomas133
Hat sich gelöscht
#18 erstellt: 03. Feb 2015, 02:55
Mir kam jetzt auch ein anderer Gedankenansatz in den Sinn der nochmal veranschaulichen soll warum der Fortschrittsgedanke in der Musik nichts über Qualität aussagen kann. Wäre dem so dann müßten auch Komponisten wie Ferdinand Ries - ebenso zeitliche nähe wie Beethoven zu Mozart - einem Mozart überlegen sein, da die von Beethoven entwickelten Formen und Erweiterungen auch großteils in seine Musik einflossen. Der Gedanke das Ries Mozart überragen könnte erscheint aber sicher den meisten Klassikfreunden als absurd. Der Kern der Sache liegt im Unterschied von Beethoven zu Ries - der viel schwerer definierbar und greifbar ist (da kommt man mit Begriffen wie längere Durchführung, erweiterte Harmonik usw. auch nicht mehr so weit) - etwas das aber ungefähr alle großen Komponisten aller Epochen ausmacht ob Mozart, Bach, Mahler,...und unabhängig von den Moden der Zeit ist, Harnoncourt nennt es "Musenkuss" - metaphysische Ursachen die man mit Regeln und Maßstäben nicht so einfach erklären kann (nur sehr bedingt und teilweise) und von denen sich die Größen ihrer Zeit vom Großteil der komponierenden Zeitgenossen abgehoben haben. Somit kann das Grundgerüst einer Komposition nie als Beweis für etwas dienen das etwas besser oder schlechter ist.
Hörbert
Inventar
#19 erstellt: 03. Feb 2015, 11:29
Hallo!

Ich weiß nicht, irgendwie kann ich den linearen Fortschrittsgedanken gar nicht nachvollziehen. Musik hat unter anderem sowohl eine gesellschaftliche Funktion die sich in ihrem Gebrauch niederschlägt und richtet sich somit nach den Erfordernissen und den Forderungen der jeweiligen Reziptienten wie sie auch aus einem gewissen jeweils zur Verfugung stehenden Fundus an musikalischen Wendungen und Möglichkeiten schöpft.

So gehe ich also eher von der Annahme aus das ein älterer Stil oder eine ältere Komponierweise sich gewissermaßen im Laufe der Zeit "verbraucht", das es also irgendwann einfach nicht mehr interessant ist "mehr vom gleichen" zu erschaffen.

So hätte z.B. Beethoven hätte er nicht nur Zeitnahe mit Mozart komponiert sondern zeitgleich entweder eine wesentlich andere Musik geschrieben oder m.E. gar keine Beachtung erzielt weil eben der damalige Publikum mit seiner Musik nicht anzufangen gewußt hätte. M.E. muß also eine Musik zeitlich "passen"

Wäre hier nicht eher von einer quasi "evoltionären Anpassung" der Musik an die unterschiedlichen gesellschaflichen Strukturen auszugehen als von einem Fortschrittsgedanken?

MFG Günther
Kreisler_jun.
Inventar
#20 erstellt: 03. Feb 2015, 12:19
Haben sich die gesellschaftlichen Strukturen zwischen 1580 und 1780 groß unterschieden?
Die Gesellschaft war durchweg dominiert von Kirche und Adel, auch wenn es natürlich auch schon bürgerliche Handelsherren, Professoren usw. mit gewissem Status und Einfluss gegeben hat. Große politische Umwälzungen hat es höchsten lokal gegeben (England, ging aber alles wieder retour).

Aber in der Musik gab es die "Revolution" des Frühbarock, Erfindung der Oper usw. um 1600 und die weitgehende Ablösung des Generalbasszeitalters ca. 1740-70. Die lassen sich beide m.E. nicht klar gesellschaftlichen Entwicklungen zuordnen, eben da die gesellschaftlichen Strukturen sich nicht allzu stark verändert haben.
Hörbert
Inventar
#21 erstellt: 03. Feb 2015, 17:02
Hallo!

@Kreisler_jun.

Hm, ich würde die Verschiebung des Machtgefüges von den Romanischen Staaten hin zu England und Schweden, den 30 Jährigen Krieg, der Machtverfall der Inquisition in Nord- und Mitteleuropa, das Erdbeben von Lissabon respektive seine Folgen für den Christlichen Glauben, den Aufstig des Zentralismus, die Besidelung Nordamerikas und dessen Unabhängigkeitskrieg und was der Dinge mehr sind schon als gewaltige Gesellschaftliche Veränderungen beschreiben die sich auch im Bewußtsein der damaligen Rezeptienten von Musik niederschlugen.

Man bedenke nur einmal die Verschiebung des Machtgefüges vom Hofe Kaiser Maximilians hin zum Hofe Ludwigs der XIV. Das hier auch eine Mentalitätsverschiebung stattgefunden hat, eine Verschiebung in Bildung und Geschmack, u.s.w. liegt doch wohl auf der Hand.

Ähnliche Veränderungen lassen sich natürlich auch im wirtschaftlichen Gefüge und so ziemlich auch auf allen anderen Sektoren beobachten.

MFG Günther
Klassikkonsument
Inventar
#22 erstellt: 22. Feb 2015, 01:28

Joachim49 (Beitrag #13) schrieb:
Etwas gefällt mir an dieser Fortschrittsdiskussion nicht. Es gibt doch auffällige Disanalogien. Wo die Kategorie des Fortschritts am deutlichsten ist, ist es sinnvoll zu sagen, dass etwas überflüssig geworden ist. Ein heutiger Kleinwagen ist besser, als ein Käfer aus den 50-er Jahren. Wo ein heutiges Medikament oder eine medizinische Behandlungsmethode besser wirkt, ersetzt sie die alte und macht sie überflüssig. Die heutigen physikalischen oder chemischen Theorien sind ein guter Ersatz für jahrhunderte alte Vorläufer.


Es ist eben vielleicht auch in den Bereichen Technik & Wissenschaften ein bisschen einseitig, wenn man das Ältere einfach als überflüssig geworden betrachtet. Ein Beispiel gegen diese Betrachtungsweise war ja beim Auto-Gleichnis der Liebhaber von Oldtimern.
Und guckt man als Philosoph oder Historiker auf die Technik- & Wissenschaftsgeschichte und nicht als Techniker oder Forscher in der jeweiligen Disziplin, dann hat das Ältere allerdings durchaus eine eigenständige Bedeutung. Für den Techniker oder Forscher hat das "Veraltete" keinen Nutzen oder ist kaum praktikabel. Und die Fortschritte der Vergangenheit, die zum Status quo geführt haben, interessieren ihn eigentlich auch nicht die Bohne. Für den Praktiker existiert Fortschritt nur in der Zukunftsperspektive, nämlich der Hoffnung, dass gegenwärtige Probleme (z.B. umweltschädlicher Autoantrieb, Mängel der Krebstherapie, ein neues Modell der Materie, das das Nebeneinander von Partikel- & Wellen-Modell überwindet) irgendwann gelöst werden.

Aber ich gebe zu, dass auch mit dieser Aufteilung der Fortschrittsgedanke nicht bruchlos für die Kunst übernommen werden kann.
Thomas133
Hat sich gelöscht
#23 erstellt: 22. Feb 2015, 23:08

Klassikkonsument (Beitrag #22) schrieb:


Aber ich gebe zu, dass auch mit dieser Aufteilung der Fortschrittsgedanke nicht bruchlos für die Kunst übernommen werden kann.


Hallo,
ich finde es sehr positiv dass du Argumente annehmen und deine ursprüngliche Sichtweise zum. teilweise revidieren kannst, das sollte auch mal erwähnt werden weil es nicht selbstverständlich ist da leider zu viele Menschen allein aus gewissem Stolz und Rechthaberei heraus komplett abblocken ohne nur ansatzweise zu versuchen über andere Argumente nachzudenken. Das rechne ich dir positiv an.
anamnesis
Ist häufiger hier
#24 erstellt: 07. Apr 2015, 09:13

Kreisler_jun. (Beitrag #20) schrieb:

Aber in der Musik gab es die "Revolution" des Frühbarock, Erfindung der Oper usw. um 1600 und die weitgehende Ablösung des Generalbasszeitalters ca. 1740-70. Die lassen sich beide m.E. nicht klar gesellschaftlichen Entwicklungen zuordnen, eben da die gesellschaftlichen Strukturen sich nicht allzu stark verändert haben.


Nur ergänzend: ich glaube schon, dass sich die Entwicklung der Musik dialektisch vollzieht. Wir können spätestens seit der Renaissance immer wieder "antithetische" Phasen ausmachen. Diese Phasen dauern nicht sehr lange und werden zumindest von mir als Simplifizierung (um nicht Banalisierung zu sagen) der Vorgänger wahrgenommen. Die überaus kunstvolle Polyphonie der Renaissance (u.a. Monteverdi/Gesualdo) vs Frühbarock, J.S. Bach vs Söhne/Frühklassik usw. Danach kommt es zu einer Synthese (die reife Wiener Klassik ist ohne den Einfluss J.S.Bachs nicht denkbar). Die Veränderung gesellschaftlicher Strukturen vollzieht sich langsamer. Kunst ist eben wie eine Uhr, die vorgeht.
Beste Grüße
Jens
WolfgangZ
Inventar
#25 erstellt: 07. Apr 2015, 12:53

Kunst ist eben wie eine Uhr, die vorgeht.


Schönes Bonmot!

Erst in Zeiten der Postmoderne (oder vielleicht doch schon hundert Jahre zuvor im Fin de Siècle) kommt noch der Wecker hinzu, der stets zu spät klingelt.

Wolfgang
Kreisler_jun.
Inventar
#26 erstellt: 07. Apr 2015, 18:44
Nun sind aber Monteverdi und Gesualdo schon ein "Verstoß" gegen alle möglichen Stimmführungsregeln des "Palestrina"-Stils, mithin eher Vertreter des Frühbarock als der Renaissance, wenn man denn so einteilen will. Ich wage das nicht zu beurteilen, aber was "Komplexität" betrifft, sind schon im 15. Jhd. kaum überbietbare Höhepunkte (Dufay, evtl. sogar noch früher) erreicht. Nur ist Komplexität per se halt nicht identisch mit künstlerischerer Qualität oder emotionaler Wirksamkeit (die ich Dufay sicher nicht absprechen will). Wenn es hauptsächlich auf Komplexität und kontrapunktische Künste ankäme, müssten wir Max Reger erheblich höher einschätzen (als es die meisten von uns tun...).
Joachim49
Inventar
#27 erstellt: 07. Apr 2015, 23:40
(Zu anamnesis): Ich habe meine Zweifel, ob man mit dem dialektischen Trivialschema weit kommt. Natürlich gibt es Reaktionen und Gegenbewegungen. Aber Synthesen? Hat Mozart Bach 'aufgehoben'. Und wie soll's weitergehen mit dem Hegelianisieren in der Musikgeschichte. Wie ist die Romantik dialektisch zu erklären? Von was ist Mahler die Synthese? Das ist mir zu scholastisch! Und heutzutage ist's ja ganz kunterbunt. Oder sollen wir etwa mit dem jungen Boulez glauben, dass nur eine Musikströmung historisch legitimiert ist? Anton Webern, - der Zeitgeist, nicht zu Pferde, sondern auf dem Notenpapier?
mit freundlichen grüssen
joachim
anamnesis
Ist häufiger hier
#28 erstellt: 09. Apr 2015, 13:09

Joachim49 (Beitrag #27) schrieb:
(Zu anamnesis): Ich habe meine Zweifel, ob man mit dem dialektischen Trivialschema weit kommt. Natürlich gibt es Reaktionen und Gegenbewegungen. Aber Synthesen? Hat Mozart Bach 'aufgehoben'.
joachim


Hallo,

"aufgehoben" in der Hegel'schen Dreifachbedeutung , ja, ich denke schon. Gerade bei Mozart lässt sich m.E. der "Vor-Bach-Mozart" und der reife "Nach-Bach-Mozart" gut unterscheiden. Mozart geriet ja geradezu in eine Krise, als er J.S.Bach richtig kennenlernte. Er studierte ihn obsessiv, bearbeitete diverse Präludien und Fugen aus den WTK für Streicher, und sein Quartett Nr. 13, d-moll/1. Satz zeigt schon deutlich Mozarts Auseinandersetzung mit der Bach'schen Fuge. Dass die Dialektik nicht starr sich vollzieht, ist schon klar. Aber eine strikte Abwendung (Antithese) von den Vorgängern lässt sich, glaube ich, zeigen. Das muss nicht notwendig etwas mit Abneigung zu tun haben. Christian Bach verachtete seinen Vater bestimmt nicht, und, um die radikalste Antithese zu nennen, Schönberg verachtete nicht seine Vorgänger, im Gegenteil.
Beste Grüße
Jens
anamnesis
Ist häufiger hier
#29 erstellt: 09. Apr 2015, 13:18

Kreisler_jun. (Beitrag #26) schrieb:
Wenn es hauptsächlich auf Komplexität und kontrapunktische Künste ankäme, müssten wir Max Reger erheblich höher einschätzen (als es die meisten von uns tun...).


Ich gehöre zu diesen "Hocheinschätzern", auch wenn mir seine Orgelsachen doch ein wenig zu krawallig sind. Dagegen gibt es für mich kaum etwas Schöneres aus dieser Zeit als seine Chorwerke. O Tod wie bitter bist du, Nachtlied, aber auch seine Volksliedbearbeitung (Es waren zwei Königskinder, Der Mond ist aufgegangen u.a.) können mir trutzigem Manne ein Tränelein entlocken. :-) Adorno wies ja schon darauf hin, dass man irgenwann Reger neu bewerten müsse. Dem kann ich mich anschließen.

Beste Grüße
Jens
Klassikkonsument
Inventar
#30 erstellt: 13. Apr 2015, 16:01
Ich denke, ich bin Thomas noch ne längere Antwort schuldig. Bin ich in der letzten Zeit nicht so richtig dazu gekommen. Aber ich bleibe dran.
Und dann ging die Diskussion ja auch weiter.
Kreisler_jun.
Inventar
#31 erstellt: 13. Apr 2015, 17:25
Alle Komponisten der Generation Haydns und auch Mozarts wurden normalerweise im Kontrapunkt (anhand zB Fux' Gradus ad parnassum) ausgebildet. Nicht nur in der Ausbildung, auch in der Kirchenmusik lief dieser Stil im gesamten 18. Jhd. mehr oder minder parallel weiter.
Von Haydn ist mir nicht bekannt, dass er frühzeitig Musik von JS Bach kennenlernte (und er komponierte dennoch zB in op.20 Fugen als Finalsätze, schon Anfang der 1770er und parallel zu weitgehend "homophonen" Stücken)
Ungeachtet der Kommentare und Bearbeitungen Mozarts bin ich mir daher nicht sicher, ob ein Einfluss Bachs nicht oft übertrieben wird.
Außerdem sind viele entsprechend beeinflusste Stücke Mozarts keine Synthesen, sondern relativ genaue Emulationen des Barockstils, in der c-moll-Messe und dem Requiem manchmal auf konkreten Stücken Händels basierend (Requiem - The ways of Zion do mourn, Qui tollis aus der Messe - The people shall hear aus Israel in Egypt). In diesen Stücken wird also nur in einem Sinne "aufgehoben", nicht im dreifachen...
Thomas133
Hat sich gelöscht
#32 erstellt: 13. Apr 2015, 23:14

Klassikkonsument (Beitrag #30) schrieb:
Ich denke, ich bin Thomas noch ne längere Antwort schuldig. Bin ich in der letzten Zeit nicht so richtig dazu gekommen. Aber ich bleibe dran. Und dann ging die Diskussion ja auch weiter.


Hallo,
also ehrlich gesagt bin ich an dieser Diskussion nicht mehr dran, da ich schon das Wichtigste dazu (weiter oben) geschrieben habe und ich mich ungern wiederhole. Um es mit den damals treffenden Worten von Kreisler nochmal auf den Punkt zu bringen...ich erkenne Fortschritt in der Musik an aber als "fortgesetzte Exploration der musikalischen Möglichkeiten" nicht als eine Art Qualitätssteigerung im Laufe der Zeit. Und warum hab ich ja oben genauer im Detail erklärt...und solange Niemand diese Argumente plausibel wiederlegen kann (was auch schwer möglich ist ), kann man mich auch sicher nicht vom Gegenteil überzeugen...und ich bin kein Typ von Mensch der sich prinzipiell ungern eines Besseren belehren läßt. Nur noch eines...wir müssen Alle bedenken - egal welchen Standpunkt wir haben - dass wir hier versuchen müssen den persönlichen subjektiven Geschmack auszublenden sondern auch mit einfliessen lassen was für Komponisten in der Musikgeschichte von den weltweiten Experten (Interpreten, Dirigenten, Musikkritiker,...) besonders geschätzt werden. Schön zu wissen wenn der eine oder andere jetzt Reger, Stockhausen oder wen auch immer besonders schätzt tut aber nichts zur Sache bei der Diskussion.
gruß
anamnesis
Ist häufiger hier
#33 erstellt: 14. Apr 2015, 15:12

Kreisler_jun. (Beitrag #31) schrieb:
Alle Komponisten der Generation Haydns und auch Mozarts wurden normalerweise im Kontrapunkt (anhand zB Fux' Gradus ad parnassum) ausgebildet. Nicht nur in der Ausbildung, auch in der Kirchenmusik lief dieser Stil im gesamten 18. Jhd. mehr oder minder parallel weiter.
Von Haydn ist mir nicht bekannt, dass er frühzeitig Musik von JS Bach kennenlernte (und er komponierte dennoch zB in op.20 Fugen als Finalsätze, schon Anfang der 1770er und parallel zu weitgehend "homophonen" Stücken)
Ungeachtet der Kommentare und Bearbeitungen Mozarts bin ich mir daher nicht sicher, ob ein Einfluss Bachs nicht oft übertrieben wird.


Da muss ich mich für meine sehr verkürzte Darstellung entschuldigen. Ich hätte Kirchenmusik hier ausdrücklich ausschließen müssen, denn in der Tat gehörte dort bis Ende des 19. Jahrhunderts (mindestens) eine "anständige Fuge" einfach dazu als Beweis, dass man auch den "gelehrten Stil" beherrschte. Nein, ich meine hier nicht so sehr die Fähigkeit, eine Fuge zu schreiben, sondern die Weise, wie das Studium Bachs sich auf die Verfahrensweise, auf das gesamte Schaffen auswirkte. Die reifen, nicht ausdrücklich fugierten Werke Mozarts (man denke an K516 u.a.) zeigen mehr Kontrapunkt, mehr konzentrierte Beschäftigung mit dem Material, weniger galante "Verspieltheit" sozusagen, trotzdem sind sie durch und durch Mozart. Beethovens problematisches Verhältnis zur Fuge, die er ja erneuern und damit für die Sonate retten wollte ("ein wahrhaft poetisches Element muss hinzukommen"), verdient einen eigenen Thread, imo.
Beste Grüße
Jens


[Beitrag von anamnesis am 14. Apr 2015, 15:14 bearbeitet]
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