Gernsheim, Friedrich

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Joachim49
Inventar

#1 erstellt: 19. Feb 2010, 20:43

Ich habe auf der Basis von zwei Hörschnipseln zwei Klavierquartette eines mir völlig unbekannten Komponisten gekauft und bin recht begeistert. Die Klavierquartette von Friedrich Gernsheim gehören vom Stil her sofort erkennbar in die (deutsche) Hochromantik. Das erste Quartett (von dreien)ist deutlich durch Mendelssohn beeinflusst, das dritte deutlich durch Brahms. Mag sein, dass dieser deutliche Einfluss sehr schnell zu dem Urteil "Epigone" führt, mich jedenfalls würde es nicht stören wenn es zahlreiche gute Brahmsepigonen gäbe. Gernsheims Musik ist sehr melodisch, aber er weiss auch zum Glück etwas mit seinen melodischen Einfällen anzufangen. Die musikalischen Ausdrucksmittel bleiben allerdings ganz im Rahmen dessen, was man bei Brahms findet. Es drängt ihn nicht harmonisches Neuland zu erkunden und im Streit zwischen den Neudeutschen (so hiessen die doch?) und den Brahmsianern steht seine Musik ganz auf der Seite von Brahms. Kurzum: jeder der an der Musik von Brahms Gefallen findet, wird auch hier hoch zufrieden sein (auch wenn das Niveau von Brahms nicht ganz erreicht wird).
Auf der preisgünstigen CD von Brilliant findet man das erste Klavierquartett (1859) und das dritte (1883). Die Ausführenden sind (mir) unbekannt, aber spielen tadellos (Diogenes Quartett & Andreas Kirpal).
Es scheint noch ein paar andere Werke von Gernsheim auf CD zu geben, und jedesmals zeigten sich die Rezensenten verblüfft, dass der Komponist fast unbekannt ist geblieben.
Dazu mag vielleicht auch seine jüdische Herkunft beigetragen haben. Jedenfalls wird sich schon wenige Jahre nach seinem Tod (1916) niemand mehr in seiner Heimat für seine Musik eingesetzt haben.

Der 1839 in Worms geborenen Komponist studierte in Leipzig, lebt eine zeitlang als freier Künstler in Paris (wo er Wagners Tannhäuser hört), wird Musikdirektor in Saarbrücken, später in Köln (Gürzenich) und schliesslich in Rotterdam (the 'Dutch Brahms'). 1890 wird er nach Berlin an das Stern'sche Konservatorium berufen. Gernsheim war in Berlin als Chorleiter (?) an der Aufführung der 2. Symphonie Mahlers beteiligt, und Mahler hat Gernsheims dritte Symphonie aufgeführt. Gernsheim schrieb viel Kammermusik für verschieden Besetzungen (klaviertrio, klavierquintett& quartette, Streichquartette, etc), Konzerte und vier Symphonien. Ich hoffe davon noch so manches kennenlernen zu können.
Den hoffentlich zahlreichen Liebhabern Brahms'scher Kammermusik kann ich Gernsheim nur ganz warm empfehlen. Sie werden nicht enttäuscht sein. Und wenn sie mit den Klavierquartetten bei Brilliant beginnen, wird das finanzielle Risiko bescheiden sein (5,99 bei jpc, bei 2001 wahrscheinlich noch günstiger).
Freundliche grüsse
Joachim

Joachim49
Inventar

#2 erstellt: 11. Sep 2012, 20:36

Dankenswerterweise hat sich Brilliant erneut für Friedrich Gernsheim eingesetzt. Was ich zu den Klavierquartetten gesagt habe gilt uneingeschränkt auch für die Violinsonaten, die ich gewiss noch oft hören werde. Gernsheim hat nicht nur reizvolle Themen, wie Brahms weiss er auch etwas mit ihnen anzufangen. Dass Brahms' Einfluss deutlich hörbar ist, kann doch kein Grund sein, diese Musik so stiefmütterlich zu behandeln. Auf klassik.com werden diese Werke auch sehr warm empfohlen.

op111
Moderator

#3 erstellt: 12. Sep 2012, 18:23

Hallo Joachim,
danke für den Tipp!
Die Klavierquartette habe ich auf meiner Merkliste,
es wird Zeit, sie endlich mal zu bestellen.

Martin2
Inventar

#4 erstellt: 10. Okt 2012, 22:48

Hallo Joachim,

Youtube sei dank habe ich mir das 1. Klavierquartett heute mal angehört. Doch, das ist sehr süffige Spätromantik, hat im ersten Satz ein nicht übles Thema, klingt sehr gut und ist irgendwie schön. Ich kann Deine Begeisterung teilweise verstehen; das ist Musik, die mir spontan mehr zusagt als viele angesehenere Komponisten, die mich beim ersten Hören nur langweilten und wo es manche Anläufe brauchte, um in die Materie einzudringen.

Daß ich mir dieses Klavierquartett heute mal in einem Rutsch angehört habe, spricht immerhin für Gernsheim, trotzdem scheint mir der Vergleich mit Brahms, den er "beinahe" erreicht, doch ein wenig hoch gegriffen. Ich werde mir das Quartett allerdings auf Youtube noch mal anhören, um zu entscheiden, ob ich mich in den Gernsheim vertiefe. Gerade die spätromantische Süffigkeit dieser Musik mag ja etwas sein, was beim ersten mal angenehm berührt, aber auf die Dauer wenig Faszination hat.

Gruß Martin

[Beitrag von Martin2 am 11. Okt 2012, 01:18 bearbeitet]

Hüb'
Moderator

#5 erstellt: 13. Jan 2016, 11:27

Hallo,

und für's Archiv:

Die Sinfonien von

Friedrich Gernsheim. Die Musik von Gernsheim wird allgemein in die Nähe von Johannes Brahms gerückt. In den ersten beiden Sinfonien drängt sich diese Verbindung in meinen Ohren nicht unbedingt auf, wird dann in der 3. und 4. aber durch einen "brahm'sisch drängenden" Fluss der Musik naheliegender (wer hörend den Vergleich zieht, wird sicher wissen, was ich meine).
Es gibt im Netz - unter anderem bei Amazon - einige positive Besprechungen zu den Sinfonien. Die dort geäußerte Begeisterung mag ich nicht 1:1 teilen. Zwar ist das allemal schön gearbeitete Spätromantik - auch mit der ein oder anderen netten Idee und Wendung versehen - gemessen an den Vorbildern meiner Ansicht nach jedoch nur Mittelmaß im Umfeld der Masse an (romantischem) Nischenrepertoire. Vielleicht daher auch nicht ganz unverständlich, dass es bis zum Beginn der Weltersteinspielung der Sinfonien immerhin bis ins Jahr 1996 gedauert hat. Ein weiteres Indiz für die Bedeutung Gernsheims mag sein, dass Alternativaufnahmen auf sich warten lassen. Allerdings bemüht sich CPO zunehmend um den Komponisten, insbesondere im Bereich der Kammermusik.
Siegfried Köhler und die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz machen einen guten Job und setzen sich für "ihren" (Wormser) Gernsheim engagiert ein. Meister diffiziler Zwischentöne und -stimmungen sind sie jedoch nicht. Dem Orchester scheint die Musik so etwas wie eine Herzensangelegenheit zu sein, denn auf CPO existiert mit ihm eine weitere Einspielung der 1. und der 3. Sinfonie (2. und 4. werden vermutlich folgen).
Insgesamt dennoch eine gelungene Ausgrabung, die man zumindest dann nachdrücklich ans Herz legen kann, wenn die Musik ins persönliche "Beuteschema" passt.

Viele Grüße
Frank

WolfgangZ
Inventar

#6 erstellt: 13. Jan 2016, 12:18

Gekauft habe ich mir die folgende CD nicht wegen des Namens Gernsheim, sondern wegen des Ensembles, das bei uns auftrat und über das ich in der Tageszeitung berichten durfte. Die Musik ist sorgfältig gearbeitet und ansprechend, gewiss ist sie nicht wirklich eigenständig - den bisherigen Kommentaren will ich gerne zustimmen.

Wolfgang

Hüb'
Moderator

#7 erstellt: 31. Mai 2016, 12:37

Hallo,

Friedrich Gernsheim (1839-1916)
Klavierquartette Nr.1 & 3
Andreas Kirpal, Mitglieder des Diogenes Quartett
Brilliant, DDD, 2007

Veritable Hits und in meinen Ohren ganz weit weg von jeder (auch positiv gemeinten) Mittelmäßigkeit sind die Werke auf dieser CD. Was Gernsheim hier an wunderbarem Melodienmaterial heraushaut und in Struktur sowie Spannungsbögen packt ist für meinen romantisch geprägten Geschmack schlichtweg erstklassig. Ich kann leider nur den Kopf darüber schütteln, dass diese Aufnahme bereits wieder gestrichen ist (obwohl noch keine 10 Jahre alt). Angesichts mangelnder Alternativen möchte ich durchaus empfehlen, die CD bei Amazon ruhig zu einem Preis oberhalb des ursprünglichen Neupreises zu erwerben. Wer die Kammermusik von Brahms und Mendelssohn schätzt, wird auch diese Werke Gernsheims mögen.
Wie engagiert sich Andreas Kirpal und die Mitglieder des Diogenes-Quartetts hier für Gernsheim reinhängen ist aller Ehre Wert. Ebenso wie der hervorragende Klang der von Christian Starke aufgenommenen CD (übrigens ein Beleg dafür, dass die Label-Grenzen verschwimmen, wirft man mal einen Blick auf seine

Referenzen).
Erwähnenswert auch der (unerwartet) umfassende, informative und in deutscher Sprache vorliegende Booklet-Text dieser Brilliant Classics-CD.
Da ich nicht weiß, wie lange die ebenfalls (noch) erhältlichen Violinsonaten (halbwegs günstig) zu bekommen sein werden - sie wurden ebenfalls von Stefan und Andreas Kirpal für Brilliant Classics eingespielt und durch Christian Starke aufgenommen - habe ich die Doppel-CD vorsichtshalber gleich geordert. Wenn das musikalische Niveau hier nur halbwegs gehalten wird, kann das keine Fehlentscheidung sein.