Schmidt-Isserstedt, Hans

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Mariusz35
Ist häufiger hier
#1 erstellt: 27. Jun 2004, 14:39
Hallo Leute,

warum wird der Dirigent und langjährige Chef des NDR-Sinfonieorchesters, Hans Schmidt-Isserstedt, eigentlich so unterschätzt? Er gilt gemeinhin als langweilig. Warum eigentlich?
Habt Ihr mal eine Aufnahme mit ihm gehört?
Ich habe mir jetzt die kompletten Brahms-Sinfonien in der EMI-Reihe NDR Klassik gekauft. Ich war sehr erstaunt: Die 4. Sinfonie klingt besser als die mit Recht hochgelobte Interpretation unter Carlos Kleiber. Alle Einspielungen haben mich fasziniert: Kein Takt langweilig, an vielen Stellen stockt einem der Atem! Schmidt-Isserstedt scheint noch ein Dirigent der alten Schule zu sein: Viele Proben bevor es ins Studio oder ins Konzert ging.

Schreibt mal, was Ihr über ihn denkt!

Viele Grüße aus Berlin

Mariusz
Norbert2
Ist häufiger hier
#2 erstellt: 27. Jun 2004, 15:36
Hallo Mariusz,

Schmidt-Isserstedt war, soweit ich es mitbekommen habe, zu Lebzeiten kein unbekannter Dirigent. aber er scheint inzwischen fast vergessen zu sein. Er sind nicht eben gerade viele Aufnahmen mit ihm erhältlich.

Die einzige, die ich mit ihm als Dirigenten besitze, ist Beethovens 9., die es vor einigen Jahren in der "Bouquet"-Reihe der Decca (also low-budget) gab.

Er dirigierte die Wiener Philharmoniker, Solisten waren Joan Sutherland, Marilyn Horne, James King und Martti Talevela (also absolute Hochkaräter), die Aufnahme stammt aus 1966 und bei ihm hört man, warum die 9. für viele das großartigste ist, was jemals an Musik geschrieben worden ist.

PS.: Ich weiß jetzt auch, welche Aufnahme ich mal wieder hören sollte


[Beitrag von Norbert2 am 27. Jun 2004, 15:37 bearbeitet]
drbobo
Inventar
#3 erstellt: 27. Jun 2004, 21:16
Hallo,

habe diesen Dirigenten auch erst durch meine LP-Leidenschaft "entdeckt", besitzte die Beethoven Klavierkonzerte von Backhaus/WPhO unter Isserstedt und bin absolut begeistert.
Albus scheint den Dirigenten besser zu kennen, er hat sich hier: http://www.hifi-foru...hl=isserstedt&z=1#18 mal dazu geäussert.
palisanderwolf
Hat sich gelöscht
#4 erstellt: 28. Jun 2004, 11:03
@Norbert2

diese Aufnahme von Beethovens 9. besitze ich auch und dem, was Du dazu geschrieben hast, ist nach meinem Empfinden völlig zuzustimmen.

@Mariusz35

Bei o.g. Aufnahme zumindest habe ich überhaupt nicht den Eindruck, daß Schmidt-Isserstedt langweilig sei oder daß gar die Wiener spielten wie sie gerade mal wollten und der Dirigent nur mitginge. Diese Aufnahme hat einen eigenen Charakter. Dazu waren sicherlich mehrere Proben angesetzt...

@all
Ich weiß jetzt auch, welche Aufnahme ich mal wieder hören sollte.
MfG Bernd
Albus
Hat sich gelöscht
#5 erstellt: 28. Jun 2004, 11:34
Tag,

ich füge als Beeindruckendes unter der Leitung von Hans Schmidt-Isserstedt doch auch noch etwas hinzu. - Aus der Beethoven-Gesamtaufnahme mit den WPh die 4. und die 7. Sinfonie; die 4. Sinfonie erhält die gehörige Entspannung, die 7. Sinfonie erhält die substanzielle Anspannung (sZt hob in einer Sammelbesprechung Kurt Blaukopf, Musiksoziologe, diese Deutung der 7. über alle Konkurrierenden). Weiter, Brahms, das 1. Klavierkonzert, mit Hans Richter-Haaser, wuchtig und ohne Hast musiziert (Richter-Haaser ist mittlerweile dem Vergessen anheim gefallen). Das Tripelkonzert (Beethoven), in einer historischen Aufnahme (ca. 1955), mit Conrad Hansen (Klavier), Erich Röhn (Violine) und Arthur Troester (Violoncello), dargeboten als ein getriebenes musikalisches Werk, keine Zärteleien. Und eine weitere Historie: Brahms Violinkonzert, mit Ginette Neveu, von der das Orchester noch Jahre später schwärmte ("Sie spielte wie ein Mann!"). Ginette Neveu kam wenig später bei einem Flugzeugabsturz zu Tode.

Hans Schmidt-Isserstedt dirigierte auch wenig gespielte Opern, darunter Weber "Abbu Hassan", Marschner "Hans Heiling", diese in Rundfunkproduktionen des damaligen NWDR (Nordwestdeutscher Rundfunk Hamburg und Köln).

MfG
Albus
Hilda
Stammgast
#6 erstellt: 28. Jun 2004, 14:43
Ich muss gestehen, daß ich keine einzige Aufnahme von Schmidt-Isserstedt habe

Allerdings hatte ich auch schon mit der NDR Brahms-Box geliebäugelt

Weiss jemand mit welchem Solist die Brahms-Konzerte in der gleichen Reihe sind?

Gruss
Klaus
mefisto
Ist häufiger hier
#7 erstellt: 28. Jun 2004, 16:50
Ein zu Unrecht vergessener Dirigent, der es lohnt, wieder entdeckt zu werden.Meine Empfehlung:"Tristan",Hamburg 1949, orchestral fantastisch, sängerisch ebenso, wenn man über die Indisposition von Max Lorenz hinweghört,dessen Leistung trotzdem Respekt abnötigt.HÖREN!!!!!Gruss Guido.
Mariusz35
Ist häufiger hier
#8 erstellt: 28. Jun 2004, 19:17
Hallo an alle, hallo Palisanderwolf,

Du hast mich glaube ich mißverstanden: Ich habe nie gesagt, dass Schmidt-Isserstedt langweilig ist, das Gegenteil ist der Fall. Bei ihm habe ich den Eindruck, dass er, wie viele alte Dirigenten, sehr sorgfältig probt. Alles, was ich von ihm bisher gehört habe, war fantastisch!

Die Brahms-Klavierkonzerte musiziert er übrigens mit Claudio Arrau, erschienen auch bei EMI in der NDR -Klassikreihe.
Diese Konzerte und vor allem die Sinfonien von Brahms kann ich nur unbedingt empfehlen!

Viele Grüße aus Berlin

Mariusz
jpsa
Schaut ab und zu mal vorbei
#9 erstellt: 28. Jun 2004, 20:33
Den Ausführungen von Mariusz kann ich mich nur voll und ganz anschließen. Wie einfach und durchweg gängig sind doch die Brahms Sinfonien in der Hand des richtigen Dirigenten...

Etwas enttäuscht allerdings bin ich von Arrau, zumindest im 1. Klavierkonzert.
Es gibt eigentlich nichts was ich mehr liebe als das 1. Brahms mit Arrau.
Aber hier hatte der Pianist anscheinend einen "schlechteren" Tag erwischt; da hilft es auch nicht, wenn Dirigent und Orchester ihr Bestes geben.
Vergleicht man Arrau im selben Konzert in anderen Aufnahmen (Studio oder Mitschnitte des gleichen Jahrzehnts) so glaubt man eigentlich nicht, ihn hier unter Schmidt-Isserstedt zu hören.

Andererseits glaubt man auch nicht, daß dies der Alfred Brendel Anfang der 70er Jahre ist, der mit dem Concertgebouw Orchester unter Schmidt-Isserstedt eine unglaubliche, ja schon fast unübertreffbare, hervorragende Interpretation gibt, wenn man Brendel wiederum in seiner zweiten Einspielung unter Abbado hört.
Die kurz vor dem Tode Schmidt-Isserstedts entstandene Aufnahme des 1. Brahms mit Brendel (das 2. Konzert mußte dann leider mit Haitink als Dirigent eingespielt werden) gehört zu den Glanzstücken des späten Wirkens eines großen Dirigenten, von dem es - wie kann es auch anders sein - viel zu wenig erhältlich Aufnahmen gibt.
Glücklicherweise habe ich noch diverse Radiomitschnitte in meinem Archiv liegen, die "freundlicherweise" vor vielen Jahren noch zur regelmäßigen Ausstrahlung des NDR gehörten.
Sieht man sich dagegen das heutige Radioprogramm an, sollte man meinen, es hätte Schmidt-Isserstedt und das NDR SO nie gegeben

Gruß,
Jürgen
Albus
Hat sich gelöscht
#10 erstellt: 29. Jun 2004, 07:42
Morgen,

ja, etwas Rückschau ist immer wieder lohnend. Für jemanden wie mich, aufgewachsen mit den Dirigenten am Platze: Eugen Jochum, Joseph Keilberth, Wolfgang Sawallisch und - eben - Hans Schmidt-Isserstedt, bedeutet die Rückbesinnung häufig das Finden von Goldstücken. Leider ist eine Rücknahme der Beschleunigung wohl doch nicht mehr möglich - die Aktualität muss sein, sagen die heutigen 'Rundfunkmacher/innen'.

Taucht unter ihr Gedanken.

MfG
Albus
palisanderwolf
Hat sich gelöscht
#11 erstellt: 29. Jun 2004, 10:15
@Mariusz35

Hallo Mariusz,
Du hast dich auch für mich klar und verständlich ausgedrückt. Ich dagegen hätte differenzierender antworten sollen: eigentlich wollte ich Dein "kein Takt langweilig" kräftig unterstützen. Gleichzeitig drängte sich mir die Frage auf, ob H.Schmidt-Isserstedt wirklich allgemein als langweilig gilt und ob das vielleicht etwas mit " der alten Schule" zu tun haben könnte. Beides habe ich für mich selbst mit "nein" beantwortet. Das hat sich dann wohl alles ein wenig in meinem Beitrag vermischt.

@Mariusz,@all
Mariusz hat gefragt: warum eigentlich? Ich frage nach: Wie können wir der Beantwortung dieser Frage näher kommen? Steht H.Schmidt-Isserstedt für sich, gehört er zu einer Schule oder Gruppierung von Dirigenten? Wie würdet Ihr so etwas definieren? Wo wäre er einzuordnen?

MfG Bernd


[Beitrag von palisanderwolf am 29. Jun 2004, 10:45 bearbeitet]
Albus
Hat sich gelöscht
#12 erstellt: 29. Jun 2004, 11:19
Tag,

die Nachfolger müssen die Reihe der Vorgänger überwinden, die Apparate sind den jeweiligen Nachfolgern zum Gehorsam verpflichtet (siehe Eschenbach im Verhältnis zu Wand). So kommt es, dass die Vorgänger zu Randerscheinungen herabsinken. Soziologisches ist weiter nebenbei anzumerken; Hans Schmidt-Isserstedt, der auch in Stockholm präsent gewesen war, hatte den Wunsch, Herbert Blomstedt möge sein direkter Nachfolger werden (erst sehr viel später kam Blomstedt für nur kurz nach Hamburg zum NDR), womit er sich nicht durchsetzen konnte. Man wählte Moshe Atzmon, einen relativ unbekannten Israeli, das Orchester zunächst mit Begeisterung, alsbald mit Ernüchterung (die Liebe, ja ...). Die Tontechnik im Übergang von Schmidt-Isserstedt, Kapellmeister-Dirigent, Komponist (Kompositionsunterricht bei Franz Schreker), Operndirigent, Jahrgang 1900, zu Atzmon wurde umgekrempelt (weniger massive Streicher), die Programme wurden reißerisch (sämtliche Beethoven-Sinfonien, sämtliche Beethoven-Konzerte, Hauptsache, die Ränge waren voll). Atzmon konnte keine langsamen Sätze zusammenhalten, Atzom brachte keinen Schallplattenvertrag mit. Das Orchester wollte die Vergangenheit, damit Schmidt-Isserstedt, überwinden - und mußte auch Moshe Atzmon abschütteln. Schmidt-Isserstedt war kein Medien-Konstrukt. - Die Zeiten hatten sich gereckt - nach den Medien und ihren Heroen.

So etwa noch dazu.

MfG
Albus


[Beitrag von Albus am 29. Jun 2004, 11:21 bearbeitet]
drbobo
Inventar
#13 erstellt: 26. Jul 2004, 16:03
Hallo,

bin beim Stöbern über die Beethoven - "Gesamtausgabe" bei Decca gestolpert.

Kennt jemand die CD-Ausgabe?
Tonqualität?



amazon.de

Danke!
Mariusz35
Ist häufiger hier
#14 erstellt: 21. Aug 2004, 13:46
Hallo zusammen, hallo drbobo,

vielen Dank für den Tipp!
Wie gesagt, ich halte Schmidt-Isserstedts Interpretation der Brahms-Sinfonien für unvergleichlich gut. Deshalb bin ich gespannt, wie sein Beethoven klingt.

Leider gibt es die Box nicht mehr. Ich habe sie nun gebraucht bei Amazon bestellt.

Ich werde dann an dieser Stelle berichten, wie er die Wiener dirigiert. Bin sehr gespannt!

Viele Grüße aus Berlin

Mariusz
sound67
Hat sich gelöscht
#15 erstellt: 22. Aug 2004, 10:43

Wie gesagt, ich halte Schmidt-Isserstedts Interpretation der Brahms-Sinfonien für unvergleichlich gut.
#

Also, in bezug auf die 1. Symphonie und die Hydn-Variationen muss ich hier energisch widersprechen. Die Einspielungen sind zwar durchaus nicht schlecht, aber es fehlt sowohl an individuellen Merkmalen als auch am richtigen "Zug". Wenn man sich Toscaninis Haydn-Variationen im Vergleich anhört - das kein Vergleich.

Gruß, Thomas
Mariusz35
Ist häufiger hier
#16 erstellt: 22. Aug 2004, 15:09
Hallo Sound67!

Kein Vergleich - das sind die richtigen Worte. Toscanini ist natürlich auf seine eigene Weise unübertroffen. Aber seine trockene, dramatische Interpretation mit schnellen Tempi ist so ganz anders als die von Schmidt-Isserstedt. Dafür hört man bei Schmidt-Isserstedt noch mal andere Instrumentengruppen. Beides hat seinen Charme!

Deshalb stehen bei mir im Schrank auch Toscanini und Schmidt-Isserstedt nebeneinander!


Viele Grüße aus Berlin

Mariusz
sound67
Hat sich gelöscht
#17 erstellt: 22. Aug 2004, 16:20
Habe mir gerade die 4. Symphonie aus der Box angehört, auch sie hat keine Referenz-Qualität. Weniger wegen der durchaus dramatischen Interpretation (als einer der wenigen versinkt Schmidt-Isserstedt im Finale nicht im Pathos), sondern weil das Orchester seinen Dirigenten phasenweise im Stich lässt.

Im ersten Satz haben die Violinen einige Intonationsprobleme und die Holzbläser agieren kläglich, in den ersten 2-3 Minuten sogar geradezu unterirdisch. Erst in den beiden letzten Sätzen kommt mehr Disziplin in den Laden.

Gruß, Thomas
sound67
Hat sich gelöscht
#18 erstellt: 23. Aug 2004, 14:54
Ich hatte mir ja noch zwei andere Schmidt-Isserstedt-CDs gekauft:

Stravinsky: Le Sacre, Symphonie des Psaumes, Symphonie in Drei Sätzen

und

Bartók: Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta; Konzert für Orchester

Auch hier sind die Eindrücke gemischt. Die beiden Stravinsky-Symphonien fand ich sehr gelungen, fast Referenz-würdig. Le Sacre dagegen etwas behäbig, und die beiden Bartók-Meisterwerke zwar handwerklich ordentlich, aber doch sehr brav.

Deshalb habe ich vor der dritten CD mit Werken der klassischen Moderne (Hindemith: Mathis, Noblissima Visione und Symphonische Tänze) doch erst einmal zurückgeschreckt.

Gruß, Thomas
Mariusz35
Ist häufiger hier
#19 erstellt: 27. Aug 2004, 17:21
Hallo zusammen,

jetzt habe ich mir endlich die Beethoven-Aufnahmen unter Schmidt-Isserstedt angehört. Um es gleich zu sagen: Der überragende Brahms-Interpret (dabei bleibe ich!) hat mit Beethoven so seine Schwierigkeiten. Ich habe zwar selten eine klangschönere Aufnahme gehört als diese, aber die Sinfonien sind mir einfach nicht zupackend genug. Schmidt-Isserstedt musiziert zwar sehr differenziert, aber es fehlt halt die Dramatik, die Beethoven braucht. Aber: Geschmäcker sind verschieden. Und besser als viele andere Aufnahmen ist diese allemal.

Wer mit Toscanini oder Leibowitz nicht anfangen kann, ist vielleicht bei Schmidt-Isserstedt richtig aufgehoben.

Viele Grüße aus Berlin

Mariusz
Mariusz35
Ist häufiger hier
#20 erstellt: 29. Aug 2004, 16:11
Hallo Leute,

hat jemand von Euch schon mal Bartok unter Hans Schmidt-Isserstedt gehört? Wäre dankbar für eine Beurteilung.

Viele Grüße aus Berlin

Mariusz
sound67
Hat sich gelöscht
#21 erstellt: 29. Aug 2004, 16:22
Ordentlich, mehr nicht. Kein Vergleich zu Boulez, Solti & Co.

Gruß, Thomas


[Beitrag von sound67 am 29. Aug 2004, 16:58 bearbeitet]
drbobo
Inventar
#22 erstellt: 31. Aug 2004, 12:45
Hallo Mariusz

nach deiner Beschreibung sollte ich doch mal reinhören bzw. den Kauf erwägen. Kommt auf jeden Fall weiter oben auf die Liste, auch wenn Leibowitz bis her meine Lieblingsaufnahme ist.
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