"Neoklassizismus" - eine Worthülse?

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 09. Nov 2009, 21:46
Was eigentlich ist Neoklassizismus? Lese ich den Wikipediaartikel, so lese ich, daß das wohl ursprünglich eine Bewegung in der klassischen Musik war, die sich gegen Spätromantik und auch gegen den Impressionismus richtete und der Strawinski und die sogenannte Gruppe der sechs angehörig fühlten.

Dies mag so sein und möglicherweise gab es wirklich mal eine Entwicklung in der Musik des 20. Jahrhunderts, die man mit dem Begriff Neoklassizismus bezeichnen kann. Dieser Begriff wurde dann aber wirklich - und auch das kann man bei Wikipedia herauslesen - auf alle mögliche Musik des 20. Jahrhunderts ausgedehnt: Auf Schostakowitsch etwa, auf Hindemith, Martinu, Prokoview, Bartoks 3. Klavierkonzert soll angeblich neoklassizistisch sein und vieles andere mehr.

Ich bin kein Musikwissenschaftler, aber für mein rein musikalisches Gefühl bekommt der Begriff Neoklassizismus damit allerdings etwas ungemein schwammiges. Wenn man es denn darauf anlegt, kann man anscheinend alle moderne tonale Musik als "neoklassizistisch" bezeichnen und für mich macht der Begriff dann allerdings wirklich keinen Sinn mehr. Das ist dann wirklich die Nacht, in der alle Katzen grau sind.

Wie seht ihr das?

Gruß Martin
WolfgangZ
Inventar
#2 erstellt: 09. Nov 2009, 22:30
Hallo, Martin!

Ich kann Deine Sicht teilen, auch wenn ich selbst gerne dazu tendiere, Musik, die ich aus dem 20. Jahrhundert kennenlerne, ein solches Etikett überzustülpen, um dem Bedürfnis, einen Stil zu beschreiben, für mich und andere, mit denen ich mich darüber unterhalte und die das Werk vielleicht noch nicht kennen, entgegenzukommen.

Im weiteren Sinne kann ich damit leben, dass "Neoklassizismus" darin besteht, barocke oder klassische Formen und Haltungen aufzugreifen, in den eigenen Stil zu integrieren oder auch zu parodieren, wie das Strawinsky oder Poulenc beispielsweise wunderbar beherrschen. Abzugrenzen wären die Dodekaphonie, ein betont radikaler Expressionismus, Serialismus, Minimalismus oder die vor allem Romantizismen aufsaugenden postmodernen Strömungen.

Ein solcher Begriff bleibt Hilfskonstruktion, dient der Verständigung und zerfranst an den Rändern - wie Etiketten in der Kunst und Kultur schlechthin. Es ist viel interessanter, einen Personalstil - den von Strawinsky, den von Poulenc - per se zu beschreiben, aber halt auch viel schwieriger. Ich bilde mir mittlerweile ein (vielleicht ist das Selbstüberschätzung), ein mir bisher nicht bekanntes Werk von Strawinsky oder Poulenc (um nur bei diesen Beispielen zu bleiben) erkennen zu können. Warum ich es erkannt habe, dann aber auch nachvollziehbar zu beschreiben, nun denn ...

Gruß, Wolfgang
Martin2
Inventar
#3 erstellt: 09. Nov 2009, 23:28

WolfgangZ schrieb:
Abzugrenzen wären die Dodekaphonie, ein betont radikaler Expressionismus, Serialismus, Minimalismus oder die vor allem Romantizismen aufsaugenden postmodernen Strömungen.



Hallo Wolfgang,

diese "Abgrenzungen" sind mir auch bekannt, nur habe ich beim Begriff Neoklassizismus oft den Eindruck, daß man mit ihm alles bezeichnet, was in die obigen Kategorien irgendwie nicht rein paßt. Weil man halt unbedingt etwas in irgendeine Schublade stopfen muß.
Ich finde zum Beispiel Schostakowitsch überhaupt nicht klassizistisch, sondern eher als expressive Ausdrucksmusik, oder Prokoview, Bartok und Hindemith und viele andere, wo ein Begriff "Neoklassizismus" überhaupt nicht paßt.
Mich ärgert dies vielleicht vor allem deshalb, weil ich in erster Linie dann "neoklassizistische" Musik höre, diese Musik mir als die wesentlich wichtige erscheint und ich dann das Label "neoklassizistisch" als mißverständliche Abwertung mir ganz wesentlicher Musik erscheint, so als habe diese Musik tatsächlich das Ziel, irgendeine musikalische Klassik wieder aufleben zu lassen, was doch in den meisten Fällen einfach nur Unsinn ist.



Gruß Martin


[Beitrag von Martin2 am 09. Nov 2009, 23:29 bearbeitet]
WolfgangZ
Inventar
#4 erstellt: 10. Nov 2009, 01:05

Martin2 schrieb:
Ich finde zum Beispiel Schostakowitsch überhaupt nicht klassizistisch, sondern eher als expressive Ausdrucksmusik, oder Prokoview, Bartok und Hindemith und viele andere, wo ein Begriff "Neoklassizismus" überhaupt nicht paßt.
Gruß Martin


Das sehe ich bei Schostakowitsch absolut genauso, auch bezüglich des Begriffs "expressiv". Eher kann ich das Adjektiv "neoklassizistisch" beim mittleren Hindemith oder bei Bartoks Spätwerk akzeptieren, und zwar wegen der bewussten Zurücknahme jeglicher Aggressivität zugunsten einer gewissen Milde und Formstrenge, bisweilen auch Ironie ("Heut geh ich ins Maxim"-Zitat im "Konzert für Orchester").

Gruß, Wolfgang
op111
Moderator
#5 erstellt: 10. Nov 2009, 09:28
Hallo zusammen,

WolfgangZ schrieb:
bisweilen auch Ironie ("Heut geh ich ins Maxim"-Zitat im "Konzert für Orchester").


nur nebenbei, das Lehar-Original kannte Bartok angeblich nicht, lediglich das Zitat in einem von Schostakowitsch' Werken, 7. Sinfonie?
Er hielt die Melodie für genuinen Schostakowitsch.
Kreisler_jun.
Inventar
#6 erstellt: 10. Nov 2009, 10:06
Als Beginn nennt man oft Strawinskys "L'histoire du soldat".
Hier findet sich zwar kaum eine direkte (außer vielleicht bei den Chorälen) Anleihe bei älterer Musik, aber eben eine völlige Abkehr sowohl von Spätromantik als auch vom Expressionsmus oder dem "Barbaro"-Stil des Le Sacre. Es gibt dann eine ganze Menge Werke der 1920er und 1930er Jahre, auf die die Bezeichnung ziemlich gut paßt. Wenn Anleihen gemacht werden, ist es häufiger eher "Neo-Barock". Prokofieffs "Classique" ist da eher eine Ausnahme. Allerdings könnte man Strawinskys Sinfonie in drei Sätzen dann als eine Art "Neo-Beethoven" oder gar Bruckner sehen. Die klassizistischen Züge sind jedenfalls unverkennbar. Und ebenso bei Hindemiths "Mathis-Sinfonie", Sinf. Metamorphosen usw.

Schostakowitsch ist gewiß kein so einfacher Fall. Aber Werke wie das Konzert f. Klavier u. Trompete, die 9. Sinfonie passen schon recht gut. Oder in gewisser Weise auch eine "traditionelle große" Sinfonie wie Nr. 5 (Analog zur Malerei verwendet man ja auch "sozialistischen Realismus" für etliche Künstler der Sowjetunion.)
Bei Bartok sind es eher Aspekte, der Personalstil ist m.E. ziemlich unverkennbar. Aber verglichen mit Werken wie dem Wunderbaren Mandarin oder dem 1. Klavierkonzert sind das Konzert für Orchester oder das 3. Klav.Konzert schon klassizistisch im Sinne von gemäßigt, sehr klar strukturiert usw.

Angesichts der Tatsache, daß man 100 Jahre von Schubert bis Strauss "Romantik" nennt, finde ich "neoklassizistisch", besonders wenn man es als stilistisches Element, nicht als kompletten Stil sieht, ziemlich präzise und hilfreich.

JK jr.
WolfgangZ
Inventar
#7 erstellt: 10. Nov 2009, 20:46

op111 schrieb:
Hallo zusammen,

WolfgangZ schrieb:
bisweilen auch Ironie ("Heut geh ich ins Maxim"-Zitat im "Konzert für Orchester").


nur nebenbei, das Lehar-Original kannte Bartok angeblich nicht, lediglich das Zitat in einem von Schostakowitsch' Werken, 7. Sinfonie?
Er hielt die Melodie für genuinen Schostakowitsch. :)


Richtig! Es war Schostakowitsch, der sich im Kopfsatz der "Leningrader" in dem sich steigernden Gewaltmarsch des Lehar-Zitates bedient. Bei Bartok klingt es nur, ich glaube zweimal, kurz an. Wer was zuerst entdeckt, ist mir noch nicht ganz klar geworden - müsste ich mal zu eruieren versuchen. Aber wahrscheinlich hast Du Recht, Franz.

Wolfgang
WolfgangZ
Inventar
#8 erstellt: 10. Nov 2009, 20:50

Kreisler_jun. schrieb:
Angesichts der Tatsache, daß man 100 Jahre von Schubert bis Strauss "Romantik" nennt, finde ich "neoklassizistisch", besonders wenn man es als stilistisches Element, nicht als kompletten Stil sieht, ziemlich präzise und hilfreich.
JK jr.


Zwei Argumente, die mich überzeugen!

Wolfgang
op111
Moderator
#9 erstellt: 11. Nov 2009, 10:22
Hallo zusammen,

zu Bartok:
die Information zu Bartoks-Lehar-Zitat habe ich aus einer Rundfunksendung des WDR über das Konzert f. O. in dem Antal Dorati zitiert wurde und aus Gojowys Rororo Monografie (ca. 1985), die auch erwähnt, Bartok habe die 7. in New York bei der Arbeit am Konzert gehört.

zur Neoklassik:
nach Kreisler_jun.' auch mich überzeugender Darstellung, können wir also noch einige Jahre mit neoklassizistischen Werken rechnen.
Martin2
Inventar
#10 erstellt: 11. Nov 2009, 22:09
Ist Schostakowitschs 9. so unbedingt neoklassizistisch? Seiner Autobiographie nach zu urteilen, war das eher der Versuch, die große bombastische "Siegessinfonie", die man nach dem zweiten Weltkrieg von ihm erwartet hatte, gerade eben nicht zu schreiben. Auf mich wirkt sie deshalb auch eher sarkastisch, als klassizistisches Ebenmaß widerzuspiegeln.
Kreisler_jun.
Inventar
#11 erstellt: 12. Nov 2009, 09:18

Martin2 schrieb:
Ist Schostakowitschs 9. so unbedingt neoklassizistisch? Seiner Autobiographie nach zu urteilen, war das eher der Versuch, die große bombastische "Siegessinfonie", die man nach dem zweiten Weltkrieg von ihm erwartet hatte, gerade eben nicht zu schreiben. Auf mich wirkt sie deshalb auch eher sarkastisch, als klassizistisches Ebenmaß widerzuspiegeln.


Eine ironisch-distanzierte Haltung ist m.E. gerade beim "klassischen Neoklassizismus" der 1920er Jahre ein nicht unwichtiges Element. Und es soll "klassisches Ebenmaß" auch nicht einfach kopiert werden. Auch bei Strawinsky in Pulcinella oder dem Violinkonzert sind ja die Zitate oder pseudobarocken Passagen mit "falschen Noten" gespickt. Niemand würde die Stücke wirklich für echte Barockmusik halten.

Aber sicher ist die Situation 30 Jahre später im speziellen Kontext der Verweigerung, die "NEUNTE" zu schreiben, etwas anders. Dennoch sind die musikalischen Mittel nicht unähnlich. Und meines Wissens bezeichnet auch niemand Schostakowitsch durchwegs als "Neoklassizisten".

JK jr.
Martin2
Inventar
#12 erstellt: 12. Nov 2009, 09:50

Kreisler_jun. schrieb:
Und meines Wissens bezeichnet auch niemand Schostakowitsch durchwegs als "Neoklassizisten".

JK jr.


Als was würdest Du denn Schostakowitsch oder Prokoview und Bartok und manche andere bezeichnen, wenn Du sie denn unbedingt in eine Schublade stecken müßtest? Ich denke, die Sache mit den Schubladen ist das Problem. Atonale Musik, Zwölftonmusik, Serielle Musik, Minimalmusik usw. sind Schubladen, in die man Komponisten stecken kann. Oder dann auch Spätromantik für die, die ein konservativeres Idiom pflegen. Und wer dann in keine dieser Schubladen paßt, der wird glaube ich schnell in die Schublade Neoklassizismus gesteckt, vielleicht auch nur, um ausdrücken zu können, daß es eben keine atonale usw. Musik ist. Aber vielleicht ist dies auch nur mein Eindruck und vielleicht gebrauchen auch nur die den Ausdruck Neoklassizismus inflationär, die sich vielleicht wirklich nicht gut auskennen.


Gruß Martin
Kreisler_jun.
Inventar
#13 erstellt: 12. Nov 2009, 10:43

Martin2 schrieb:

Kreisler_jun. schrieb:
Und meines Wissens bezeichnet auch niemand Schostakowitsch durchwegs als "Neoklassizisten".


Als was würdest Du denn Schostakowitsch oder Prokoview und Bartok und manche andere bezeichnen, wenn Du sie denn unbedingt in eine Schublade stecken müßtest? Ich denke, die Sache mit den Schubladen ist das Problem. Atonale Musik, Zwölftonmusik, Serielle Musik, Minimalmusik usw. sind Schubladen, in die man Komponisten stecken kann. Oder dann auch Spätromantik für die, die ein konservativeres Idiom pflegen. Und wer dann in keine dieser Schubladen paßt, der wird glaube ich schnell in die Schublade Neoklassizismus gesteckt, vielleicht auch nur, um ausdrücken zu können, daß es eben keine atonale usw. Musik ist. Aber vielleicht ist dies auch nur mein Eindruck und vielleicht gebrauchen auch nur die den Ausdruck Neoklassizismus inflationär, die sich vielleicht wirklich nicht gut auskennen.


Bei Strawinsky ist es ja ein wenig wie bei Picasso: Es gibt eine Reihe von recht unterschiedlichen Perioden, die ziemlich genau abgrenzbar sind. Da im 20. Jhd. die stilistische Vielfalt insgesamt zugenommen hat, gilt das in ähnlicher Form ja auch für andere Komponisten. Schönberg beginnt als "Spätestromantiker" oder romantischer Expressionist oder was immer, dann kommt die frei-atonale, dann die 12tönige Phase. Hindemith beginnt als "zorniger junger Mann", sehr wild, mit Jazz-Einflüssen, später wirkt er eher konservativ-klassizistisch. Ich will aber auch nicht behaupten, hier ein Experte zu sein, dazu kenne ich, etwa von Hindemith nicht genug.
Dennoch ist natürlich meistens ein Individualstil zu erkennen.
Bartok würde ich nicht als Neoklassizisten bezeichnen. Seine frühen Werke kenne ich zu wenig. Meinem Eindruck nach gibt es bei ihm aber immer einen Strang, der an die Tradition Bach-Beethoven-Brahms anknüpft, ohne "neo" zu sein, im 1. Streichquartett z.B. deutlich. Zwischendurch findet man zwar sehr "wilde" Werke wie die Ballette, aber sie scheinen mir nie solch eine Abkehr von der genannten Tradition zu verkörpern, wie Strawinskys Le Sacre u.ä.

Prokofieff vielleicht schon eher, aber auch das ist nicht sehr hilfreich. Auch er beginnt in einer russischen Spätromantik, dann gibt es eine Episode im "barbaro"-Stil (Skythische Suite), expressionistische Züge, dann ziemlich deutlich neoklassizistische Werke oder eben eine Mischung aus alledem und schließlich "sozialistischen Realismus" (was immer genau das in der Musik sein soll).

Ich glaube, man kommt bei älterer Musik mit den Schubladen nur hin, weil man zum einen nicht so genau hinschaut, zum anderen es weniger stilistische Vielfalt gegeben hat. Generalbaß etc. vereint im Barock eben ziemlich unterschiedliche regionale und personale Stile über fast 150 Jahre hinweg.

JK jr.
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