Zweitklassig?

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 23. Mrz 2005, 14:59
Überall wo wir bewerten, klassifizieren wir auch. Darüber zu streiten, macht ja sicher den Reiz an der Diskussion aus.

Klassifizierungen gibt es in verschiedenster Form: Erstklassig oder zweitklassig, sehr gut oder gut, klein oder groß. Ohne Klassifizierungen kommen wir gar nicht aus, wenn wir Dinge bewerten wollen.

Hier beginnt nun für mich das Problem, weil die Strenge, mit der wir klassifizieren, überhaupt nicht festgelegt ist.

Vielleicht sollte man sich deshalb zum Beispiel es sich ganz sparen, mit Begriffen wie "zweitklassig" zu arbeiten. Obwohl er, wenn ich ihn benutze, durchaus nicht negativ gemeint ist, hat er den Beigeschmack von etwas Abfälligem. Wenn ich von einem guten Orchester, Interpreten, Komponisten spreche ( und eben nicht von einem sehr guten) hat das eine viel weniger provozierende Wirkung, als wenn ich von etwas "zweitklassigem" rede, obwohl es vielleicht gar nichts anderes meint.

Mit der Erstklassigkeit, Zweitklassigkeit, Drittklassigkeit ist das sowieso so eine Sache. Diese Begrifflichkeit ist nach oben offen. So kann man einen Interpreten locker als zehntklassig bezeichnen. Das sagt im Grunde auch nichts anderes als fünftklassig. Entscheidend ist nur das Element der Deklassierung. Und die kann schon provozierend sein, wenn ich etwas als zweitklassig bezeichne.

Umgekehrt aber, wenn ich zum Beispiel von einem guten Komponisten oder Stück rede, ist es meinem Gegenüber vielleicht gar nicht deutlich, daß meine Kennzeichnung eine Deklassierung enthält ( sonst hätte ich erstklassig, ausgezeichnet, sehr gut gesagt).

Das Problem liegt nun darin, daß es immer alle Möglichkeiten der Fehlinterpretation gibt. Da liest jemand irgendwo, daß Schumann und Mendelssohn nicht zu den "ganz großen" gehören und er nimmt das als Euphemismus dafür, daß man sich die Beschäftigung mit diesen Komponisten eigentlich sparen kann. Oder er beschäftigt sich mit zweitklassiger Musik, weil er irgendwo gelesen hat, daß sie großartig wäre.

Denn das ist eben das Problem: Wenn ich jemanden für Musik begeistern will, dann muß ich im Grunde genommen dafür trommeln. Was aber bei dieser ganzen Trommelei heraus kommt, ist, daß Leute das Gefühl bekommen, daß sie zu den wirklichen Perlen der Musik gar nicht kommen können, weil alles großartig, erstklassig und wunderbar sein soll.

Und schließlich gibt es in der Musik noch das Problem "besonderer Qualitäten". Also meinetwegen die Musik von George Gershwin hat besondere Qualitäten. Sicher ist Gershwin nicht Beethoven, aber diese Deklassierung macht überhaupt keinen Sinn. Maurice Ravel hat George Gershwin als Kompositionsschüler mit den Worten abgewiesen: "Wozu wollen sie ein zweitklassiger Ravel sein, wenn sie ein erstklassiger George Gershwin sein können."

Gruß Martin
Hüb'
Moderator
#2 erstellt: 23. Mrz 2005, 16:17
Hallo Martin!

Ist ja fast ein philosophisches Thema, in das Du da einsteigst.
Unterschiedliche Qualitäten im Rahmen der Musik sind nur schwer in Worte zu fassen. Hinzu kommt die subjektive Sicht des Beurteilenden, der beispielsweise Mozart lieber hört, als z. B. Brahms. Daher wird man sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner einigen können, was nun "gut" oder "schlecht" ist (von Abstufungen dazwischen gar nicht zu reden).
Wie kann man nun Zweitklassigkeit definieren? Zunächst einmal müsste man darüber reden, WER (mit welchem Wissen und Vorerfahrungen) etwas als zweitklassig einstuft und welche Kriterien zur Beurteilung angelegt werden sollen.

Alles nicht so einfach.
Eine (Teil-)Objektivierung von Musik *an sich* (also nicht der Interpretation), auf die Dein Wunsch nach Klassifizierung letztendlich hinausläuft, dürfte kaum möglich sein.

Nur meine Meinung .

Viele Grüße,

Frank
Tommy_Angel
Inventar
#3 erstellt: 23. Mrz 2005, 20:54
irgendwie hats schon was mit zu tun, mit "wasch mich, aber mach mich nit nass"

Wie schon an anderer Stelle erwähnt, ich maße mir nicht an, Musik als "zweitklassig" zu bezeichnen, nur weil sie mir nicht gefällt oder ich sie nicht verstehe. Brahms bsp. habe ich bis heute kaum verstanden (höre aber grade alte Aufnahmen mit Bruno Walter, vielleicht schafft er es, ihn mir zu erklären).

Aber, hier haben wir wieder das Problem, daß es eben unterschiedliche Ausgangsebenen gibt. Die weiter Fortgeschrittenen können das offenbar, "schlechte" Musik von "Guter" unterscheiden.

Nix für ungut


[Beitrag von Tommy_Angel am 24. Mrz 2005, 12:05 bearbeitet]
AcomA
Stammgast
#4 erstellt: 23. Mrz 2005, 21:15
hallo,

ich erinnere mich, dass wir einen ähnlichen thread hatten, etwa 'gibt es objektive bewertungskriterien für gute musik'.

gruß, siamak
Hüb'
Moderator
#5 erstellt: 23. Mrz 2005, 21:20
Zur Erinnerung: hier ist er.
http://www.hifi-foru...rum_id=68&thread=831
Grüße,

Frank


[Beitrag von Hüb' am 23. Mrz 2005, 21:21 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#6 erstellt: 24. Mrz 2005, 15:16
[/url]="Tommy_Angel"]Wie schon an anderer Stelle erwähnt, ich maße mir nicht an, Musik als "zweitklassig" zu bezeichnen, nur weil sie mir nicht gefällt oder ich sie nicht verstehe.

Aber, hier haben wir wieder das Problem, daß es eben unterschiedliche Ausgangsebenen gibt. Die weiter Fortgeschrittenen können das offenbar, "schlechte" Musik von "Guter" unterscheiden.

Nix für ungut :*[/quote]
[url]
Lieber Tommy,

nun gut, zunächst mal sind wir ja, was die Musik betrifft, auch alle beeinflußt von dem, was uns Konzertführer und Musikbücher sagen.

Aber daß ich ein kleines bißchen gute von schlechter Musik unterscheiden kann, nehme ich schon für mich in Anspruch. Unfehlbarkeit natürlich nicht und ich mag auch mal völlig danebenliegen.

Das macht doch den Reiz der Diskussion aus. Wären wir ein Club der musikalischen Analphabeten, wäre die Diskussion genauso reizlos, wie wenn wir ein Club der Unfehlbaren wären. In beiden Fällen könnten wir uns die Diskussion um Musik sparen. Im Falle der Unfehlbarkeit wäre nur der Informationsaustausch noch interessant.

Und Urteile fällt hier jeder, wie auch Du etwa vor kurzem in Bezug auf Mozart.

Im übrigen, daß Du Dir nicht anmaßt, Musik als zweitklassig zu beurteilen, sehe ich auch als Problem an. Als erstklassig schon? Positive Fehlurteile finde ich genauso fatal wie negative. Und nicht jede Musik, die eine gewisse Substanz und Inspiration aufweist, ja die sogar einen Hauch des Genialen haben mag, ist deshalb schon gleich erstklassig und kann sich mit dem größten messen.

Gruß Martin
Tommy_Angel
Inventar
#7 erstellt: 24. Mrz 2005, 16:01
aha...
Martin2
Inventar
#8 erstellt: 24. Mrz 2005, 22:45
ach so ...
Tommy_Angel
Inventar
#9 erstellt: 25. Mrz 2005, 19:49
Martin2
Inventar
#10 erstellt: 26. Mrz 2005, 14:07
Hüb'
Moderator
#11 erstellt: 27. Mrz 2005, 09:31
@Tommy + Martin:

Entweder ihr schreibt hier noch was vernünftiges, oder ich mache das Thema zu.




Mit osterlichen Grüßen,

Frank
Tommy_Angel
Inventar
#12 erstellt: 27. Mrz 2005, 22:45
so ist Hüb...immer streng...gegen annere
Hüb'
Moderator
#13 erstellt: 28. Mrz 2005, 08:36

Tommy_Angel schrieb:
so ist Hüb...immer streng...gegen annere ;)


?

Glaube nicht, dass ich mich in der Funktion des Moderators häufig einmische.


[Beitrag von Hüb' am 28. Mrz 2005, 08:37 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#14 erstellt: 28. Mrz 2005, 15:09
Lieber Frank,

bleiben wir mal off-topic. Daß es überhaupt eine Moderation gibt, finde ich zunächst mal sehr gut. Siehe auch meinen Thread über englischsprachige Musikforen. Du findest im unmoderierten Googleforum sehr interessante Beiträge und Theads. Aber das Forum ist durch bestimmte Trolle versaut.

Also etwa durch einen gewissen Typen ( wie ich schon schrieb) , der wohl schon 20.000 Threads über Chreryl Studer eröffnet hat ( vermutlich macht er den ganzen Tag nichts anderes, als Threads über Cheryl Studer zu eröffnen). Das ganze Forum ist davon zugemüllt, du findest fast schon nichts anderes mehr. Und am Ende bleiben die interessanten Diskussionen aus, weil gewisse Leute die Lust verlieren.

Das ist jedenfalls hier nicht möglich und das ist auch gut so.

Aber nimms mit nicht übel, Frank, manchmal wird mir hier auch zuvíel moderiert. Dieser Thread hier wäre vermutlich in Schönheit gestorben. Oder aber es hätte sich bei diesem Thema wirklich noch mal jemand angesprochen gefühlt und dann hätte sich daraus vielleicht doch noch mal eine interessante Diskussion entwickelt. Also hielte ich es für überflüssig ihn zu schließen.

Auch wenn meine und Tommys Beiträge hier zuletzt ein wenig minimalistisch waren ( aber meinen Smiley zu setzen empfand ich als durchaus notwendig!), das ist hier doch eher die Ausnahme als die Regel. Und meine Beiträge sind doch meist das Gegenteil vom Minimalismus. Minimalismus muß im übrigen nicht immer schlecht sein, da gibt es ja sogar eine ganze Musikrichtung der klassischen Musik, die einen solchen Minimalismus betreibt.

Aber wenn es hier mal tatsächlich ausgesprochene Fehlentwicklungen in diesem Forum geben sollte, dann soll die Moderation auch kräftig gegensteuern. Das würde ich nur begrüßen.

Solche Fehlentwicklungen sehe ich hier aber nicht. Hier könnte sogar für meinen Geschmack "mehr los" sein, also empfinde ich hier fast jeden Beitrag als Bereicherung.

Gruß Martin
Hüb'
Moderator
#15 erstellt: 28. Mrz 2005, 18:59
Himmel Martin...

Das Thema bleibt natürlich offen, in der Hoffnung, dass vielleicht noch *richtige* Beiträge kommen.

Ich denke, dass ich mich recht selten "einmischen tu". Das war auch schon mal restriktiver, hier im Forum...
WolfgangZ
Inventar
#16 erstellt: 09. Okt 2005, 09:35
Hallo, Martin und andere Interessierte!

Ich habe diesen Faden soeben entdeckt und möchte mich kurz aus der Sicht des Werksammlers - nicht des Sammlers verschiedener Aufnahmen ein und desselben ("erstklassigen") Werks - dazu äußern.

Ich muss aber auch zugeben, dass ich durch die teilweise erstaunlich kenntnisreichen Beiträge letztgenannter Sammlertypen im vorliegenden Forum (der obige Moderator gehört gewiss dazu) jetzt zunehmend dazu tendiere, mir etwa auch noch eine zweite Serie der Vaughan-Williams-Sinfonien zuzulegen.

Es sind wohl zwei anscheinend (oder doch scheinbar) unvereinbare Kriterien: Das Moment stilistischer Unverwechselbarkeit dürfte den Hauptreiz musikalischer Erstrangigkeit ausmachen. Es ist für mich immer besonders befriedigend, einen Bohuslav Martinu sofort zu erkennen. Ich möchte weiterhin behaupten, dass Musik wegen der wachsenden Vielfalt verfügbarer Mittel - bis hin zur Postmoderne, die genau dies zum Programm erhebt - immer unverwechselbarer wird, je moderner sie wird, vorausgesetzt selbstverständlich, der Komponist ist eben "erstklassig".

Von daher kann ich viele erstrangige Barockmusik nicht wirklich differenzieren, sehe sie auch im Radio zunehmend als gefällige Hintergrundsmusik herabgewürdigt - und setze mich damit wohl der bösen Kritik echter Kenner aus.
Dies gilt natürlich nicht für Bach, Händel ... und manche andere.

Aber und jetzt kommt die andere Seite des Paradoxons: Könnte man nicht auch sagen, dass das Unverwechselbare ein- und desselben Komponisten zum Selbstplagiat führen kann, selbst wenn der Genuss des Wiedererkennes bleibt, so vielleicht oben bei Martinu?

Dann wäre Beethoven verglichen mit Mozart der Bedeutendere, was ich eigentlich gar nicht so sehe, Strawinsky, dessen Musik sich das ganze 20. Jahrhundert angeeignet hat (und trotzdem fast immer erkennbar bleibt) weitaus wichtiger als der Vielschreiber Martinu, was ich gewiss so sehe.

Fazit: Eigentlich höre ich dies alles gleich gerne, bin halt doch Sammler. Und wenn ich bei unbekannten romantischen Klavierkonzerten auch weiß, was mich erwartet, so interessiert mich eben doch dieser Sammlerwert, dieser ästhetische Reiz und eventuell, worin (und wohin) genau das Eklektische besteht (und geht).

Noch interessiert mich das mehr, als fünfmal Schumanns Klavierkonzert vergleichen zu können.

Beste Grüße, Wolfgang
Martin2
Inventar
#17 erstellt: 09. Okt 2005, 11:29
Lieber Wolfgang,

also ich bin neuem auch unbedingt aufgeschlossen. Als Sammler würde ich mich trotzdem nicht bezeichnen. Ich finde es schön, immer wieder neue Musik zu entdecken. Neulich zum Beispiel habe ich Korngolds Violinkonzert im Radio gehört. Hat mir sehr gut gefallen. Ist vielleicht nicht absolut erstklassig, aber doch sehr schöne Musik. Gestern habe ich mir das "berühmte" Violinkonzert von Bruch mitgeschnitten ( dessen Berühmtheit in den letzten Jahrzehnten glaube ich sehr nachgelassen hat) und ich bin doch mal gespannt darauf.

Sammelleidenschaft macht meines Erachtens nur Sinn, wenn man ein ganz besonderes Faible für ein ganz besonderes Genre einer ganz besonderen Zeit hat. Also wenn Du etwa romantische Klavierkonzerte liebst, dann wird es Dich vielleicht schon interessieren, was es da außer den 5, 6 großen Namen gibt. Aber wenn Deine Interessen weit gespannt sind, macht das wenig Sinn. Allerhöchstens taucht die Frage auf: Was gibt es außer den ganz bekannten Sachen noch für andere Musik, die vielleicht nicht ganz erstklassig sind, die aber trotzdem unbedingt hörenswert sind. Dazu würde ich das Korngoldkonzert trotz einiger Schwächen doch schon zählen ( um nur ein Beispiel zu nennen).

Gruß Martin
myron
Ist häufiger hier
#18 erstellt: 09. Okt 2005, 16:57
Ähem,jetzt würde mich mal interessiern,welche Schwächen denn das Korngold-Konzert hat.Weshalb ist es nicht erstklassig?Ich frage nur,weil ich es absolut erstklassig finde-die objektive Beurteilung von Musik ist halt so eine Sache.Gerade bei Korngold gehen die Meinungen ja sehr auseinander,es gibt Situationen,da wird man regelrecht beschimpft,wenn man sich als Liebhaber seiner Musik zu erkennen gibt.
Gruß
Michael
Martin2
Inventar
#19 erstellt: 09. Okt 2005, 19:04
Hallo Michael,

ja ich wollte das Korngoldkonzert doch auch überhaupt nicht runtermachen. Sieh mal, das sind eben genau die Mißverständnisse, die immer entstehen. Ich fands toll, wobei sich mir der mittlere Satz eben doch noch nicht so recht erschlossen, bzw. vielleicht ist der auch gar nicht so stark.

Ein absolut tolles Konzert, vor allem im ersten und letzten Satz. Aber eben vielleicht doch nicht, zumal in allen Passagen, eine Musik allerersten Ranges. Also an Beethoven und Brahms reicht es nun mal nicht ran.

Und das ist genau das Problem. Man sollte mit dem Prädikat "erstklassig" wirklich wählerisch sein. Und das bin ich nun mal. Zum Beispiel habe ich hier die Komponisten Hanson und Hartmann als nicht erstklassig bezeichnet, obwohl ich sie schätze.

Übrigens habe ich den Bruch mir heute auch mal angehört. Also warum dieses Violinkonzert mal soo berühmt war und gleich nach Beethoven und Brahms genannt wurde, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Ich fands ganz nett, ausgezeichniet gemacht, aber bar jeder wirklichen Originalität. Da fand ich den Korngold schon viel besser. Kann ich sehr empfehlen, dieses Konzert, da sind wir uns doch hoffentlich einig.

Aber wenn jetzt ein junger Mensch oder Klassikeinsteiger käme und fragte, was für tolle Violinkonzerte gibt es, dann wäre meine Antwort klar: Erstmal Beethoven, dann Brahms, dann Sibelius, dann Mozart, Bach, Mendelsson, Tschaikovsky, sehr gut sind Elgar und Schostakowitsch, obwohl sie vielleicht ihre Längen haben. Ja und wenn er das dann alles kennt, kann er sich den Korngold gerne mal anhören, die Musik ist wirklich recht originell und gar nicht mal schlecht. Aber das Violinkonzert von Nielsen zum Beispiel kenne ich noch nicht mal, Prokovjev nur sehr flüchtig.

Mein Wunsch etwa wäre, das Klassikeinsteiger, die hier mitlesen, da auch etwas mitnehmen können. Und da ist es eben meine Befürchtung, daß hier sehr erfahrene Klassikliebhaber schreiben, die sich sehr freuen, etwas neues entdeckt zu haben, was wirklich gut ist, und die sich dann, weil sie sich über ihre Neuentdeckung so freuen, die Dinge höher hängen, als sie gehängt werden sollten. Vielleicht auch aus der Befürchtung, daß, wenn ich etwas nicht über den grünen Klee lobe, dann geht meine Empfehlung unter.

Also der Korngold ist klasse, aber wirklich ganz erstklassig und in allen Teilen genial?

Herzliche Grüße
Martin
weiß_nix
Schaut ab und zu mal vorbei
#20 erstellt: 11. Okt 2005, 09:17
Ich habe zu dem Thema beim Lesen auch einmal meine Gedanken schweifen lassen. Erstklassige Musik(?), ich denke das sind Werke, zu deren Bedeutung/Wertigkeit ein breiter Konsens herrscht. Es gibt für mich (also rein subjetkiv) allerdings einige dieser Werke, zu denen ich bisher keinen Zugang finden konnte. So geht es mir mit Bruckner und Dvorcak Sinfonien. In meinen Ohren klingt das einfallslos und oberflächlich. Ich kann es mir jetzt einfach machen und die Werke als zweit- oder drittklassig bezeichnen oder gleich den Komponisten als weniger bedeutend abtun. In Wirklichkeit fehlt mir aber das innere Ohr und/oder die Hörerfahrung, diese Werke zu verinnerlichen. Ich werde es also nicht mit der Holzkeule tun und die Dinger immer wieder hören bis es mir entweder gefällt oder der Arzt kommt..., sondern irgend wann fällt vielleicht der Groschen und mir gefällt auch Bruckner oder er fällt nicht.

Es gibt aber auch Werke, über die herrscht Konsens, dass ihnen musikalischer Tiefgang fehlt, z.Bsp. Paganini. Technisch ist das teuflisch schwierig, aber musikalisch fast schon dümmlich. Da bin ich mir in meinem Urteil ziemlich sicher, was mir allerdings leicht fällt, da es durch andere bestätigt wird.

Der umgekehrte Fall, und jetzt sprechen wir von ungeheuer vielen Werken, sind die Kompostitionen und Komponisten, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht den Durchbruch in die breite Öffentlichkeit gefunden haben. Vieuxtemp, Scriabin, Schnittke, Faure etc. Das ist für die Hörer, die das allgemeine Repertoire kennen und auch mögen, ein nicht endender Schatz an immer wieder neuen Erfahrungen. Hier gibt es vieles Bedeutendes, sehr Gutes, das unter die Haut geht und für mich (auch andere) längst schon den Stellenwert hat wie die etablierten Werke. Welcher Rang diesen Werken zukommt ist eine Mischung aus Konvention und eigener Erfahrung, da sollte sich aber niemand allzu sehr in die Irre führen lassen. Dazu noch ein Zitat, in Schumanns Konzertführer steht zum "Sacre du Printemps": "Für eine konzertante Aufführung nicht geeignet."
Tommy_Angel
Inventar
#21 erstellt: 11. Okt 2005, 10:17
Jetzt muß ich doch mal !

Weiter oben schrieb ich, daß es schlechte und gute, erstklasige und zweitklssige Musik m. E. nicht gibt, das sind jeweils subjective Empfindungen! Vielleicht kann man sich noch über "einfach" und "kompliziert" unterhalten, aber letztlich bleibt es doch Geschmackssache. Und selbst scheinbar "einfache" Musik kann genial sein, bsp. der Bolero, der nur aus Wiederholunge besteht!

Ich widerspreche also erneut Martins Einschätzung, irgendjemand könne gut von schlechter Musik unterscheiden!

(Martin, bitte keine smilies setzen, sonst werden wir wieder verwarnt!).
Hüb'
Moderator
#22 erstellt: 11. Okt 2005, 13:10

Tommy_Angel schrieb:
(Martin, bitte keine smilies setzen, sonst werden wir wieder verwarnt!).

Martin2
Inventar
#23 erstellt: 11. Okt 2005, 20:05
Lieber Tommy,

also Deinen völligen Relativismus kann ich doch nicht so recht nachvollziehen. Übrigens könntest Du ihn ja nicht nur auf Musik sondern auch auf musikalische Interpretation ausdehnen. Wenn wir dann so weit wären, könnten wir dieses schöne Forum eigentlich dicht machen. Denn worüber sollten wir uns dann noch unterhalten?

Natürlich ist die Frage nach dem Wert eines Kunstwerkes eine Frage, die nicht so leicht zu beantworten ist, wie die nach dem Kaloriengehalt von Bratkartoffeln, aber sie ist doch nicht nur berechtigt sondern auch nötig. Und natürlich bin ich überhaupt kein Anhänger absoluter Werte. Wo sollen die sein? In irgendeinem idealistischen Wertehimmel, wo der Wert jeder ästhetischen Äußerung verzeichnet ist? Der Kaloriengehalt von Bratkartoffeln läßt sich halt messen, die Wertigkeit ästhetischer Äußerungen nicht. Aber zwingt uns das zum entfesselten Relativismus? Meines Erachtens nicht.

Nimms mir nicht übel, aber es gibt einfach einen Punkt, wo der vollkommene ästhetische Relativismus schlicht albern wird. Es gibt so gute Sachen und so schlechte, daß den Relativismus an diesem Punkt aufrechtzuerhalten einfach lächerlich ist.

Ich bin vielleicht kein Bildungsbürger im engeren Sinne, und das Bildungsbürgertum hat mit seinen Werturteilen oft auch schief gelegen, aber irgendwie ist mir der bildungsbürgerliche Standpunkt doch sehr sympathisch, wenn er von den Großen, vom Genialen, von der erhabenen Kunst redet.

Ich glaube auch nicht, daß der Geschmack subjektiv ist. Er ist ganz sicher darin subjektiv, daß in der Kunst der Mensch das Maß aller Dinge ist, aber er ist doch nicht so subjektiv, daß man sich darüber nicht verständigen könnte. Krasse Fehleinschätzungen, die oft auch zeitlich bedingt sind, ändern an dieser Tatsache gar nichts.

Und irgendwie steht hinter dem absoluten Relativismus des vollkommen subjektiven Geschmacks auch die Idee der Gleichmacherei. Es soll eben nicht mehr erlaubt sein, zwischen einem erlesenen und guten und einem trivialen und schlechten Geschmack zu unterscheiden. Ich mag nun Gleichmacherei überhaupt nicht, aber sie hat wie andere, vermeintlich progressive Ideen die Eigenart, nur auf dem Papier zu stehen. Mach Dir doch nichts vor, selbst wenn Dir Menschen im Zuge allgemeiner Menschenliebe und Toleranz begegnen und vielleicht sogar selber an diese Idee glauben, daß sie dann doch bei sich denken: Mein Gott, was hat der eigentlich für einen lausigen musikalischen Geschmack. In der Literatur und Malerei ist es ja genauso.

Und noch zugespitzter: Der Relativismus in der Kunst ist die Aufforderung an jedermann, sich nach Belieben lächerlich zu machen. Er ist eine humane Idee, weil sie jeden Geschmack gleich behandelt, mit inhumanen Auswirkungen, weil das einfach Unsinn ist. Da ist es doch humaner, weniger relativ zu denken. Auch wenn dies vielleicht dazu führt, daß so mancher ästhetische Werturteile bloß nachplappert, die er irgendwo aufgeschnappt hat, bloß stellt er sich auf diese Weise jedenfalls nicht, wenn er dagegen die Dürftigkeit seines "subjektiven Geschmacks" zum besten gibt, kann er sich sehr wohl bloß stellen. Aber vielleicht ist ihm das ja auch egal.

Gruß Martin
Tommy_Angel
Inventar
#24 erstellt: 12. Okt 2005, 10:44
Präambel:

Zunächst möchte ich klarstellen, daß ich keinen Streit suche, sondern lediglich Diskussionen über ineteressante Themen , bis hin zur Funktion eines "advocatus diaboli".

Hauptteil:

"Übrigens könntest Du ihn ja nicht nur auf Musik sondern auch auf musikalische Interpretation ausdehnen"

exakt!

"und das Bildungsbürgertum hat mit seinen Werturteilen oft auch schief gelegen"

exakt

"Ich glaube auch nicht, daß der Geschmack subjektiv ist"

er ist es NUR!

Schlu0:

den letzten Absatz habe ich schlichtweg nicht verstanden!


Gruß

Thomas
Kreisler_jun.
Inventar
#25 erstellt: 12. Okt 2005, 13:26
Relativismus ist letzlich eine selbstwidersprüchliche Position. Den man beansprucht ja objektive Geltung für die Behauptung alles sei "nur subjektiv".
Ästhetik und Geschmacksurteile sind zugegebenermaßen ein schwieriges Feld, aber dennoch ist allein vom Sprachgebrauch klar, dass wir Unterschiedliches meinen, wenn wir sagen "Das ist schön" oder "das gefällt mir". Wir streiten nicht darüber, welche Badewassertemperatur die Angenehmste sei, denn das ist tatsächlich subjektiv (in Grenzen, denn für keinen gesunden Menschen sind 2° oder 72° C angenehm), vielleicht im Scherz ob Spinat schmeckt oder nicht, aber wir diskutieren ernsthaft über die ästhetischen Qualitäten von Beethovens 9. Sinfonie (z.b. ob das Chorfinale was taugt oder nicht).
Irgendwann gab es doch mal einen thrad hier, in dem sogar länger Abschnitte aus Kants Kritik d. Urteilskraft zitiert wurden, lohnt sicher das Nachlesen.

viele Grüße

JK jr.
Tommy_Angel
Inventar
#26 erstellt: 12. Okt 2005, 13:40
"(z.b. ob das Chorfinale was taugt oder nicht)"

es taugt dann, wenn's gefällt
Kreisler_jun.
Inventar
#27 erstellt: 12. Okt 2005, 21:02

Tommy_Angel schrieb:
"(z.b. ob das Chorfinale was taugt oder nicht)"

es taugt dann, wenn's gefällt


Wenn Du die Unterschiede, die wir alle zwischen dem "Gefallen" am warmen Bad, Spinat und Beethovens Musik machen, nicht verstehst, erübrigt sich jede weitere Diskussion.

JK jr.
Tommy_Angel
Inventar
#28 erstellt: 13. Okt 2005, 18:37
weis nit, ob Du der Nichtverstehende bist oder ich!

Ob Du Dir anmaßt, alles zu verstehen, oder ich etwas zurückhaltender und bescheidener bin.

Dieses Thema des "sichüberallenstellens" hatten wir in andren Threads schon. Ich nannte es damals arrogant, ggg.

ciu, Gott
GalloNero
Ist häufiger hier
#29 erstellt: 13. Okt 2005, 20:48

Martin2 schrieb:
Mein Wunsch etwa wäre, das Klassikeinsteiger, die hier mitlesen, da auch etwas mitnehmen können. Und da ist es eben meine Befürchtung, daß hier sehr erfahrene Klassikliebhaber schreiben, die sich sehr freuen, etwas neues entdeckt zu haben, was wirklich gut ist, und die sich dann, weil sie sich über ihre Neuentdeckung so freuen, die Dinge höher hängen, als sie gehängt werden sollten.

Und schon wieder repräsentiere ich wohl den Klassikeinsteiger hier im Forum.
Ich habe diesen und auch den Thread Gibt es Objektive Kriterien für Musik? aufmerksam verfolgt. Mich begleiten beim lesen gemischte Gefühle.

Also erst mal fällt mir auf, dass das Thema von fast allen Diskussionsteilnehmern sehr theoretisch behandelt wird und dass es vor allem im anderen Thread sehr stark ums "Recht haben" geht. Es wird sehr viel über die Sinnhaftigkeit, Anerkennung, Existenz oder eben die Nichtexistenz von Kriterien, Regeln, Werten und Wertsystemen gesprochen. Selten werden diese aber beim Namen genannt.

Ich höre Musik mit dem Herzen und nicht mit der Partitour auf dem Schoß. Dies hört sich sehr stark nach Subjektivität an aber letztendlich geht es darum wie Musik auf den Menschen wirkt - auch objektiv betrachtet. Es stellt sich die Frage, welche musik auf welche Zielgruppe wie und warum wirkt. Aber nun werdeich selber theoretisch.

Wenn ich die Diskussion richtig verstanden habe, dann geht es zunächst mal um die erst- bzw. zweitklassikkeit eines Werkes an sich, nicht um die Interpretation eines solchen. So geht ein Einsteiger in der Regel auch an die Sache heran. Ich begann mit einer Beethoven-Box von Naxos und einer dicken CD-Box bestehnd aus 16 CDs zum Preis eines aktuellen Doppelalbums der DG. Darauf zu finden waren die vermeintlich größten Komponisten der Musikgeschichte Die Interpretation war zweitrangig. Ein Werk gefiel oder eben nicht. Ich habe mich oft gefragt an was ich das festmache. Natürlich fällt es leichter ein Werk zu kategorisieren, wenn man zuvor schon 5.000 andere Werke in eine Schublade gesteckt hat. Ich persönlich habe vor einem Jahr praktisch auf der Grünen Wiese begonnen. Von meinen Erfahrungen möchte ich nachfolgend berichten und hoffe, dass ich hier niemanden langweile, aber vielleicht ist es ja für den einen oder anderen alten Hasen interessant zu erfahren, wie ein interessierter, jungfräulicher Neueinsteiger das ganze wahrnimmt.

Infiziert wurde ich durch Beethoven. Beethoven ist für mich nach wie vor das Maß aller Dinge. Es war die 9te (gehört im Weinberg, mit Hörern auf den Ohren), die mich packte und nicht mehr losließ. Sie hat in mir, und offensichtlich auch in vielen anderen (und das über nahezu zwei Jahrhunderte hinweg) einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich ging durch ein wechselbad der Gefühle. Ergriffenheit, Ansporn, Besinnlichkeit, Erhabenheit! Ich war danach einfach glücklich, dieses Werk gehört zu haben. - Doch waren es nur diese Gefühlsausbrüche, die mich an Bethovens Musik phaszinierten? Nein. Oder anders gefragt, was konnte diese Ausbrüche hervorgerufen oder verstärken haben? Es folgten die Sinfonien 3, 5 und 6 und ich begann mir einzubilden Beethoven zukünftig raushören zu können. Ich nahm also so etwas wie Identität war. Darüber hinaus phaszinierte mich das Zusammenspiel der verschiedenen Instrumente bzw. Stimmen. Jedes Instument bzw. jede Instrumentengruppe spielt hier irgendwie etwas völlig anderes und auf wundersame Weise klingt das im Ganzen dann harmonisch und erhaben. Mittlerweile weiß ich, dass man das Polyphonie nennt. In Sachen Identität und rythmischer Polyphonie ist für mich Beethoven bis jetzt unereicht. Trotzdem höre ich ihn kaum mehr, weil es so unendlich viel Neues zu etdecken gibt. Ich halte aber fest:

Gefühl
Polyphonie
Identität

Nach einem kurzen Ausflug in das Mahlersche Werk, über das ich mich noch nicht qualifiziert äußern kann, beschloß ich mal von vorne zu beginnen und landete bei der barocken Musik. Mein Sohn nennt das Rittermusik. Viel mehr war es für mich zunächst ehrlich gesagt auch nicht. Wenn man von Mahler kommt, dann scheint das ja zunächst (und die Betonung liegt auf "scheint") als sehr einfach. Das hier die Komplexität im Detail liegt brauche ich hier ja niemandem zu erzählen. Ich las etwas über große Kunst der Fuge, griff zum Klassenprimus J.S.B., was soll ich sagen: Wahnsinn! Diese Vielschichtigkeit. - Diese extreme Vielschichtigkeit kann ich bis heute aber nur bei Bach erkennen. Höre ich ein barockes Stück im Radio versuche ich meist für mich zu beurteilen ob es sich um Bach handeln könnte. Ich mache dies an der Komplexität der Polyphonie fest - ich lag noch nie falsch und mir wurde klar, daß Bach zu seiner Zeit offensichtlich neue Wege ging und die erreichte Perfektion in diesem Genre einzigartig war und blieb. Das ist im Übrigen keine allgemeingültige Behauptung sondern eine persönliche Beobachtung nach dem momentan Stand der Dinge aus meiner Sicht. Ich halte auf jeden Fall folgende Kriterien für mich fest:

Plyphonie
Komplexität
Perfektion
Einzigartigkeit

Nach einem kurzen Ausflug in die Welt von Händel, Hayden und Mozart landete ich über Bethhoven bei Liszt (ich weiß hier klaffen Lücken aber ein Jahr ist verdammt kurz. Mit Liszt kamen Kriterien wie Virtuosität und Fortschrittlichkeit (wenngleich man dies schon früher hätte erkennen können) hinzu. Wenn ich davon ausgehe, das ein jeder Komponist auch in der Lage gwesen sein sollte, seine eigenen Werke auch zu spielen, dann sollte Liszt nicht nur bei Einsteigern offene Münder hinterlassen. Ich halte fest:

Virtuosität
Fortschritt

Nach Liszt kam Wager. Ich weiß hier gehen die Meinungen startk auseinander. Ich habe zunächst über Wagner gelesen, erst später habe ich ihn bewußt gehört. Mir kommt hier nur Subjektives in den Sinn (aber meine Erfahrungen sind noch jung):

Übermenschlich
Bezaubernd
Mitreißend

Mit Bruckner komme ich komischerweise nicht klar. Mahler konnte ich jungfräulich wie ich war etwas abgewinnen. Damit muss ich mich aber noch intensiver beschäftigen. Ich möcht an dieser Stelle auch abrechen und versuchen das Ganze auf den Punkt zu bringen.

Es ging darum, was ein Einsteiger hier mitnehmen kann. Ich nehme mit, dass das Ganze ein hochkomplexes Thema ist und das Subjektivität hier immer eine Rolle spielen wird. Ich bin allerdings davon überzeugt, daß es Gründe dafür gibt, wenn sich die Breite Masse, oder aber auch ein erlauchter Kreis von Kennern, Jahrhunderte später an einen Komponisten oder ein spezielles Werk erinnert und solch ein Werk heute noch den Weg in die Konzertsäle findet oder über moderne Medien viele Interessierte erreicht.
Ich würde mich freuen, wenn auch einmal der eine oder andere erfahrene Klassikliebhaber die Hosen runterliese und ich daran teilhaben könnte, was für Ihn ein Werk zum erstklassigen Werk macht. Vielleicht gibt es ja überschneidungen.

Euer Gallo


[Beitrag von GalloNero am 13. Okt 2005, 20:51 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#30 erstellt: 13. Okt 2005, 23:58
Ich denke zunächst einmal sollte man die Wichtigkeit dieses Themas nicht überschätzen.

Ich muß auch sagen, daß mir das Verteilen von Schulnoten an Komponisten und Interpreten irgendwie unsympathisch ist. Dem sich dann vielleicht noch ein Verteilen von Schulnoten an die Hörer anschließt. In diesem Zusammenhang ist mir die relativistische Haltung von Thomas ( Tommy Angel) auch gar nicht unsympathisch. Gut ist was mir gefällt - ja warum denn nicht? Vielleicht ist Thomas Haltung ein bißchen radikal, nur glaube ich, daß er in der Praxis gar nicht so radikal ist. Ihm geht es dabei glaube ich nur um die Verteidigung einer gewissen Haltung und die sei ihm unbenommen.

Da fällt mir als Anekdote eine Geschichte von Charles Ives ein, dem man in fortgeschrittenen Jahren ( nachdem man sein übrigens sehr hörenswerte Musik Jahrzehnte arg vernachlässigt hatte) eine Auszeichnung zukommen ließ, die er mit den Worten quittierte: "Ich dachte solche Auszeichnungen bekomme man nur in der Schule." Das hat mir wundervoll gefallen und rundete das Bild, das ich mir von diesem nonkonformistischen Komponisten machte, ab.

Den anderen Thread über objektive Kriterien habe ich nur noch unscharf in Erinnerung. Na ja, ich weiß nicht, objektive Kriterien sind mir ehrlich gesagt wurscht. Ich muß da am meinen Zeichenlehrer denken, der uns damals ernsthaft weis machen wollte, daß der Buchstabe H ein in höchstem Maße ästhetischer Buchstabe wäre, dagegen das Hakenkreuz der Abgrund der Unästhetik und das ließe sich wissenschaftlich beweisen. Aber was konnte das arme Hakenkreuz dafür, daß eine gewisse faschistische Organisation sich dieses jahrtausendealten Symbols bediente.

Da ich klassische Musik nun auch schon seit 30 Jahren höre, gehöre ich wohl zu den erfahrenen Klassikhörern. Der Aufforderung Gallos, nun deshalb "die Hosen runterzulassen", komme ich aber nur ungern nach. Man wird es nicht glauben, aber wenn ich die Hosen runter lasse, bin ich darunter völlig nackt. Und nackt heißt, daß ich letzlich auch nicht genau zu sagen weiß, was nun im einzelnen eine Komposition genial macht und was nicht. Musik kann komplex sein und trotzdem nichts taugen und einfach und wunderbar. Daß im übrigen musikalisch gebildetere das besser beurteilen können, ziehe ich stark in Zweifel, denn das wäre etwas völlig neues, sonst hätte es nicht so viele krasse Fehlurteile musikalischer Experten ( die zum Beispiel Mahler "klagendes Lied" abschmetterten als dieser es zu einem Wettbewerb einreichte) gegeben.

Ob ich, weil ich mehr Musik gehört habe, Musik besser beurteilen kann als der, der weniger gehört hat? Ach ich weiß nicht. Ich habe Brahms mit 14 bestimmt genausogut gehört wie heute, nämlich mit Begeisterung. Ich brauche keine neuen Kenntnisse über Brahms. Ich glaube nicht, daß ich heute Musik besser beurteilen kann als vor 30 Jahren. Einhören muß man sich letzlich immer, mal mehr mal weniger.

Der Klassikneuling hat doch den Vorteil, daß er meistens mit unglaublich guter Musik beginnt. Das könnte sogar zur Folge haben, daß er möglicherweise Musik besser beurteilen kann als mancher erfahrene Hörer. Vollkommen verwöhnt wie er ist, kann er es sich leisten, hart zu urteilen, während der, der Jahrzehnte hört, in seinen Urteilen viel vorsichtiger ist, was aber nicht unbedingt immer positiv zu bewerten ist.

Abschließender Gedanke: Wichtiger als Schulnoten zu verteilen, ist bei der Musik immer die Frage, ob von einer Musik ein gewisser Zauber ausgeht. Da fällt mir dann die Geschichte ein, wie Gershwin zu Ravel kam, um Kompositionsunterricht zu nehmen. Ravels Antwort: "Warum wollen sie ein zweitklassiger Ravel sein, wenn sie ein erstklassiger Gershwin sein können." Der springende Punkt an der Geschichte ist eben, daß Ravel ganz sicher zu den ganz großen Komponisten des 20. Jahrhunderts gehört, der dann auch zu den Großen gerechnet wird. Gershwin wohl eher weniger. Trotzdem ist Gershwin eben klasse, ein erstklassiger Gershwin eben. Von Gershwin geht eben ein Zauber aus.

Von Bruch, dessen Violinkonzert ich neulich hörte, neulich hörte ich noch mal etwas anderes von ihm, ging eben kein Zauber aus, jedenfalls nicht für mich.
Tommy_Angel
Inventar
#31 erstellt: 14. Okt 2005, 10:35
Na, Martin, jetzt sin wir ja wieder beisammen, die letzten Absätze unterschreibe ich alle
Hüb'
Moderator
#32 erstellt: 14. Okt 2005, 10:53
Schließe mich an!

Obwohl, Martin, bitte gib dem ersten Bruch VK nochmal eine Chance. Es enthält einige absolut wunderschöne Stellen! Vielleicht waren's nur die falschen Interpreten?

Grüße

Hüb'
Kreisler_jun.
Inventar
#33 erstellt: 14. Okt 2005, 21:30

GalloNero schrieb:

Und schon wieder repräsentiere ich wohl den Klassikeinsteiger hier im Forum.
Ich habe diesen und auch den Thread Gibt es Objektive Kriterien für Musik? aufmerksam verfolgt. Mich begleiten beim lesen gemischte Gefühle.

Also erst mal fällt mir auf, dass das Thema von fast allen Diskussionsteilnehmern sehr theoretisch behandelt wird und dass es vor allem im anderen Thread sehr stark ums "Recht haben" geht. Es wird sehr viel über die Sinnhaftigkeit, Anerkennung, Existenz oder eben die Nichtexistenz von Kriterien, Regeln, Werten und Wertsystemen gesprochen. Selten werden diese aber beim Namen genannt.


Das sind ja auch zwei verschiedene Fragestellungen!
Wenn jemand behauptet, es gäbe überhaupt keine vernünftigen Kriterien, so muß er natürlich auch keine konkreten nennen. Wer dagegen konkrete nennt, muß begründen, warum er für sie mehr als bloß subjektive Präferenzen hält. Und wie in der Mathematik kann es sein, dass man einen "Existenzbeweis" führen, also plausibel machen kann, dass Kriterien existieren, sich aber uneins darüber ist, wie sie im Einzelnen aussehen.
Ich habe in meiner kurzen Antwort z.B. nur behauptet, dass wir alle im Alltag einen Unterschied machen, je nachdem ob wir uns darüber auseinandersetzen ob Vanille- oder Schoko-Eis leckerer ist oder ob die "Jupitersinfonie" in irgendeinem Sinne besser ist als Mozarts "Pariser Sinfonie". Das scheint mir völlig klar, Frage ist jetzt, ob das ein zufälliger Unterschied ist oder ob er gerechtfertigt ist, es also etwas anderes ist, einen persönlichen Geschmack zu äußern oder etwas ästhetisch zu bewerten. usw.

Natürlich ist es legitim, sich für derlei Fragen gar nicht zu interessieren. Wenn sie aufgerührt werden, darf man sich aber nicht beschweren, wenn es theoretisch wird. Niemand würde sich beschweren, wenn eine Erläuterung der Quantentheorie abstrakt und schwierig wird, und hier haben wir es mit einem viel strittigeren Gebiet zu tun!

Du nanntest z.B. Komplexität. Das ist sicher ein mögliches Qualitätskriterium, aber es ist weder notwendig (sonst wären viele Schubert-Lieder oder Händel-Arien ziemlich zweitklassig) noch hinreichend (sonst wäre Reger so gut wie Bach), zudem kann Komplexität auf vielen Ebenen auftreten. Man wird also eine ganze Reihe von Kriterien haben und dann noch das Zusammenspiel der Elemente an konkreten Stück berücksichtigen müssen

Ein weiteres Problem ist, dass, wenn man in Details geht, zu erläutern versucht, was gerade an diesem Stück so grandios ist, es sehr schnell wiederum theoretisch wird und in einem Textmedium die Beispiele fehlen, an denen man vieles leichter demonstrieren könnte (message #72 in diesem thread, ganz am Ende steht auch noch was zur Ästhetik):
http://www.hifi-foru...ack=6&sort=lpost&z=4

Vielen Dank für die sehr persönliche Schilderung Deiner Hörerlebnisse und viel Freude auch weiterhin mit der Musik!

viele Grüße

JK jr.
Kreisler_jun.
Inventar
#34 erstellt: 14. Okt 2005, 21:38

Tommy_Angel schrieb:
weis nit, ob Du der Nichtverstehende bist oder ich!

Ob Du Dir anmaßt, alles zu verstehen, oder ich etwas zurückhaltender und bescheidener bin.

Dieses Thema des "sichüberallenstellens" hatten wir in andren Threads schon. Ich nannte es damals arrogant, ggg.


Wenn man zuerst Dinge wie "Niemand kann gute von schlechter Musik unterscheiden" groß rausposaunt, dann aber keinen Bock hat, sich auf eine inhaltliche Diskussion einzulassen, sondern persönlich wird, sollte man es lieber gleich lassen.
Ich habe jedenfalls keinen Bock auf dieser Ebene weiterzumachen

JK jr.
Martin2
Inventar
#35 erstellt: 15. Okt 2005, 00:30
Liebe Kreisler junior, lieber Thomas,

Euer Streit ärgert mich. Was mich daran ärgert, sind die gegenseitigen Unterstellungen.

Kreisler Junior unterstellt Thomas, daß für ihn der Geschmack an Spinat und an klassischer Musik dasselbe seien. Da möchte ich mal wissen, aus welcher Bemerkung von Thomas er das ableitet. Das soll er mal belegen.

Thomas dagegen sagt, Kreisler Junior bilde sich ein, alles zu verstehen. Eine genauso polemische Unterstellung.

Streit im guten Sinne finde ich nicht schlecht, das ist dann einfach Auseinandersetzung, aber sich gegenseitig anzugiften mag ich nicht.

In der Sache bin ich durchaus nicht Thomas Meinung. Andererseits verstehe ich es durchaus, wenn jemand auf eine allzu theoretische Diskussion keinen Bock hat. Musik ist nichts Theoretisches sondern in erster Linie eine Sache des Gefühls, auch des Geschmacks, solcher Dinge eben. Das abzuqualifizieren fiele mir nicht ein.

Jedenfalls glaube ich überhaupt nicht, daß jemand, der gut theoretisieren und reflektieren kann, deshalb automatisch einen besseren musikalischen Geschmack hat.

Natürlich ist die Auffassung von Thomas, daß man gute von schlechter Musik nicht unterscheiden kann, provokant, aber das soll es ja wohl auch sein. Ich sehe aber keinen Grund, darauf aufgeregt zu reagieren. Oder gar zu sagen: Mit Dir rede ich nicht mehr.

Jedenfalls bin ich äußerst skeptisch, daß in der Kunst die Reflexion, Theoretisiererei, inhaltliche Auseinandersetzung und dergleichen sehr weit führt. Mir macht das gelegentlich Spaß, aber allzu ernst nehmen kann ich das nicht.

Gruß Martin
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