Neoromantik nach Schmidt-Kowalski und Rautavaara

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 03. Nov 2009, 03:18
Hieraus entstanden.


Pilotcutter schrieb:
Thomas Schmidt-Kowalski
geboren 1949. Ein glühender Vertreter der Neoromantik und der Tonalität dafür ein Gegner der musikalischen Avantgarde.


In dem von Dir angegebenen Link lese ich in den Zeitungsrezensionen allerdings:


Thomas Schmidt Kowalski hat nichts gegen experimentelle Musik. Im Gegenteil: Der Komponist aus Oldenburg hält avantgardistische Klangkunst für wichtig und bisweilen gut.

Siehe hier:

http://www.schmidt-kowalski.de/images/031100.gif

Allerdings ist die Avantgarde nicht sein Ding, wie er auch sagt.


[Beitrag von Hüb' am 04. Nov 2009, 08:53 bearbeitet]
Pilotcutter
Administrator
#2 erstellt: 03. Nov 2009, 09:13

Martin2 schrieb:
In dem von Dir angegebenen Link lese ich in den Zeitungsrezensionen allerdings:


Das sind wohl eher unterschiedliche Gewichtungen innerhalb der redaktionellen Auslegungen.
Das beiliegende CD-Booklet liegt ungefähr im Mittelfeld mit der Aussage:


Schon während des Studiums entwickelte er einen eigenständigen Kompositionsstil und erteilte damit der vorherrschenden avantgardistischen Musik eine strikte Absage


Eigentlich dürfte er damit bekannter sein, der Thomas Schmidt-Kowalski. Seine Kompositionen dürften so ungefähr das sein, was viele für die klassische Musik schlechthin halten. Tonal, romantisch, mit einem guten Schuss "wellness".


[Beitrag von Pilotcutter am 03. Nov 2009, 09:14 bearbeitet]
Hüb'
Moderator
#3 erstellt: 03. Nov 2009, 09:16

Tonal, romantisch, mit einem guten Schuss "wellness".

Oha, danke für die Warnung.
Mellus
Stammgast
#4 erstellt: 03. Nov 2009, 10:20

Pilotcutter schrieb:
Ein glühender Vertreter der Neoromantik und der Tonalität dafür ein Gegner der musikalischen Avantgarde. Für ihn ist die Romantik keine Zeitepoche sondern eine Geisteshaltung!


Schließen sich denn Romantik als Geisteshaltung und avantgardistische Musik gegenseitig aus? Die Zusammenstellung der beiden Sätze scheint das zu implizieren. Ich komme jedenfalls z.B. nicht darum herum, einiges von Klaus Huber als "romantisch" zu hören. Und der wird durchaus der "Neuen Musik" zugerechnet. Oder Detlef Glanert. Aber letzterer ist ja auch nur "mild-avantgardistisch".

Viele Grüße,
Mellus
Pilotcutter
Administrator
#5 erstellt: 03. Nov 2009, 10:58

Mellus schrieb:

Pilotcutter schrieb:
Ein glühender Vertreter der Neoromantik und der Tonalität dafür ein Gegner der musikalischen Avantgarde. Für ihn ist die Romantik keine Zeitepoche sondern eine Geisteshaltung!


Schließen sich denn Romantik als Geisteshaltung und avantgardistische Musik gegenseitig aus? Die Zusammenstellung der beiden Sätze scheint das zu implizieren.


Eigentlich wollte ich ja einfach nur mitteilen, was ich letzte Nacht "gerade jetzt gehört" habe.
Ob sich Romantik als Geisteshaltung und avantgardistische Musik ausschließen? Ich bin zwar nicht der Advokat von Schmidt-Kowalski, sage in seinem Sinne aber: Ja!

Ich habe den Eindruck mit der "Geisteshaltung der Romantik" möchte er die Epoche der Romantik konservieren und sie sich und seiner Zuhörerschaft als Lehre, als Grundhaltung vermitteln. Die Avantgarde der Musik hat sich ja den Bruch mit den traditionellen Hörgewohnheiten, die breite Verwendung von Dissonanzen und unregelmäßigen Rhythmen sowie die Aufgabe der Tonalität auf die Fahne geschrieben.
Das kann ja mit einer grundsätzlichen romatischen Geisteshaltung nicht Hand in Hand gehen.


[Beitrag von Pilotcutter am 03. Nov 2009, 11:00 bearbeitet]
Mellus
Stammgast
#6 erstellt: 03. Nov 2009, 11:43

Pilotcutter schrieb:
mit der "Geisteshaltung der Romantik" möchte er [Kowalski] die Epoche der Romantik konservieren


Auch auf die Gefahr hin off topic zu werden: Das klingt aber doch sehr danach, als sei Romantik auch für Kowalski eben doch die Epoche und die angebliche Geisteshaltung nichts weiter als die Äußerungen und Mittel dieser Epoche (Tonalität, etc. pp.). Eine sehr materialistische Einstellung, möchte man sagen!

Ich bin auf Deinen Satz angesprungen, da er etwas aufgreift, das ich mir im stillen Kämmerlein auch manchmal überlegt habe: wie viel Romantik steckt noch in der Moderne, Neuen Musik, Avantgarde? Und meines Erachtens findet man sie. Zwei Beispiele habe ich ja oben genannt. Und Stockhausens Licht-Gigantismus hat doch etwas romantisches, oder nicht? Das geht nur, weil ich, wie Du wohl auch, denke, dass Romantik eine Geisteshaltung ist (oder Lebenseinstellung oder einfach Haltung). Und als solche ist sie unabhängig von bestimmten Techniken und kann sich auch mit avantgardistischen Mitteln Bahn brechen.

Vielleicht bin ich aber auch bloß zu romantisch?

Viele Grüße,
Mellus
Pilotcutter
Administrator
#7 erstellt: 03. Nov 2009, 13:24

Mellus schrieb:

Pilotcutter schrieb:
mit der "Geisteshaltung der Romantik" möchte er [Kowalski] die Epoche der Romantik konservieren


Auch auf die Gefahr hin off topic zu werden: Das klingt aber doch sehr danach, als sei Romantik auch für Kowalski eben doch die Epoche und die angebliche Geisteshaltung nichts weiter als die Äußerungen und Mittel dieser Epoche (Tonalität, etc. pp.). Eine sehr materialistische Einstellung, möchte man sagen!


Die sog. Neoromantik ist ja auch für S.-K. semantisch eigentlich nichts anderes als die Wiederaufnahme (oder eine Interpretation?) der Stilrichtung der Romantik, also ein gewisser Historismus. Eben mit den Stilmitteln und Äußerungen der Epoche Romantik.

In wie weit die Neue Musik Romantik birgt, kann ich nicht sagen. Aber auch da kann es sich ja dann um Neo(!)romantik handeln. Das Wort Romantik steht ja unweigerlich mit der Epoche in Zusammenhang. Vielleicht will man in der Neuen Musik mit zB einer gewissen Melancholie und mit Phantastischem, Idyllischem irgendwie "romantisieren"?
Das mag durchaus möglich sein und haben wir ja auch ein gut Stück weit in Bergs Lyrischer Suite gesehen. Aber wohl nicht mit den Stilmitteln der Romantik.


[Beitrag von Pilotcutter am 03. Nov 2009, 13:32 bearbeitet]
Klassikkonsument
Inventar
#8 erstellt: 03. Nov 2009, 13:38
Romantik ist vielleicht tatsächlich eher eine Haltung, als dass sie sich an bestimmten Techniken, Mitteln, Stimmungen, Sujets oder Themen festmachen ließe.
Friedrich Schlegel überzeugt als Praktiker leider nicht besonders: Seine Lucinde nervt schon ziemlich, aber wenigstens weiß er das und erörtert in diesem Roman auch gleich selbst, ob er nicht einfach narzisstische Selbstbespiegelung betreibt.
Aber als Programmatiker war er schon wichtig. Wenn ich von Schlegel, der ja die Unverständlichkeit hochgehalten hat, vielleicht etwas verstanden habe, dann ging es ihm bei der Romantik vor allem um ein neuartiges, reflektierteres Verhältnis zu Inhalt und Form der Kunst und deren Verhältnis zur Gesellschaft. Ihm schwebte wohl eine Ästhetik vor, die beansprucht recht Vieles, Gegensätzliches, wenn nicht gar alles zu integrieren.

Wenn man Romantik nicht mit bloßer Sentimentalität verwechselt, dann ist vielleicht Gustav Mahler am Ehesten ein romantischer Komponist. Und zwar nicht bloss wegen der Wahl seiner Texte (Des Knaben Wunderhorn), sondern weil er z.B. "niedere" Unterhaltungs- und Militärkapellen-Musik mit "hohem" fugierten Stil, kitschiges Pathos mit fragwürdiger Drolligkeit kombiniert hat. Mir kommt Mahlers Musik sogar ideologiekritisch vor.

Ich fände es auch nicht absurd, Schönberg als Romantiker zu bezeichnen. Einerseits war er stilistisch vergleichsweise vielseitig, andererseits scheint er mir immer etwas von der spätromantischen Musik behalten zu haben.

Wo ich gerade bei Schmidt-Kowalski reingehört habe, klang es ja schon ziemlich kitschig. Und wer sich mit Kriegsgräbern "versöhnen" will, ist wohl auch irgendwas anderes als kritisch.

Viele Grüße


[Beitrag von Klassikkonsument am 03. Nov 2009, 13:41 bearbeitet]
Pilotcutter
Administrator
#9 erstellt: 03. Nov 2009, 14:51

Klassikkonsument schrieb:
Und wer sich mit Kriegsgräbern "versöhnen" will, ist wohl auch irgendwas anderes als kritisch.


Die "Meditationen zum Volkstrauertag" für Streichorchester op.105 in 3 Sätzen war eine Auftragskomposition für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Ich glaube nicht, das Schmidt-Kowalksi sich da irgendwie selbst drin sieht.

Hätte ich die Muße, tät ich das Booklet abschreiben, das etwas über die inhaltliche Dramaturgie der Meditationen, die sich auch in der planvollen Wahl terzverwandter Tonarten widerspiegelt. Der 1. Satz wird von tiefen Streichern in b-moll und mit einem stockenden Trillermotiv eröffnet. Die unendliche Streichermelodie versteht sich als Ausdruck der leidvollen Erfahrung des 20 Jhdts, insb. der beiden Weltkriege und so weiter und so fort.

Alles in allem "passiert" in seiner Musik (zumindest auf dieser CD, die ich ja nur kenne) wirklich nicht allzuviel und um eines seiner Werke "gemeinsam hier zu hören" langt's wohl auch nicht. Eine gewisse Vielseitigkeit kann man ihm aber nicht absprechen.


[Beitrag von Pilotcutter am 03. Nov 2009, 14:52 bearbeitet]
op111
Moderator
#10 erstellt: 03. Nov 2009, 17:01

Hüb' schrieb:

Tonal, romantisch, mit einem guten Schuss "wellness".
Oha, danke für die Warnung. :D

Ich bedanke mich ebenfalls!
WolfgangZ
Inventar
#11 erstellt: 03. Nov 2009, 18:16
Wenn ich mich kurz einschalten darf ... neben der Funktion dieses Threads liegen wir ohnehin schon lange (vielleicht gäbe es eine Verschiebungsmöglichkeit ??) ...

Ich könnte mir wie andere hier vorstellen, einen Allan Pettersson oder sogar einen Schönberg in der romantischen Tradition zu sehen, Ersteren im Sinne der Geschichte einer musikalischen Großform und ebenso im Sinne einer radikal-individualistischen emotionalen Expressivität, Letzteren als Endpunkt einer musikalischen Entwicklung hin zu Auflösung und Hypertrophie.

Schmidt-Kowalski kenne ich nicht, diverse neuere Kompositionen eines Rautavaara beispielsweise aber durchaus.

Und hierbei könnte sich mir tatsächlich ein Terminus wie "wellness" aufdrängen, würde ich diesen Begriff nicht verabscheuen. Ich rechne hier mit der Zustimmung von Frank und Franz-Josef ...

Nur hat das Phänomen des Genießens und Sich-Verwöhnenlassens doch eigentlich mit Romantik auch im weiteren - gut, nicht im weitesten - Sinne partout überhaupt nichts zu schaffen. Wo findet man in höherem Maße radikale Entgrenzung, Antibürgerlichkeit, eine Abwehrhaltung gegen den Philister bis hin zu Leiderfahrung und Todessehnsucht als in der Romantik und auch noch der Neoromantik der Jahrhundertwende, die um 1900 als "Fin de siècle" geläufig ist, selbst wenn Letztere bereits von einem saturierten Bürgertum mitgetragen wird?

Besten Gruß, Wolfgang


[Beitrag von WolfgangZ am 03. Nov 2009, 18:17 bearbeitet]
Pilotcutter
Administrator
#12 erstellt: 03. Nov 2009, 18:44


Das ist in der Tat "wellness". Das "Cantus Arcticus" trägt den Untertitel Concerto for Birds and Orchestra. Im Ernst. Das klingt wie bei uns im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Hier ein Beispiel

Auch das Klavierkonzert hat einen "transzendenten New Age" Einschlag, wird aber im 2. und 3. Satz musikalisch interessant und virtuos.

Die Symphony beginnt auch sehr breit und "romantisch" birgt aber in den späteren Sätzen musiklische kurzweilige Raffinessen.

Dann habe ich noch die 9. Sinfonie von Robert Simpson(1921-1997).




Die Sinfonie ist ohne Satzeinteilung, besteht aber aus 17 Tracks und scheint auch neoromantisch zu sein.

Ich habe die CD's ausgeliehen bekommen von einem Kollegen der mir die Lyrische Suite mitbringen wollte, sie aber doch nicht hatte. Er hatte auch den Terminus "wellness" verwendet, während ich noch "trivial" verwendet habe.


[Beitrag von Pilotcutter am 03. Nov 2009, 19:39 bearbeitet]
WolfgangZ
Inventar
#13 erstellt: 03. Nov 2009, 19:52

Pilotcutter schrieb:
Das klingt wie bei uns im Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer.


Ehrlich? Dann möchte ich da mal hin. Ganz bestimmt nicht wegen irgendeiner "wellness", aber wegen des Sounds!

Gruß, Wolfgang

PS: Simpson halte ich aufgrund seiner Formstrenge eher für einen Klassizisten.


[Beitrag von WolfgangZ am 03. Nov 2009, 19:54 bearbeitet]
op111
Moderator
#14 erstellt: 04. Nov 2009, 09:27

WolfgangZ schrieb:
, diverse neuere Kompositionen eines Rautavaara beispielsweise aber durchaus.

Und hierbei könnte sich mir tatsächlich ein Terminus wie "wellness" aufdrängen, würde ich diesen Begriff nicht verabscheuen.

Auf Neudeutsch "wellness abhorrence"

Eine Rautavaara-Box liegt noch auf meinem wachsenden "Noch-nicht-gehört-Stapel" - sollte ich sie weiter nach unten einsortieren?
Sicherheitshalber nicht nach dem Essen hören?
Pilotcutter
Administrator
#15 erstellt: 04. Nov 2009, 11:29
Soll denn jetzt in diesem Thread der Terminus "Neoromantik" oder "Neuromantik" behandelt werden? Dann will ich ihn nochmal neoeröffnen:

Mir drängt sich der Eindruck auf, dass es nie eine Zäsur innerhalb der geistesgeschichtlichen Stilepochen gegeben hat, die sich durch die Bezeichnung Neoromantik oder Neuromantik abgrenzt.

Insofern würde ich die Neuromantik eher als eine kompositorische Strömung innerhalb des sog. Neoklassizismus einordnen. Vielleicht sogar als ein Stilmittel.

Satztechniken und/oder Formen werden aus der Stilepoche der Romantik übernommen und ggf. in den herrschenden Kompositionsstil übernommen oder ihm angepasst.
Da gewissermaßen mit Beginn des 20. Jahrhunderts die Spätromantik durch die Epoche des Impressionismus musikhistorisch abgelöst wurde, würde ich jedes Musikwerk oder jeden Komponisten, der sich der Stilelemente der (vergangenen Epoche der) Romantik bedient, ein neoromatisches Werk oder einen neoromantischen Komponisten nennen.

Damit revidiere ich in etwa meine Antwort auf Mellus' Frage


wie viel Romantik steckt noch in der Moderne, Neuen Musik, Avantgarde?

und sage, rein kompositorisch kann durchaus romantisches (im Sinne der Epoche) in Neuer Musik stecken.

Die Problematik wird wohl auch nicht wenig erschwert durch die Überstrapazierung der Ausdrücke "Romantik" und "romantisch". Auch bei mir wird da eher die gefühlsbetonte Saite und der tiefere Wunsch nach Heilung der Weltzerissenheit angeschlagen , als die klar abgegrenzte (musik)historische Stilepoche der "Romantik".

Besonders die Musik der Romantik hat womöglich durch ihre wahrnehmbare Schönheit, ihre Gesetzmäßigkeiten und Harmonie eine ästhetisches Qualitätsmerkmal hinterlassen, dass wir heute mit romantisch bezeichnen.

Oder?
Kreisler_jun.
Inventar
#16 erstellt: 04. Nov 2009, 12:40
Wobei, wie Wolfgang schon anführte, die Romantik ursprünglich (in der Literatur schon vor 1800, in der Musik eben ca. eine Generation später) ja als Gegenbewegung zur Aufklärung (die beste aller möglichen Welten ist wenn nicht gegeben, doch durch vernünftige Entwicklung der Menschheit zu erreichen) gerade die Zerrissenheit betont hat.

Auch in der Musik zeichnet sich die Romantik weniger durch "Gesetzmäßigkeiten und Harmonie" aus, sondern durch fantasievolle Freiheit und Grenzüberschreitungen. Ein Musterbeispiel ist hier E.T.A Hoffmann, zwischen Musik und Literatur, Wahnsinn und Realität schwankend, skurril, grotesk, unvorhersehbar. Solche Züge finden sich durchaus auch bei Berlioz oder Schumann. Allerdings ist die musikalische Romantik sehr oft von einem Klassizismus begleitet oder überlagert, der diese Aspekte zumindest zähmt oder sogar verdrängt.


viele Grüße

JK jr.
WolfgangZ
Inventar
#17 erstellt: 04. Nov 2009, 13:28

op111 schrieb:
Eine Rautavaara-Box liegt noch auf meinem wachsenden "Noch-nicht-gehört-Stapel" - sollte ich sie weiter nach unten einsortieren?
Sicherheitshalber nicht nach dem Essen hören?


Rautavaara ist allein wegen seiner eigenwilligen Harmonik meines Erachtens keineswegs uninteressant. Mit Werken wie der Sinfonie "Angel of Light", die erst in den letzten beiden Jahrzehnten entstanden, hat er seine Schreibweise quasi verbreitert und stärker illustrativ statt strukturell gestaltet ... etwa der älteren dritten Sinfonie gegenüber, die stark an einen dodekaphonisch angehauchten Bruckner erinnert. Einen gewissen Personalstil vermeine ich in all seinen Werken, die mir bekannt sind, wiederzuerkennen. (Die Sinfonie-Box besitze ich nicht; ich kenne nur die dritte Sinfonie (1961) , sowie Nr. 7 (1994) "Angel of Light" und Nr. 8 (2000) "The Journey"; außerdem diverse Solokonzerte und weniges andere).

Seine Musik ist jetzt postmodern geworden und kommt einem esoterisch-beschaulichen Bedürfnis deutlich stärker entgegen. Sie ist auch prinzipiell tonal, aber wahrscheinlich dennoch eigenständiger als Schmidt-Kowalski; die Harmonik ist, wenn ich das richtig höre und deute, durch "milde" parallele Clusterbildungen gekennzeichnet.

Mit dem "nach dem Essen" musst Du keine Sorgen haben ! Hör einfach mal hinein!

Gruß, Wolfgang


[Beitrag von WolfgangZ am 04. Nov 2009, 13:29 bearbeitet]
WolfgangZ
Inventar
#18 erstellt: 04. Nov 2009, 13:36

Kreisler_jun. schrieb:
Allerdings ist die musikalische Romantik sehr oft von einem Klassizismus begleitet oder überlagert, der diese Aspekte zumindest zähmt oder sogar verdrängt.


Die musikalische Romantik scheint mir weitaus weniger leicht abzugrenzen, um nicht zu sagen begrifflich viel beliebiger zu sein als die literarische. Außer der von Kreisler benannten klassizistischen Überlagerung (Musterbeispiel: Brahms) fällt mir beispielsweise die veristische Oper ein: denkbar romantische Musik zu einer Thematik, die in der Literatur unter die Schablone "Naturalismus" fallen würde.

Abgesehen davon, dass all dies mit der Problematik von "Neoromantik" m.E. noch gar nichts zu tun hat.

Wolfgang
WolfgangZ
Inventar
#19 erstellt: 04. Nov 2009, 13:45

Pilotcutter schrieb:
Besonders die Musik der Romantik hat womöglich durch ihre wahrnehmbare Schönheit, ihre Gesetzmäßigkeiten und Harmonie eine ästhetisches Qualitätsmerkmal hinterlassen, dass wir heute mit romantisch bezeichnen.


Genau! Und das gilt selbst dann, wenn ursprünglich keineswegs von "Harmonie" und "Gesetzmäßigkeit" die Rede sein kann, wie ja bereits von Mitstreitern hier ausgeführt. "Romantisch" kann für uns heute entweder "angenehm" oder "aufwühlend" bedeuten, solange weniger die Ratio und das kritische Urteilsvermögen betroffen sind, und stärker das Subjektive oder Irrationale. Freilich wird dadurch der Begriff entwertet, aber das ist nichts Neues.

Wolfgang
Mellus
Stammgast
#20 erstellt: 04. Nov 2009, 13:46

WolfgangZ schrieb:
Seine [Rautavaaras] Musik ist jetzt postmodern geworden und kommt einem esoterisch-beschaulichen Bedürfnis deutlich stärker entgegen.


Das entspricht auch meinem Eindruck von Rautavaara, der sich allerdings nur auf wenige Werke stützt. Ich muss gestehen, ein oder zwei CDs von ihm entsorgt zu haben. Allerdings habe ich eine Aufnahme des Cantus arcticus behalten, fürs Kuriositätenkabinett. Fairerweise muss man aber wie Wolfgang unterschiedliche Kompositionsstadien bei R. unterscheiden. Er war wohl nicht immer "esoterisch-beschaulich" oder "Wellness" mit Räucherstäbchen.
op111
Moderator
#21 erstellt: 04. Nov 2009, 13:46
Hallo Wolfgang,

danke für die Informationen zu Rautavaaras Stil. Ich hatte die Befürchtung, es könnte sich um "wohlig weiches waberndes Wogen" nahe des New Age-Gedudels handeln.
Mellus
Stammgast
#22 erstellt: 04. Nov 2009, 13:55

WolfgangZ schrieb:
"Romantisch" kann für uns heute entweder "angenehm" oder "aufwühlend" bedeuten, solange weniger die Ratio und das kritische Urteilsvermögen betroffen sind, und stärker das Subjektive oder Irrationale. Freilich wird dadurch der Begriff entwertet, aber das ist nichts Neues.


Das ist dann aber wirklich eine Grabrede auf die Romantik, die eben mit ihrer Epoche zu Grunde ging. Romantiker wie der Klasssikkonsument (s.o.) wollten doch im Gegensatz das Feuer der Romantik retten, in dem sie sie als Haltung begreifen.

Aber die von Wolfgang angesprochenen "Entwertung" führt vielleicht (endlich) zur Neoromantik. Das kann dann heute ja nur Musik sein, die angenehm ist und nichts Neues enthält, aber an der Vernunft vorbei sentimental oder gar sedierend auf "Gefühligkeiten" wirkt.

Viele Grüße,
Mellus
WolfgangZ
Inventar
#23 erstellt: 04. Nov 2009, 14:08

Mellus schrieb:
: (...) Neoromantik. Das kann dann heute ja nur Musik sein, die angenehm ist und nichts Neues enthält, aber an der Vernunft vorbei sentimental oder gar sedierend auf "Gefühligkeiten" wirkt. :)


Das fürchte ich auch! Und jetzt muss ich mich erst mal ausklinken und an den Schreibtisch.

Wolfgang

EDIT: HF-Code


[Beitrag von op111 am 05. Nov 2009, 10:32 bearbeitet]
Pilotcutter
Administrator
#24 erstellt: 04. Nov 2009, 14:15

Mellus schrieb:
Das ist dann aber wirklich eine Grabrede auf die Romantik, die eben mit ihrer Epoche zu Grunde ging.


Richtig! Das liegt schon in der Semantik des Begriffs "neo" begründet. Um überhaupt von einer Neoromantik sprechen zu können, muss die Romantik beendet sein. Rein musikhistorisch gesehen, gibt es heute keine Romantiker mehr. Was es gibt, sind Komponisten, die das Material der Romantik wieder aufnehmen.

Sorry, für den Vergleich, aber in genau dem gleichen Sinne gibt es heute keine Nazis mehr. Kann es auch nicht mehr, weil die Epoche abgeschlossen ist. Es gibt dümmstenfalls "Neonazis", die das Gedankengut neu- und wiederaufgreifen.


Romantiker wie der Klasssikkonsument (s.o.) wollten doch im Gegensatz das Feuer der Romantik retten, in dem sie sie als Haltung begreifen.


Was dann der ein oder andere Künstler davon macht, oder wie er's gerne hätte, steht apart davon. Wegen mir darf heute gerne ein Komponist aufstehen, der nochmals Konzerte und Sinfonien im Geiste und in der Haltung der Romantik abliefert.
Martin2
Inventar
#25 erstellt: 04. Nov 2009, 17:23
Also ich fand Rautavaaras 3. Sinfonie nicht so schlecht, besser als die 7., auch wenn ich mich nicht wirklich gründlich mit ihr auseinandergesetzt habe. Ein Stichwort wie "Wellness" wäre mir nicht dazu eingefallen. Übrigens hatten wir schon einmal einen Thread zur Neoromantik, von mir damals initiiert, aber dieser entwickelt sich deutlich interessanter.

Ich muß ehrlich sagen, daß ich gegenüber jeglicher "Neoromantik" skeptisch bin, weil mir immer noch nicht klar ist, was genau sie eigentlich bedeuten soll. Wir steigen nie zweimal in denselben Fluß, wie Heraklit sagt, also kann man für mein Gefühl die Spätromantik nicht einfach "wieder aufgreifen". Das empfinde ich als musikalische Mimikri - man komponiert so, als ob in den letzten 120 Jahren nichs passiert sei. Solche Dinge gibt es immer wieder; gibt auch Komponisten, die wollen "wie Mozart" komponieren, oder "wie Bach" - aber wie ernst ist das zu nehmen? Ich nehme es nicht sehr ernst. Oder jemand komponiert Spätromantik, die er dann mit etwas "Modernität" anreichert, auch ein Konzept, auch letzlich nicht überzeugend. Malcolm Arnold allerdings überzeugt mich durchaus, ich habe es schon an anderen Orten geschrieben, ein Beweis, daß man mit den Mitteln der Tonalität durchaus auch heute zu ästhetischen Resultaten kommt.

Aber warum höre ich mir überhaupt neue Musik an? Ich höre sie mir an, weil ich mir erhoffe, daß der neue Komponist mir etwas neues zu sagen hat. Denn an großartiger Musik ist an sich kein Mangel; allein die bedeutenden Werke solcher Komponisten wie Bach, Beethoven, Schumann oder Brahms sich zu verinnerlichen, ist eine Lebensaufgabe. Insofern frage ich mich dann schon, warum mich Neoromantik interessieren soll, wenn sie nicht auch stilistisch etwas neues zu sagen hat?

Die Frage, die sich mir stellt: Ist die Sache mit der Neoromantik denn überhaupt sonderlich ernst zu nehmen? Irgendwie zweifle ich daran. Allerdings ist der Neoklassizismus eine äußerst wichtige Strömung des 20. Jahrhunderts und man kann solche Komponisten wie Strawinski, Prokview, Hindemith und viele andere darunter subsummieren, allerdings ist der Neoklassizismus nun gerade nicht ein Wiederaufnehmen der Wiener Klassik unter Aussparung der musikalischen Romantik, wobei Prokoviews 1. meinetwegen durchaus sich auf Haydn bezieht, aber durchaus kein Haydn ist.

Wenn man dann über Neoromantik spricht, so sollte man darüber sprechen, daß die romantische Musik allerdings möglicherweise wirklich seit Ende des 19. Jahrhunderts in einer Art Krise steckte. Man hat gelegentlich den Eindruck, daß die Musik der Romantik schwülstiger, kitschiger und verstaubter wirkte, je weiter die Romantik voranschritt, etwas was das Genie eines Mahlers vielleicht noch verdecken konnte, aber letzlich sind diese Tendenzen offensichtlich. So etwas wie das Adagietto aus Mahlers 5. etwa ist durchaus grenzwertig, Richard Straus gefiel der Satz nicht.

Ich weiß dann aber letzlich auch nicht, wo die Neoromantik letzlich hin will, Rautavaaras 7. etwa finde ich kitschig. Gehören Sachen wie Tavener oder Goreckis 3. eigentlich zur Neoromantik?

Die Frage, die sich mir grundsätzlich stellt: Was will Neoromantik überhaupt? Und geht das überhaupt? Und was ich daran besonders merkwürdig finde: Neoromantik positioniert sich offensichtlich gegenüber der Avantgarde und tut dabei fast so, als ob es den Neoklassizismus gar nicht gebe. Es hat letzlich durchaus Gründe gegeben, warum man von der Musik der Spätromantik auch weg kommen wollte. Ist dann eine solche Entwicklung überhaupt fortzusetzen? Letzlich glaube ich das nicht; ich fände es unsinnig, die späteste Spätromantik wie meinetwegen Mahlers 8., Strauss Alpensinfonie oder Schönbergs Gurrelieder noch "überbieten" zu wollen und genau an diesem Punkt setzt dann für mich die neoklassizistische Entwicklung ein oder auch die Avantgarde und deshalb glaube ich sehr wohl an die Zukunftsfähigkeit auch tonaler Prinzipien - und es gibt eine Menge tonaler Musik des 20. Jahrhunderts, Britten, Schostakowitsch, Hindemith oder Bartok meinetwegen, die durchaus nicht die Alpensinfonie überboten hat, sondern versucht, die Tonalität mit neuem Sinn zu erfüllen. Will man aber die Spätromantik nicht überbieten - dabei kommt nichts als Kitsch heraus - dann muß man zu früheren Stadien zurück, dann wird die Sache aber zu bloßer Nachahmung meinetwegen des Brahms und das kann ich letzlich auch nicht ernst nehmen.

Gruß Martin
Kreisler_jun.
Inventar
#26 erstellt: 04. Nov 2009, 17:56
Rautavaara habe ich höchstens mal im Radio gehört. Die ebenfalls genannte 9. Simpson-Sinfonie besitze ich zwar, aber noch nicht oft gehört. Hier kann ich nachvollziehen, daß der Komponist (wohl auch nach eigener Aussage) sich in mancher Hinsicht an Bruckner orientiert hat.
Es ist aber meinem Eindruck nach keineswegs eine "Neoromantik", die den an (typische, bitte keine Diskussion über Filmmusik) Filmscores gewöhnten Hörer schwelgen lassen dürfte. Sondern (wie Bruckner auch) ziemlich strenge, dichte und nicht einschmeichelnde Musik.

Ein "romantisches" Werk des 20. Jhds., obgleich (gemäßigt) modern, ist für mich z.B. Brittens Serenade f. Tenor, Horn und Streicher. (ca. 1940 komponiert). Das mag teils an den vertonten Gedichten oder am erzromantischen Instrument Horn liegen.
Ich will nicht ausschließen, daß es noch knapp 70 Jahre später im Einzelfall gelingen könnte, ähnlich wie Britten, ein Echo der Romantik einzufangen. Aber es würde eine Gratwanderung und bedürfte sicher eines sehr stil- und geschmackssicheren Komponisten.

JK jr.
Martin2
Inventar
#27 erstellt: 04. Nov 2009, 18:42
Brittens Serenade finde ich auch sehr schön. Vielleicht drückt sich in solchen Werken auch eine Art Heimweh, eine Art Sehnsucht nach der Romantik aus. Man könnte auch Myaskovski anführen, obwohl man diesen vielleicht auch der Spätromantik zuordnen könnte, aber an sich sind viele seiner frühen Sinfonien etwa doch schon deutlich moderner und die späten dann konservativer. Da könnte man vielleicht gelegentlich auch so etwas wie eine Art von Nostalgie heraus hören. Dieses nostalgische Element ist es auch, was einen Komponisten möglicherweise tatsächlich dazu befähigt, Romantik in einer Art verklärten Form wieder aufleben zu lassen. Und Nostalgie an sich muß ja noch nichts schlechtes sein, im Gegenteil ist es eben dieses Nostalgische, was eine Sache auf anderer Ebene wieder zum Leben erweckt. Aber alte Zeiten nostalgisch wieder aufleben zu lassen, ist etwas durchaus anderes, als ohne alle solche Nostalgie in alten Stilen komponieren zu wollen.

Gruß Martin
WolfgangZ
Inventar
#28 erstellt: 04. Nov 2009, 21:24

Martin2 schrieb:
Also ich fand Rautavaaras 3. Sinfonie nicht so schlecht, besser als die 7., auch wenn ich mich nicht wirklich gründlich mit ihr auseinandergesetzt habe.


Die Diskussion zur "Neoromantik" sollte sich auch wirklich nur auf die postmoderne Periode Rautavaaras beziehen. In den Jahrzehnten zuvor stand er zwischen Klassizismus und Zwölftoneinflüssen. Das gilt auch und gerade für die dritte Sinfonie.

Wolfgang

PS: Heute früh ging das Zitieren, jetzt geht es nicht mehr.

EDIT: Zitat formatiert,
das Häkchen bei "HF-Code aktivieren?" geht schon mal verloren.


[Beitrag von op111 am 05. Nov 2009, 10:27 bearbeitet]
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