Die Nostalgie des alten Radios

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 12. Jul 2008, 15:13
Viele Leute, die ein bißchen älter sind, trauern dem alten Radio hinter her und finden: Früher war alles besser. Das weiß ich nicht.

Insgesamt denke ich eben aber auch, daß sich die Zeiten seit den 70ern insgesamt sehr stark verändert haben. Heute ist sehr viel sehr schnell erreichbar. Das hat nicht nur mit klassischer Musik zu tun aber auch.

Es gibt ja auch Leute, die den drei öffentlich rechtlichen Fernsehprogrammen und ihrer Exklusivität aus früheren Zeiten irgendwie hinterher trauern.

Was ich insgesamt feststelle, ist, daß wir mehr und mehr im Zeitalter des "kulturellen Overkills" leben. 50 Fernsehprogramme, 30 Hörfunkprogramme, vermutlich noch hunderte von Klassikradiosendern weltweit, die Du irgendwo im Lifestream hören kannst, millionen Downloadmöglichkeiten, millionen Internetseiten usw. Ich finde das alles faszinierend, aber irgendwo tritt da bei mir auch eine Übersättigung ein, dieses Überangebot - auch etwa heute bei billigen CDs, mein Gott, sind die Preise bei klassischer Musik gefallen - macht einen irgendwann auch malle. Übrigens gibt es in Hamburg auch eine tolle Klassikbibliothek der Hamburger Bücherhalle. Das gabs früher auch nicht.

Der Langspielplatte, die teuer und störungsanfällig und gelegentlich lausig gepreßt war, trauere ich keine Träne nach. Aber ich denke insgesamt, daß ich gelegentlich zu den alten Zeiten irgendwie ein nostalgisches Verhältnis habe, weil diese Übersättigung eben nicht da war.

In den 70ern zum Beispiel war NDR 3 wirklich gut. Und ich habe mir da viele Sendungen mit meinem Cassettenrekorder mitgeschnitten, zumal mir Schallplatten auch häufig zu teuer waren. Und man hat sich dann auf Sendungen auch gefreut und ihnen regelrecht entgegengefiebert.

Natürlich war das Radio damals auch wirklich besser. Da liefen zur besten Sendezeit die besten Sachen. Die Sinfonien Mahlers, sogar die Sinfonien von Charles Ives, alle, vollständig, mit Kommentar, zur besten Sendezeit. Das war schon toll. Viel lernte man da kennen. Das Radio war gut. Aber es war natürlich trotzdem eine Vorauswahl. Meinetwegen hörte ich wohl die 5. und 7. von Schostakowitsch im Radio, vieles andere, was ich heute sehr schätze, habe ich aber erst auf CD kennengelernt.

Aber es war irgendwie auch gut, daß es da jemanden gab, der eine Vorauswahl traf. Ohne die Vorauswahl eines guten Radios wäre ich zu der Zeit ertrunken in Musik. So kam immer mal wieder etwas, was mich interessierte und das war auch schön und richtig so.

Es ist vermutlich sowieso so, daß mich das Programm von NDR 3, das mich damals begeisterte, heute nicht mehr vom Hocker risse. Ich habe damals eben auch viele Sachen für mich entdeckt. Die ARD Nachtkonzerte finde ich auch heute noch gut, aber vieles von dem, was da läuft, kenne ich längst. So ist es nun mal. Das ist normal. Insofern bin ich auch kein Nostalgiker, ich kenne nur das Gefühl von Nostalgie. Das ist ein Unterschied.

Wem geht es wie mir und wer hat den alten Radio- und Fernsehzeiten gegenüber nostalgische Gefühle? Diese tollen Erfahrungen: Wow, heute läuft auf NDR 3 Bruckners 7. mit Jochum. Das darf ich auf keinen Fall verpassen. Na ja, abgesehen davon war ich ein Jugendlicher damals und hatte nicht viel Geld.

Die neuen Zeiten stellen andere Herausforderungen. Man muß sich viel öfter und viel mehr die Frage vorlegen: "Interessiert Dich das wirklich?"

Na ja, jedenfalls kaufe ich mir seit einiger Zeit wieder eine Fernsehzeitung mit Radioprogramm. Ich will insgesamt wieder ein bißchen zum Radio zurück. Ich finde, es hat mir gefehlt.

Gruß Martin
Deukalion
Inventar
#2 erstellt: 18. Jul 2008, 20:15
Hallo Martin!


Was ich insgesamt feststelle, ist, daß wir mehr und mehr im Zeitalter des "kulturellen Overkills" leben. 50 Fernsehprogramme, 30 Hörfunkprogramme, vermutlich noch hunderte von Klassikradiosendern weltweit, die Du irgendwo im Lifestream hören kannst, millionen Downloadmöglichkeiten, millionen Internetseiten usw. Ich finde das alles faszinierend, aber irgendwo tritt da bei mir auch eine Übersättigung ein, dieses Überangebot - auch etwa heute bei billigen CDs, mein Gott, sind die Preise bei klassischer Musik gefallen - macht einen irgendwann auch malle.


Bezüglich des Überangebotes hast du natürlich Recht! Früher bekam ich via UKW genau einen und nur einen Klassiksender in guter Qualität rein (in meiner Region WDR3). Die mitschneidewürdigen Klassiksendungen (via Tapedeck) waren überschaubar. Natürlich fand ich auch die Zeit, alle Mitschnitte zu hören, mir Anregungen für Klassik- CD- Neueinkäufe zu holen.

Heute habe ich einen SAT- Receiver mit Festplatte, zahlreiche wirklich gute Klassik- Sender sind empfangbar, Programmieren via EPG ist supereinfach, viel komfortabler als das frühere mühsame Mitschneiden via Tape, schon nach wenigen Wochen könnte ich so viele hörenswerte Klassiksendungen aufnehmen, dass ich meine CD- Sammlung erst mal vernachlässigen müsste... Dazu die zahlreichen verlockenden, immer hörenswerten und superpreiswerten CD- Schnäppchen- Empfehlungen von Hüb ( )....,
die relativ neue Möglichkeit der Podcasts... die Internetradiosender....

Du hast schon Recht, Martin: Ein Überangebot, der Zauber von "Heute abend kommt auf WDR3 Bruckners Dritte in der selten zu hörenden Erstfassung von 1873! Das muss ich unbedingt hören!" ist dahin: Einfach zur Stadtbibliothek (oder Bücherhalle!); dort finde ich sie in der CD- Sammlung inzwischen in 3 verschiedenen Interpretationen!

Aber erst mal finde ich die neuen vielfältigen Möglichkeiten absolut faszinierend: So höre ich über SAT- Radio sehr viel Bayern 4- Klassik, den IMHO bei weitem besten, der ARD- Kultur- Sender. Früher hätte ich dafür nach Bayern ziehen müssen , heute kann ich Vieles, auch ohne einen lästigen Umzug - nichts gegen unsere bayerischen Freunde - bequem und in sehr guter Klangqualität aufnehmen und ad libitum hören.

Dabei ist so etwas wie Selbstbeschränkung glaube ich einfach sehr wichtig: Ich nehme nur soviel auf, wie ich in absehbarer Zeit auch wirklich hören kann, vergleiche neue Interpretationen mir bekannter Werke dann mit meinen eigenen CDs u.s.w. Dann machen die neuen Möglichkeiten doch einen Riesenspass und niemand muss mehr dem alten Dampfradio nachtrauern!

Herzliche Grüße
Hartmut


[Beitrag von Deukalion am 18. Jul 2008, 22:30 bearbeitet]
toto_el_bosse
Stammgast
#3 erstellt: 19. Jul 2008, 13:48

Deukalion schrieb:
Dazu die zahlreichen verlockenden, immer hörenswerten und superpreiswerten CD- Schnäppchen- Empfehlungen von Hüb ( )....,

Ein Kreuz ist das, was mich dieser Mann schon Geld gekostet hat...
Martin2
Inventar
#4 erstellt: 20. Jul 2008, 20:21
Hallo Hartmut,

um Dein Sattelitenequipment und Bayern 4 beneide ich Dich. Aber ich kann immerhin DLR Kultur, DLF und NDR Kultur in guter Qualität empfangen. Und dann 3Sat und Arte.

Das reicht mir letzlich auch. Ich wundere mich immerhin, was ich alles verpasse. Eigentlich wollte ich ja Schostakowitschs Klavierquintett mit Richter und Mendelssohn Sommernachtstraum mit Kubelik hören. Aber verpaßt! Verpaßt habe ich immerhin nicht Händels Saul. Strawinskis Feuervogel hätte ich auch aufnehmen können, aus dem Fernsehen, aber auch verpaßt. Solange man aber noch soviel verpaßt, kann der Notstand bezüglich klassischer Musik nicht allzu schlimm sein!

Anderseits wundert es mich schon, daß die Leute die heutigen Möglichkeiten des Mitschneidens von Musiksendungen ohne diese lästigen alten Cassettenrekorder und ihrem Bandsalat nicht mehr nutzen.

Ich habe halt einen Minidiscrekorder und der spinnt gelegentlich. Mit der Aufnahme des Sauls ist es auch nichts rechtes geworden, wohl übersteuert und ein Kanal fällt teilweise aus.

Was ich schade finde ist, daß ich mit meinem DVD Rekorder wohl offensichtlich nicht aus dem Radio aufnehmen kann.

Ja, die Nostalgie! Ich finde das Internet zum Beispiel toll, aber ich finde es schon problematisch, wenn junge Leute ihr Wissen nur aus dem Internet beziehen. Ich hatte halt den Konzertführer von Knaur, den meine Eltern hatten und aus dem habe ich mein ganzes Wissen bezogen. Das war sicher auch sehr gut! Es wundert mich immer wieder, wenn Klassiknewbies hier ankommen und Empfehlungen wollen, warum holen die sich nicht einfach mal einen billigen antiquarischen Konzertführer für ein Euro aus dem Internet? Ist das Lesen von Büchern so out, daß man sich lieber von einem wildfremden im Internet beraten läßt? Ehrlich gesagt verstehe ich es nicht ganz.

Im Internet wird oft der größte Blödsinn wärmstens empfohlen. Dinge, die kaum in Betracht kommen und für einen Anfänger schon gar nicht!

Das ist das, was ich an den neuen Zeiten am meisten vermisse: Die Verläßlichkeit von Information. Wobei dies für einen alten Hasen wie mich kein großes Problem ist, der weiß, wo er sich informieren muß. Der ist mit dem Buch aufgewachsen und hat erst später das Internet für sich entdeckt.

Übrigens gibt es auch heute immer noch Bibliothekare! Man kann also auch heute noch einfach in eine Bibliothek gehen, und einen Bibleothekar fragen: Ich interessiere mich für klassische Musik, können sie mir ein Werk empfehlen, daß mich auf verständliche Weise darüber aufklärt?

Ich finde das Internet wunderbar als Korrektiv; es ist für mich ein Weg der Information, aber als alleinigen finde ich ihn problematisch.

Also auch insofern bin ich ein bißchen nostalgisch. 100 Prozent verläßliche Information gibt es nie. Aber es gibt bestimmte Korrektive. Ich bin jedenfalls froh, durch das gute, alte Radio, den Konzertführer meiner Eltern, die Bücherei und den beschlagenen Musikkenner im Klassikladen an die klassische Musik heran geführt worden zu sein. Das waren alles auf ihre Art seriöse Quellen. Diese Seriösität geht verloren und das finde ich bekümmerlich. Das macht mich nostalgisch. Und heute schreiben immerhin noch viele Leute im Internet, die die klassische Musik auf diese Weise kennen gelernt haben. Ich fürchte, in 50 Jahren wird jeder nur noch sein Steckenpferd reiten und die Seriösität völlig den Bach runter gegangen sein. Auch das macht mich nostalgisch.

Aber vielleicht sehe ich auch zu schwarz. Vermutlich fächert sich die Gesellschaft nur einfach immer weiter auf. Wer ein bißchen Grütze im Kopf hat, wird die Bibliotheken als verläßliche Referenzquelle immer noch zu schätzen wissen und das Internet mit gesunder Skepsis betrachten, selbst wo er es nutzt. Und selbst wenn das Radio vielleicht schlechter geworden ist, wird er auch das öffentlichrechtliche Radio zu schätzen wissen. Er wird dabei immer Korrektive zu schätzen wissen. Aber etwas kann nur dann ein Korrektiv sein, wenn es für sich selbst ein gewisser Maßstab ist. Das Internet ist dabei grundsätzlich überhaupt kein Korrektiv ( obwohl potentiell natürlich doch), es ist kein Maßstab, da kommt nur irgendein Karl Heinz wie ich und meint, hör Dir mal die 56. Sinfonie von Adolf Schweineknecht an, wer die nicht gehört hat, hat umsonst gelebt.

Gruß Martin


[Beitrag von Martin2 am 20. Jul 2008, 21:58 bearbeitet]
Tommy_Angel
Inventar
#5 erstellt: 22. Jul 2008, 10:36
Ich bin bekennender Radiohoerer!

Ide est, der wichtigtse Teil an der Hoerzu ist der Mittelteil, mit den Radioprogrammen. Sicherlich ist es ärgerlich, dass selbst auf Kabel der UKW rauscht. Insofern halte ich nix von Nostalgie.

Aber die Digitalen kommen auch ueber Kabel in sehr guter Qualität.

Mein neustes Hobby ist das Internetradio. Hierbei höre ich besonders gerne BBC 3 (da kam gestern abend Norman Leberecht,leider verpasst)und Radio Beethoven, Chile, und Nea Zealand.

Es hat eben alles seine Reize. Sicher war frueher die Sache aufregender, das Warten auf die Sendung, das rechtzeitige mitschneiden auf Tonband; heute programmiert man das und gut iss.

"Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
wir sollen heiter Raum fuer Raum durchschreiten
An keinem wie an einer Heimat hängen"
Martin2
Inventar
#6 erstellt: 23. Jul 2008, 23:53

Tommy_Angel schrieb:
Sicherlich ist es ärgerlich, dass selbst auf Kabel der UKW rauscht. Insofern halte ich nix von Nostalgie.

Aber die Digitalen kommen auch ueber Kabel in sehr guter Qualität.


Hallo Tommy Angel,

wie bekommt man denn diese Digitalen? Ich habe ja Kabel, schließe mein Radio über Kabel auch daran an, aber da gibt es auch noch die Digitalen? Was ist das? Könnte ich das auch empfangen und bräuchte ich dafür irgendein Gerät? Danke für die Tips mit dem Internetradio.

Gruß Martin

P.S. Von wem war das Zitat noch mal? War das Herrmann Hesse?
Tommy_Angel
Inventar
#7 erstellt: 24. Jul 2008, 07:30
Bei Deinem Kabelanbieter kannst Du Digital mitbestellen, bei ieasy kostete dies mal 1,47 im Monat mehr.

Dafuer bekommst Du einen Kabeldecoder, damit gehts.

Aber eigentlich schlägt Internet Radio dies alles. Man schliesst das Ding ueber einen alten Receiver der 70er (mit Echtholzzarge!) an und hat wieder Nostalgie Radio, (die blaue Skala im Dunkeln).

Ich hoere bsp. den Norman Lebrecht in BBC3 oder in ABC Australia mit seinen Kommentaren und gehe mit New Zealand Radio ins Bett, wenn die dort aufstehen.

Radio Stephansdom in Wien ist zwar katholisch, aber interessante Klassik (zwischen den Bibelzitaten, ).

Etc, etc.

(100 Punkte, Hesse, "Stufen")


[Beitrag von Tommy_Angel am 24. Jul 2008, 07:31 bearbeitet]
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