Entartete Musik?

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 21. Sep 2007, 21:58
Kardinal Meisner hat eine umstrittene Rede gehalten. Hier ist sie dokumentiert:

http://www.kath.net/detail.php?id=17733

Der provokanteste Satz war dieser hier:


Dort, wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kultus im Ritualismus und die Kultur entartet.


Dieser Satz von der entarteten Kultur hat ja wie die meisten von Euch sicher mitbekommen haben, zu größter Empörung geführt.

Wie ist Eure Meinung? Hat Meisner recht? Habt ihr mit dem, was Meisner sagt, eine klammheimliche Sympathie und möchtet es nur nicht offen sagen? Kann über ein solches Thema in Deutschland überhaupt noch eine unaufgeregte Diskussion stattfinden oder ist die mörderische Intoleranz der Nazis und ihrem Begriff der "entarteten Musik" dermaßen belastet, daß eine Dikussion darüber eigentlich unmöglich und auch nicht erwünscht ist?

Natürlich handelte die Rede Meisners in erster Linie von Kunst, aber sie läßt sich natürlich auf Musik übertragen. Ist es bei der Kunst die Schönheit des Menschenbildes, das Meisner aus der Religion ableiten will, so ist es in der Musik die Schönheit ewiger Harmonien oder ähnliches.

Ich persönlich denke, Meisner übertreibt. Ich finde es schon wahr, daß die Religion eine wichtige Muse der Kunst und Musik war und vielleicht noch ist. Es hätte Meisner wohl angestanden, für die Religion als Muse der Kunst zu werben. Er hätte die positiven Aspekte herausstreichen sollen. Stattdessen entdeckt er die "gottlose Kunst", die "gottlose Musik" wohl auch als Feindbild. Und das geht zu weit. Religion ist ein Muse aber nicht die einzige. Manche finden die Quellen ihrer Inspiration vielleicht auch in fernöstlichen Kulturen. Oder auch die Liebe kann eine solche Muse sein.

Degeneration oder Dekadenz in der Kunst gibt es schon. Meisner hätte problemlos solche Worte benutzen können, aber er mußte ja unbedingt das Tabuwort "entartet" verwenden. Immerhin hat er es damit geschafft, in die Medien zu kommen und das war ja wohl auch die Absicht.

Aber war Richard Strauss nicht auch ziemlich gottlos? Und ist diese "gottlose Musik" nicht eigentlich ziemlich göttlich?

Das könnte ein sehr kontroverses Thema werden. Ich hoffe, daß die Diskussion hier nicht völlig "entartet"
premierenticket
Stammgast
#2 erstellt: 22. Sep 2007, 07:22
Das ist doch nur das hilflose Aufbäumen des Vertreters einer überholten Lehre gegenüber dem säkularen Geist. Dass man solchen geistigen Auswüchsen ein mediales Forum gibt, zeigt nur mangelnde Distanz zur Kirche. Dass Meisner Kunst, die nicht religiös angebunden ist, als entartet sieht kann ich mir schon vorstellen. Umgekehrt sind Philosophen wie Kant, Schopenhauer und Nietzsche, die insofern auch entartet sind, meine Referenzen. Zwischen einem Meisner und mir gäbe es also nichts zu diskutieren, da wir keine gemeinsame Referenz hätten - er beruft sich auf seine Vorstellung von Gott und dessen Willen, ich würde mich auf eine Tradition des Denkens und Zweifelns berufen. Da gibt es keinen Anknüpfungspunkt.


Gruß

Premierenticket
enkidu2
Inventar
#3 erstellt: 22. Sep 2007, 07:46
Toller Versuch, Martin, hier wieder Leben in das Forum zu bringen. Doch will ich mich über Meisners Worte überhaupt aufregen? Meine Auffassung ist, sobald Menschen an Religiöses, also an das rational nicht erfassbare glauben, kann man auch nicht mit ihnen diskutieren. Denn diese Menschen sind dem Glauben verhaftet. Für sie erklärt sich alles aus dem Glauben heraus. Die meisten anderen Menschen glauben nicht, sondern erklären sich die Welt aus ihrem Wissen, ihrer Erfahrung heraus, sind als dem Rationalen verhaftet. Da sie nicht alles erklären können, bleibt noch etwas Raum, den man mit Glauben mangels besseren Wissen ausfüllen kann - aber auch nur solange, wie die Wissenschaft diesen Bereich noch nicht erforscht hat. Und der Rest ist reine Projektion, d.h. geht's uns hier nicht gut, hoffen wir (glauben aber nicht) das es uns nach dem Tode im Jenseits besser gehen wird. Wir hoffen das blos, denn sobald es uns hier wieder besser geht, möchten wir ja nicht ins jenseits, weil wir eben nicht glauben können, dass es uns dort selbst dann besser gehen könnte, als wenn es hier schon paradisisch finden. So weit trägt unsere Hoffnung dann doch nicht. Was ich damit sagen will, man kann mit Gläubigen nicht rationall diskutieren. Denn ihr Glaube erklärt sich aus dem Glauben heraus, nicht aber aus der Ratio.

Und nun zu Meisners Rede: (1) Der Begriff "entartet" ist für mich nicht tabu, nur weil die Nazis ihn verwendet haben. Trage manchmal auch braune Hemden, ohne mit den Nazis zu sympathisieren. Ich halte es auch für legitim, von entarteter Kunst zu reden. Für mich kommt es immer noch darauf an, was damit gemeint ist. Auch für mich gibt es Kunst, die sich soweit unkenntlich gemacht hat (wie oft steht man vor einem Bild und sagt, "Das ist doch keine Kunst"), dass sie für mich als Kunst nicht zu erkennen ist. Man könnte dazu auch entartet sagen. (2) Natürlich ist die Verwendung des Begriffs "entartet" nach dem man eben grade über das Dritte Reich und die Nazi gesprochen hatte, von der Wortwahl nicht political correct. Vielleicht fehlt ihm da die Sensibilität für seine kunstliebenden Mitmenschen.

(3) Der eigentliche Knackpunkt ist der Satz als ganzes: "Dort, wo die Kultur vom Kultus, von der Gottesverehrung abgekoppelt wird, erstarrt der Kultus im Ritualismus und die Kultur entartet." Diese These ist nicht nur auf die Kunst oder Musik zu beziehen und gemünst, sondern auf das Leben an sich, die Kultur der Menschheit. Was Meisner sagt ist, dass wer ein Leben ohne Glauben an Gott führt, ein Leben im Ritualismus (mein Haus, mein Auto, meine Frau, meine Kinder, etc) führt und somit dessen Leben entartet und somit das Leben vergeudet, d.h. wertlos ist. Wohl gemerkt, Meisner sagt nicht, dass man wertloses Leben bzw. entartete Kunst vernichten soll bzw. überhaupt darf. Er sagt auch nicht, dass es nicht existieren darf, er sagt nur, letzten Endes war das Leben für die Katz, denn im Sinne eines relgiösen, auf die Jenseitserwartung ausgerichteten Lebens zählt es nicht. Und darüber kann man mit einem Gläubigen nicht streiten: wer kein gottgefälliges Leben führt, lebt eben verkehrt. Basta. Und wer seine Kunst nicht gottgefällig gestaltet, also nach Meisners Worten also nicht Gott in seiner Kunst/Musik preist, der ist dazu verdammt, dass seine Kunst entartet, d.h., sich vom eigentlichen Zweck der Kunst entfernt. Das ist insoweit in sich schlüssig, bis auf den Punkt, dass er für sich herausnimmt zu wissen, äh zu glauben, oder äh doch zu wissen, was gottgefällig ist. Gott könnte ja durchaus auch in jedem kreativen Schaffen etwas ihm gefälliges sehen. Als Priester muss Meisner das, was gottgefällig ist, schon von Amts wegen wissen. Und dann gibt's darüber auch kein diskutieren. Wie unsere Regierung, die uns erklärt, dass es uns jetzt besser geht und sich da nicht von Kleingläubigen oder notorischen Zweiflern rein reden lässt. Ums kurz zu machen: über den Punkt kann man mit Meisner nicht dískutieren. Und da er auf seiner Seite bleibt, und ich meine Sicht habe, ist mir letztendlich herzlich egal, was er oder sein Boss sagen.

Und weil es, wie ich eben nur kurz ausgeführt habe, darüber nichts zu diskutieren gibt, werde ich mich von Dir, Martin ;), nicht zu irgendwelchen Äußerungen provozieren lassen. Dafür ist der Morgen viel zu schön. Und lausche lieber meinem Oberpriester Beethoven und versuche zu verstehen, was er mir mit Opus 59 sagen wollte.

P.S.: Beim Review fällt mir auf, dass der Meisner in mir im Grunde genommen die These von entarteter Kunst mitträgt. Kunst, die mich dauerhaft nicht anspricht, hat für mich (nicht unbedingt für andere) ihren Sinn verfehlt. Ich sage nicht, dass sie ihre Daseinsberechtigung verwirkt hat (als abschreckendes Beispiel mag sie hilfreich sein), aber sie bereichert mein Leben nicht, hat also ihren, von mir unterstellten Sinn für mich nicht erfüllt. Es frommt halt nur, was mir dienlich ist. Da ich aber aus der Vielfalt der Kunst schöpfe, muss auch das "entartete" (um das böse Wort nochmal zu gebrauchen) sein. Oder anders gesagt, wenn wir Licht wollen, müssen wir Schatten in Kauf nehmen, und sei es nur unseren eigenen.
Martin2
Inventar
#4 erstellt: 22. Sep 2007, 12:00
Erstaunlich fand ich auch, was Wikipedia zum Thema Entartung schreibt:


populär gemacht wurde dieser Ausdruck 1892 als Kategorie der Kunst- und Gesellschaftskritik von Max Nordau, einem der Gründungsväter des Zionismus.


Wenn dem so ist, müßte man den Begriff Entartung bezogen auf Kunst eigentlich auch verwenden können. Ob man ihn deshalb unbedingt benutzen muß, ist natürlich letzlich die Frage.

Ich stimme euch weitestgehend zu, in dem was ihr sagt. Ich glaube zwar letzlich nicht, daß Wissenschaft jemals alles erklären, alles plausibel machen kann. Aber in der Tendenz gebe ich euch recht.

Wo ich Enkidu auf jeden Fall Recht gebe, ist, daß die Religion irrationale Schichten der Seele berührt, letztendlich auch irrational ist. Dann sollte man sie meineserachtens aber auch nicht zu stark rationalisieren. Wenn man sagt: Die Religion lehrt dieses oder jenes, dann hat man sie meiner Meinung nach schon viel zu sehr rationalisiert. Glaube ist meines Erachtens eine Sache der Seele nicht des Verstandes, deshalb wird man bei einem solchen "Gefühlschristen" oft gar nicht genau sagen können, was er denn eigentlich glaubt.

Auch im letzten Jahrhundert gab es ja noch großartige spirituelle Kunst. Ich weiß nicht, ob Messiaen ganz ohne seinen Katholizismus denkbar wäre. Ich glaube Tavener ist unter den lebenden Komponisten noch einer, der sich stark der Religion verschrieben hat und religiöse Werke komponiert.

Die Frage ist: Habe ich zu diesen spirituelle Schichten eines musikalischen Werkes noch einen Zugang oder bleibt er einem letztenendes fremd. Ich bin ja katholisch aufgewachsen, mir ist diese Spiritualität nicht fremd und das sehe ich als etwas Positives, auch wenn mir religiöse Glaubensinhalte wie das Jenseits oder das jüngste Gericht letztenendes fremd geworden sind.

Diese Entfremdung von der eigenen Kultur sehe ich als etwas letztenendes schon problematisches an. Insofern gebe ich Meisner schon ein wenig recht, nur daß er natürlich maßlos übertreibt. Ich persönlich verstehe mich jedenfalls schon zu einem gewissen Maße als "Kulturchrist", ich kann christliche Kultur halt schon lesen und dechiffrieren, einschließlich der Musik und das habe ich meiner christlichen Erziehung zu verdanken.

Das sind ganze Kategorien von Empfindung, die im nackten Atheismus wegbrechen: Das Heilige, das Feierliche, das Selige, das Ekstatisch Verzückte, das Mystische, das Ewige. Einfach weg, einfach nicht mehr erfahrbar. Das finde ich sehr schade. Man muß das Spirituelle in Bruckners Musik doch auch hören können. Man muß deshalb nicht notwendigerweise religiös sein, aber diesen religiösen Zugang letzlich noch haben und sei es der eines Erinnerns an frühere Bewußtseinszustände, wo man vielleicht noch religiös war.
Joachim49
Inventar
#5 erstellt: 22. Sep 2007, 12:48
Ich glaube, dass das was der Herr Meissner gesagt hat einfach Quatsch ist und das es sich nicht lohnt darüber lang zu diskutieren. Er hat gesagt dass Kunst, die nicht religiös ist gar keine Kunst ist. Das ist gegenüber vielen Künstlern schlicht und einfach beleidigend. Wenn sich der Herr Meissner dessen nicht bewusst ist, dann ist er dumm, und wenn ja, unverschämt. Nun zum Ausdruck 'Entartung'. Woher der Begriff auch kommen mag, man kann ihn heute nicht mehr unbefangen verwenden, weil er ja seitdem eine Geschichte hat. Die entarteten Künstler wurden von den Nazis vertrieben oder ermordet. Kein Mensch mit ein bisschen Geschichtsbewusstsin kann das vergessen. Was will Herr Meissner damit sagen. Dass es die 'entarteten' Künstler eigentlich nicht anders verdient haben als ermordert oder vertrieben zu werden? Denn entartete Kunst hat es ja nicht anders verdient als ausgemerzt zu werden. Man muss die Menschheit vor ihr schützen. Die Bemerkung 'entartet' ist entweder 'dumm' oder geradezu 'kriminell'. Ich stehe also vor der Wahl den Herrn Kardinal für 'dumm', 'beleidigend' oder 'kriminell' zu halten. Diesen Herrn verdanken wir ja der extrem konservativen und völlig unkollegialen Ernennungspolitik eines polnischen Papstes, der diesen Herrn ja den Kölnern gegen ihren Willen und den der Mehrheit des deutschen Episkopats aufgezwungen hat. Solche Herren schaden der katholischen Kirche mehr als sie ihr nutzen. Ein paar ewig Reaktionäre mögen sich darüber freuen. Natürlich gibt es grossartige religiöse Musik, und natürlich auch grossartige Kunst, die mit Religion nichts zu tun hat (es sei denn man sieht in der Kunst generell etwas Religiöses. Aber das will der Herr Meissner ja auch nicht. Nur die richtige Religion, die alleinseligmachende Römische, kann echte Kunstwerke hervorbringen. Nur, warum tut's sie's denn nicht. Die Vergöttlichung der Kunst und die Künstler wie <Heilige verrehren, dass will der Herr Kardinal wohl kaum.

Noch was zu Bruckner. Er war ohne Zweifel ein frommer Mann. Er hatte auch Gefühle die nicht-religiöser Art waren. Sein Leben lang war er auf der Suche nach einer Lebenspartnerin, lief (sehr jungen) Mädchen nach, an denen er sich nicht sattsehen konnte. Und unter seinem Schlafanzug trug er eine Badehose, damit der nächtliche Samenerguss keine Spuren hinterliess (er lief ohnehin viel in der Badehose rum, da er leicht schwitzte). Wetten, dass davon auch einiges in seiner Musik zu hören ist: die Sehnsucht und der Schmerz des in seiner Liebe zurückgewiesenen. Dass man bei Bruckner immer gleich die religiösen Register zieht - bei einem Organisten ein recht zutreffendes Bild - scheint mir nicht immer hilfreich oder zutreffend zu sein. (Die dem lieben Gott gewidmete Neunte ist ja wohl eher eine Klage als ein Gebet). (Die biographischen Angaben zu Bruckner finden sich in dem Buch 'Bruckner remembered', das Zeugnisse von Freunden und Zeitgenossen Bruckners enthält.)

Meine Reaktion auf Meissner ist nicht anti-katholisch. Ich habe selbst Wurzeln im Katholizismus. Viele Katholiken denken genau so über ihn. Ich habe einige Jahrzehnte mit Jesuiten zusammengearbeitet und weiss wie gespalten das Verhältnis zu solchen 'Typen' ist. (Ich meine 'Typ' hier nicht beleidigend. Herr Meissner ist sehr repräsentativ für einen bestimmten Typus des Katholizismus, - den leider ein polnischer Papst sehr favorisiert hat.
Freundliche Grüsse
Joachim
Martin2
Inventar
#6 erstellt: 22. Sep 2007, 12:58

Joachim49 schrieb:
Ich glaube, dass das was der Herr Meissner gesagt hat einfach Quatsch ist und das es sich nicht lohnt darüber lang zu diskutieren.


Schon richtig, jedoch kann man die ganze Sache, die in der Presse hochgepuscht wurde, natürlich auch als Aufhänger für eigene Diskussionen benutzen. Mehr wollte ich auch gar nicht.
Joachim49
Inventar
#7 erstellt: 22. Sep 2007, 15:06

Martin2 schrieb:

Joachim49 schrieb:
Ich glaube, dass das was der Herr Meissner gesagt hat einfach Quatsch ist und das es sich nicht lohnt darüber lang zu diskutieren.


Schon richtig, jedoch kann man die ganze Sache, die in der Presse hochgepuscht wurde, natürlich auch als Aufhänger für eigene Diskussionen benutzen. Mehr wollte ich auch gar nicht.


Ich hab ja auch mitgemacht.
J
Martin2
Inventar
#8 erstellt: 22. Sep 2007, 16:03
Übrigens bin ich glaube ich auf einer gewissen Ebene tatsächlich religiös. Ich glaube doch, daß es in der Bibel einen wahren Kern gibt. Auf irgendeiner Ebene ist Jesus doch für mich der Messias.

Jedoch kann ich nicht auf so einer naiven Ebene glauben, wie dies vielleicht ein ganz einfacher Mensch tut, für den Gott tatsächlich eine Person ist, mit der er kommunizieren kann. Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott und ich glaube kaum ein halbwegs intelligenter Mensch tut das.

Jedoch verstehe ich mich immer noch als Christ. Ich glaube nicht, daß in der Bibel "alles Quatsch" ist, ich glaube nur, daß die Bibel auf sehr verschiedenen Ebenen kommuniziert. Ich glaube in jedem Fall, daß die Bibel einen Standpunkt vermittelt, der gegenüber dem einfachen Materialismus, dem primitiven: "Ich glaube was ich sehe" doch erhaben ist.

Sollte es also einen Streit um Meisner geben und seine Haltung gegenüber "entarteter Kultur", so könnte ich zur Not die Rolle des Verteidigers des Meisnerschen Standpunkt übernehmen. Allerdings auch wirklich nur zur äußersten Not. Denn an sich bin ich mit seinem Standpunkt nicht einverstanden. Ich könnte mich allerhöchstens vage damit einverstanden erklären, worauf er vielleicht zielt.

Aber ein Priester ist letztenendes nicht frei, er muß seine Schäflein im Auge haben, mit denen ich definitiv nichts zu tun habe, er kann auch kluge Sachen sagen, aber letztendlich muß es doch immer auf einen dummen Standpunkt hinauslaufen.

Es ist diese höhere Spiritualität, auf die ein Werk wie Mahlers 8. letzlich hin zielt. Mahler war kein ganz so naiver Mann, durchaus nicht. Er kann die einfache Religiosität rührend darstellen, wie er das in der zweiten in diesem Urlicht getan hat, in der dritten im Gesang der Engel oder auch in der vierten. Adorno hat glaube ich über die vierte mal geschrieben, daß sie eher ein Bekenntnis zum Unglauben als zum Glauben darstellt. Dieses Himmelreich in der vierten ist zu naiv dargestellt, daß dies "durchaus nicht als Parodie" aufgefaßt werden soll, ist ja bezeichnend.

Aber die 8. ist sozusagen das spirituelle Hauptwerk Mahlers, eines in dem er sich vom naiven Glauben längst gelöst hat und ihn nur der "spirituelle Urgrund" interessiert, nicht mehr dieses "der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben". Adorno hat das Werk glaube ich völlig verrissen und er hat Unrecht. Nicht nur musikalisch, sondern auch im Gehalt.

Wenn also Meisner sagen würde: Wir haben teilweise die Beziehung zu unseren spirituellen Wurzeln verloren, so bin ich dabei. Nur geht es ihm eben nicht um Spiritualität, sondern um den blinden Glauben ans Christentum und da bin ich eben nicht mehr dabei, sosehr ich auch sein Dilemma als religiöser Leithammel verstehe.
Joachim49
Inventar
#9 erstellt: 22. Sep 2007, 21:28

Martin2 schrieb:
Übrigens bin ich glaube ich auf einer gewissen Ebene tatsächlich religiös.
Sollte es also einen Streit um Meisner geben und seine Haltung gegenüber "entarteter Kultur", so könnte ich zur Not die Rolle des Verteidigers des Meisnerschen Standpunkt übernehmen.


Ich habe nichts gegen Menschen mit religiösen Gefühlen. Ich habe sie manchmal auch, - und manchmal auch durch Musik. Aber wenn jeman einem sagt: 'Du kannst kein wirklicher Künstler sein, weil Du nicht religiös bist', dann finde ich das anmassend. Wenn ich ein 'Ungläubiger' Künstler wäre, dann fühlte ich mich durch solch eine Aüsserung gekränkt, zurecht glaube ich. Es war übrigens noch nie eine gurte Idee wenn Politiker oder kirchliche Würdenträger kunstpolitische Äusserungen getran haben. Meistens geht es dann nicht um die Kunst, sondern soll die eigenen Zwecken dienen. Interessant, übribens, einmal einen Verteidiger der Mahler'schen Achten zu hören. Alle Mahlerfans die ich kenne stehen ihr eher reserviert gegenüber.
Mit freundlichen Grüssen
Joachim
Martin2
Inventar
#10 erstellt: 22. Sep 2007, 22:04
Ich bin mit Abravanels 8. aufgewachsen, habe sie mir später auf CD geholt und schätze sie in dieser Einspielung sehr. Das ist sicher keine "perfekte" 8., es ist eben der "Utah University Chorus", aber die singen mit Hingabe. Solti fand ich bombastisch, Bernstein einfach indiskutabel. Liegt wohl auch zum Teil am Klang. Mahler hat jedenfalls dieses eigenen Werk äußerst geschätzt ( " das ist das größte, was ich je gemacht habe") Soviel nur zur 8.

Ansonsten gebe ich Dir bezüglich Meisners natürlich schon recht. Im Grunde kann ich solche Statements aber auch nicht wirklich ernst nehmen, der Mann ist Priester, sogar Bischof und Kardinal, was will man da eine "sachliche Analyse" erwarten?

Trotzdem wird er wahrscheinlich vielen aus der Seele sprechen, wenn die ihre Kirche halt so haben wollen, wie sie es gewöhnt sind. Ich glaube, es ging da auch um ein modernes Kirchenfenster im Kölner Dom. Ich kenne dieses Kirchenfenster selbstverständlich nicht, kann mir aber wohl vorstellen, daß es innerhalb des "Ambientes" des Kölner Doms wie ein Stilbruch wirkt. Und das mag ich auch nicht.
Joachim49
Inventar
#11 erstellt: 22. Sep 2007, 22:57

Martin2 schrieb:
Ich glaube, es ging da auch um ein modernes Kirchenfenster im Kölner Dom. Ich kenne dieses Kirchenfenster selbstverständlich nicht, kann mir aber wohl vorstellen, daß es innerhalb des "Ambientes" des Kölner Doms wie ein Stilbruch wirkt. Und das mag ich auch nicht.


Man kann das Fenster via Spiegel on-line begutachten:http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,501994,00.html
(Ein bisschen weiter unten kann man 4 Abbildungen begutachten. ) Meissners umstrittene Äusserung zur 'Kunst' hat nicht direkt etwas mit dem Fenster zu tun, sondern wurde aus Anlass der Eröffnung eines Museums für christliche Kunst gemacht. Das Fenster scheint dem Kardinal auch nicht besonders gefallen zu haben, den er meinte, es passe besser in die Moschee (die auch in Köln gebaut wurde). Diese Äusserung zeugt sumindest von Sachverstand. Das Fenster im Dom ist abstrakt, es enthält keine bildliche Darstellung aus der biblischen Geschichte, wie sonst durchaus üblich. Da der Islam religiöse bildliche Drastellungen verbietet, würde ein 'abstraktes' Fenster durchaus in eine Moschee passen. Es ist ja wohl wegen dieses Bilderverbotes, das die islamische Kunst das Ornament so reich entwickelt hat. Insoweit ich es auf der Grundlage der Spiegel-Fotos beurteilen kann, fällt das neue Fenster allerdings nicht aus dem Rahmen, weder figürlich noch -hoffentlich - wörtlich.
Freundliche Grüsse
Joachim
(Ich habe Mahlers 8te mit Inbal, Bernstein, Järvi (senior) und jüngst Rattle. Werde in Kürze wohl mal die Rattleversion hören). Mit Abravanel hab ich die Dritte.
Martin2
Inventar
#12 erstellt: 22. Sep 2007, 23:25
Ach ja, Järvis 8. habe ich auch, allerdings so eine Liveeinspielung. Ganz schrecklich, viel zu schnell. Mahlers 3. mit Abravanel habe ich auch, gefällt mir aber nicht mehr so gut, jedenfalls im ersten Satz. Das wurde schon fetziger gespielt, erinnere mich an eine schöne Aufnahme mit James Levine, die Ende der 70er rausgekommen ist. Habe im Fall der 3. noch Naxos mit Antoni Wit, die ich gar nicht schlecht finde. Wenn mir irgendwann noch mal der Levine über den Weg liefe, würde ich ihn mir holen. Obwohl Levine nicht unbedingt als Mahlerinterpret berühmt ist, kann mich gar nicht erinnern, daß er sonstwas von Mahler eingespielt hat.
Boettgenstone
Inventar
#13 erstellt: 23. Sep 2007, 11:33
Hallo,
ich glaube in dieser Presseaktion hat sich jemand gewollt im Ton vergriffen.
Wie der Mensch darauf kommt ist mir auch völlig schleierhaft, ich kann mir das eigentlich nur mit Fanatismus und Ignoranz erklären, aber jeder wie er will, man sollte sich dann nur nicht wundern wenn einem mal ein ziemlich harscher Wind ins Gesicht fegt oder die Gläubigen wegrennen.
Klassikkonsument
Inventar
#14 erstellt: 23. Sep 2007, 11:50

Martin2 schrieb:
Es ist diese höhere Spiritualität, auf die ein Werk wie Mahlers 8. letzlich hin zielt. Mahler war kein ganz so naiver Mann, durchaus nicht. Er kann die einfache Religiosität rührend darstellen, wie er das in der zweiten in diesem Urlicht getan hat, in der dritten im Gesang der Engel oder auch in der vierten. Adorno hat glaube ich über die vierte mal geschrieben, daß sie eher ein Bekenntnis zum Unglauben als zum Glauben darstellt. Dieses Himmelreich in der vierten ist zu naiv dargestellt, daß dies "durchaus nicht als Parodie" aufgefaßt werden soll, ist ja bezeichnend.

Aber die 8. ist sozusagen das spirituelle Hauptwerk Mahlers, eines in dem er sich vom naiven Glauben längst gelöst hat und ihn nur der "spirituelle Urgrund" interessiert, nicht mehr dieses "der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben". Adorno hat das Werk glaube ich völlig verrissen und er hat Unrecht. Nicht nur musikalisch, sondern auch im Gehalt.


Ich kann die Leute nicht verstehen, die meinen, Mahlers frühere, vom Wunderhorn inspirierte Werke wären ein Ausfluss naiver Religiösität. Selbst wenn diese Wunderhorn-Texte nicht von Brentano und Arnim bearbeitet oder gar gedichtet worden sind und damit Produkte einer vergangenen Volksfrömmigkeit, so sind sie - ursprünglich wohl unfreiwillig - doch doppelbödig.
Denn diese Volksfrömmigkeit laviert zwischen dem eigentlich recht materialistischen Wunsch, dass das konkret erfahrene Leid und der schiere Mangel im "irdschen Jammertal" endlich aufhören mögen und der nur halbverstandenen offiziellen "hohen" Theologie, die dem erlösungswilligen Menschen sehr umständliche intellektuelle Operationen und insbesondere Bescheidenheit, Entsagung und Selbstverleugnung abverlangt.
Sowohl das "Urlicht" wie auch "Vom himmlischen Leben" haben es doch faustdick hinter den Ohren. Sie zeugen von einer Bauernschläue, über die der distinguierte Kirchenpräsident halb lächelt und halb die Nase rümpft.
"Wir genießen die himmlischen Freuden, drum tun wir das Irdische meiden" meint doch gerade, wie man dann im Folgenden sehen kann, dass wir von dem Elend und der Entsagung im Irdischen gründlich die Nase voll haben. Denn die aufgezählten himmlischen Freuden sind einfach die irdischen Freuden minus die Mühe und die Mängel, die einem ja nur allzu vertraut sind. Und trotzdem schimmert das irdsche Jammertal immer noch durch: "Sankt Martha die Köchin muss sein".
Obendrein scheint mir Mahler das Finale so doppeldeutig komponiert zu haben, dass man am Ende nicht entscheiden kann, ob der kindliche Erzähler nun ganz in der Seligkeit des himmlischen Lebens aufgeht und daher verstummt, sozusagen selig entschlummert und seine Individualität sich in der Indentität mit dem Göttlichen wunschlos auflöst (genaugenommen auch ein gruseliger Gedanke) oder aber seiner durch schlichte Abstraktion gewonnenen Vision allmählich die Luft ausgeht.
Martin2
Inventar
#15 erstellt: 23. Sep 2007, 14:47
Hallo Klassikkonsument,

ich glaube, Du hast mich gründlich mißverstanden, wenn Du glaubst, daß ich die Wunderhornsinfonien als "Ausfluß naiver Religiösität" deute. Die vierte schon mal gar nicht.

Allerdings kann man die Spielanweisung der vierten "durchaus nicht als Parodie" durchaus auch wörtlich nehmen. Es geht in den Wunderhornsinfonien eben auch nicht darum, die religiösen Vorstellungen zu parodieren.

Ich denke Mahler war auch stark geprägt von Dostojewski, einem durchaus christlichen Schriftsteller, der aber, wenn man genauer hinschaut, durchaus kein naiver Schrifsteller war.

Jedenfalls glaube ich schon, daß sich Mahler eben auch als Christ verstanden hat. Was immer man dann damit meint, daß sich jemand "als Christ versteht". Jedenfalls meint es ganz sicher nicht, daß sich Mahler mit der Religion "ein Späßlein hat machen wollen". Die zweite ist auch schon ernst gemeint, da gibt es gar keine Frage.

Natürlich ist alles an der Mahlerschen Spiritualität von Anfang an gebrochen, das ist ja gar keine Frage. Vielleicht liegt das daran, daß Mahler als Jude zum Christentum konvertierte ( was ich allerdings nicht als zynischen Schritt des Außenseiters in die Mehrheitsgesellschaft begreife), mehr aber noch liegt es in der Mahlerschen Persönlichkeit begründet.

Von Mahler fühlte ich mich eigentlich immer verstanden, von Bruckner fühlte ich mich nie so verstanden, das war ein katholischer Musiker, ein Strenggläubiger, dessen Werke ich mir zwar mystisch zurechtlegte, die aber mein eigenes Wesen eigentlich nicht trafen. Mit Mahler war das anders. Insbesondere mit 17,18, als ich noch in der katholischen Kirche war, aber mein Glaube doch stark zu bröckeln begann, bzw. eigentlich nur noch ein mystischer Glaube war, der von jedem Dogma unbeleckt war, war Mahler für mich eben sehr wichtig. Er traf meinen Nerv sozusagen.

Jedenfalls halte ich Mahler ganz unbedingt für einen spirituellen Menschen, auch für einen christlichen Menschen, so wie immer gebrochen dieses Christentum auch gewesen sein mag. Seine Bewunderung für Dostojewski ( den ich in meiner Jugend natürlich auch emsig las) gibt davon Zeugnis.
Klassikkonsument
Inventar
#16 erstellt: 23. Sep 2007, 17:32
Hallo Martin


Martin2 schrieb:

ich glaube, Du hast mich gründlich mißverstanden, wenn Du glaubst, daß ich die Wunderhornsinfonien als "Ausfluß naiver Religiösität" deute. Die vierte schon mal gar nicht.

Allerdings kann man die Spielanweisung der vierten "durchaus nicht als Parodie" durchaus auch wörtlich nehmen. Es geht in den Wunderhornsinfonien eben auch nicht darum, die religiösen Vorstellungen zu parodieren.


Das glaube ich auch. Die Religiosität scheint mir bei Mahler auch wie Du weiter unten schreibst gebrochen zu sein. Wenn man etwa das Finale der 4. als Parodie interpretierte, wäre das verfehlt, weil die Doppelbödigkeit verloren ginge. Es wäre sicher falsch, einfach eine sozialistisches Agitationslied darin zu sehen.
Andererseits meine ich eben, dass dieses Lied ein religions- und gesellschaftskritisches Potenzial hat, weil mir der Bruch in dem Gegensatz zwischen kaum verdruckstem weltlichen Interesse und hohem geistlichen Erlösungsversprechen objektiv Fragen aufzuwerfen scheint, auch wenn sie sich nur in einem diffusen Merkwürdig-Berührtsein niederschlagen.


Natürlich ist alles an der Mahlerschen Spiritualität von Anfang an gebrochen, das ist ja gar keine Frage. Vielleicht liegt das daran, daß Mahler als Jude zum Christentum konvertierte ( was ich allerdings nicht als zynischen Schritt des Außenseiters in die Mehrheitsgesellschaft begreife), mehr aber noch liegt es in der Mahlerschen Persönlichkeit begründet.


Zum Christentum ist Mahler AFAIK konvertiert, weil er sonst nicht Dirigent an der Wiener Oper hätte werden können. Ich glaube, insofern gab es in Mahler schon eine Opposition gegen die christliche und antisemitische Mehrheitsgesellschaft.

LG

Klakon
Martin2
Inventar
#17 erstellt: 23. Sep 2007, 20:03
Hallo Klassikkonsument,

ich glaube, ich müßte mir mal wieder eine gute Mahlerbiographie reinziehen. Ich habe welche gelesen, aber das ist vermutlich auch wieder 20 oder sogar 25 Jahre her. Inzwischen ist viel Zeit ins Land gegangen und so viel ist nicht hängen geblieben. Wenn ich das nächste mal in die Bücherei gehe, werde ich mir mal eine ausleihen.

Gruß Martin
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