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Bach: Kantaten

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Martin2
Inventar
#51 erstellt: 28. Aug 2010, 18:04
Hallo Joachim,

ich glaube gerne, daß Holland ein höchst tolerantes Land ist, wo man an allem und jedem Kritik üben kann. Ich habe es nur so gelesen und gebe nur die Meinung von jemand anderem wieder - die im Sinne wirklicher "Intoleranz" vermutlich auch gar nicht gemeint war und so habe ich sie auch damals schon nicht aufgefaßt.

Ich gebe Dir im übrigen auch Recht, daß auch mir der Countertenor auf diesen Aufnahmen nicht so gut gefällt. Allerdings sollte man die Leusinkaufnahmen auch nicht so schlecht machen. Wenn ich ein paar Bachkantaten in diesen Aufnahmen durchaus auch schätze, wird das wohl auch seinen Grund haben.

Gruß Martin
flutedevoix
Stammgast
#52 erstellt: 10. Okt 2010, 12:26
Hallo,

einige wenige Anmerkungen zu den Bach-Kantaten, das wesentliche ist eigentlich gesagt.

Zu Leusink: Chorisch wiklich "unter aller Sau", aber auch interpretatorisch zu unentschiden, meist einfach nur pauschal, auch orchestral gibt es wesentlich besseres! Ich finde, da sticht dann auch der Preis nicht, das hat Bach so nicht verdient.

zu Rilling: gerade die älteren Einspielungen sind was das Orchester angeht wirklich schlimm. Das war schon damals nicht, das was man unter stilistisch angemessenenm Bachspiel erwarten durfte. Ich meine jetzt nicht die Oboen, Trompeten und (mit Einschränungen) die Querflöte. Aber viele Violin-Soli sind einfach nicht erträglich (obwohl mit oft Walter Forchert der damailge Konzertmeister der Bamberger spielt) und von Peter Thalheimer an der Blockflöte wollen wir gar nicht reden. Der vergräzt einem sogar die wunderbare Himmelskönig-Kantate! Zum Teil sehr gute Solisten, auch die chorische Arbeit ist über weite Teile eigentlich gelungen.

Aber!!!!!!!

Rotzsch: Die wohl am meisten unterschätzte Einspielung. Interpretatorisch oft durchdachter als Rilling, cohrisch durch die famosen Thomaner auch gut, z.T. die gleichen Solisten wie Rilling und instrumental oft ein Pfund besser. Man muß nur die relativ langsamen Tempi mögen. Wenn schon nicht HIP (was bei Bach in meinen Augen Pflicht ist), dann diese Einspielungen.

Herreweghe; Das Beste vom Besten! Chorisch gut, durch die Bank phantastische Solisten und Instrumental einfach unglaublich. Beeindruckend ist auch die Ensemble-Balance: Mittelstimmen stehts durchhörbar, Chor und Orchester superb ausbalanciert. Über die Interpretationen braucht man eigentlich gar nicht zu sprechen. Als Einstiegsdroge empfehle ich einfach nur die Baß-Solo-Kantaten mit Peter Kooy und Alt-Solokantaten mit Andreas Scholl. Leider, leider plant Herreweghe immer noch keine Totale!

Gardiner, Hengelbrock, Koopman:
Gute Aufnahmen, die aber im Vergleich zu Herrewghe alle abfallen. Keine hat diese durchweg in allen Belangen gute Qualität

Cantus Cölln: Bei solistischer Besetzung der Chorstimmen vergleichbar mit Herreweghe
Joachim49
Inventar
#53 erstellt: 10. Okt 2010, 21:08
Die Bachkantaten mit Kooy und Scholl gibt's in Kürze im günstigen 3-er Pack. Auch andere Kantaten mit Herreweghe gibt's bei harmonia mundi france im 3-er Pack (offensichtlich wird es eine Serie).
jpc.de
Auch die älteren Virgin Aufnahmen gibt's zum Teil günstig, z.B.:
jpc.de
flutedevoix hat ja beinah den Ehrentitel "Kulturbotschafter Flanderns" verdient, bei soviel Lob für Herreweghe und Van Immerseel. Zählt man Kuijken und Rene Jacobs noch dazu (es gibt noch andere), dann ist es wirklich erstaunlich, wie stark die HIP-szene in diesem kleinen Flecken Europas ist.
(Ach wären die Politiker auch nur halb so fähig, wie die Musiker hier ....)
Freundliche Grüsse
Joachim
Deukalion
Inventar
#54 erstellt: 13. Okt 2010, 18:06
Hallo Flutedevoix!
Danke für deine Einschätzung der verschiedenen Bach- Kantaten- Interpretationen! Die Wertschätzung Herreweghes teilen wir ja!
Wie schätzts du denn die Interpretation von Kuijken mit La petite bande i. Vergl. zu Herreweghe ein?

Gruß
Hartmut
flutedevoix
Stammgast
#55 erstellt: 17. Okt 2010, 18:52
Hallo Hartmut,

ich kenne nur eine CD der sich wohl zu einer Gesamteinspielung entwicklnden Reihe von Sigiswald Kuijken. Es ist die CD mit Kantaten BWV 13,
73,81 und 144.

Die große Frage momentan schein ja in der Bachforschung zu sein, ob man chorisch oder solistisch besetzt. Das bezieht sich nicht nur auf die oratorischen Werke, spätestens seit der Aufnahme der Brandenburgische Konzerte durch Richard Egarr, ist dies ja auch im Bereich der "Orchester"werke eine in der Öffentlichkeit wahrgenommene Frage.
Ich tendiere dazu, die frühen Bachkantaten wie etwa den Actus tragicus BWV 106 solistisch zu besetzen, sowohl vokal wie auch instrumental. Das legt in meinen Augen die kompositorische Faktur der Werke begründet. Bei den späten Kantaten tendiere ich zu chorischer Besetzung, eben weil sich auch Bachs Kompositionsstil ändert.
Ich möchte aber betonen, daß hier insgesamt nur von wissenschaftlichen Indizien ausgegangen werden kann, harte Fakten existieren meines Wissens nicht. Ich denke, daß vor allem die Größe des Aufführungsortes (Adelshof, Kirchengemeinde) und deren Finanzstärke und damit das Angebot an Musikern über die Stärke der Besetzung entschieden haben. Wie sehr Bach mit der aktuellen Lage rechnete, zeigen der Einsatz und der Umfang (Virutosität) von bestimmten Instrumentalpartien selbst in einer großen Universitätsstadt wie Leipzig.

So dies war nun viel vorweg, finde ich aber gerade bei Deiner Frage angebracht, entfacht doch Kuijken gerade die Frage nach solistischer Besetzung der Chorpartien gerade neu.

Ich finde die mir bekannte Kuijken-CD problematisch.
Die solistische Besetzung führt natürlich zu einer gerade zu plastischen Durchhörbarkeit. Ich finde aber, daß diese quasi kammermusikalische Freiheit viel zu wenig zur Interaktion zwischen Sängern und Instrumentalisten genutzt wird.
Weiter verschmelzen die Solisten zuwenig zu einem Vokalensemble, für meinen Geschmack ist das zu linear gedacht.
Was besonders auffällt, ist die relativ schlechte Aussprache des Deutschen.
Auch instrumental finde ich die Aufnahme zu asketisch. Wie schon im vokalen Bereich finden sich auch hier die Instrumentalisten nur zu selten zu einem Ensemble zusammen. Klangfarben, die durch das Zusammenspiel verschiedener Instrumente entstehen, sind dadurch naturgemäß selten zu finden.

Das alles löst Cantus Cölln bei einer ähnlichen Ausgangslage besser, da kommt Klangsinnlichkeit auf, die Textausdeutung und das rhetorische Element der Musik kommen wesentlich besser zur Geltung.

Viele Grüße
Johannes
Deukalion
Inventar
#56 erstellt: 17. Okt 2010, 21:29
Hallo Johannes!
Danke für deine ausgesprochen differenzierte Antwort!
Den Ansatz, die frühen Vokalwerke eher solistisch, die späteren chorisch zu besetzen, finde ich sehr plausibel! Eine Aufnahme mit einer solch flexiblen Besetzungsstrategie gibt es aber noch nicht, oder?
Manchmal kann ich mich auch nicht des Eindrucks erwehren, dass neue Aufführungsparameter (z. B. bei Kuijken solistische statt chorische Besetzung bei den Bach- Kantaten) auch deswegen eingeführt, umgesetzt und feurig musikwissenschaftlich begründet werden, weil damit ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber Konkurrenzaufnahmen gegeben ist. Es gibt allerdings Protagonisten in der Alte- Musik- Szene, denen ich ihr Engagement für neue Aufführungsideen unbedingt abnehme, auch wenn ich es als Laie und reiner Musikliebhaber eigentlich wenig beurteilen kann
Zu Letzgenannten zählen für mich Herreweghe, Immerseel und Junghänel. Aber das ist nur meine höchstsubjektive und wie gesagt laienhafte Einschätzung!
Schönen Gruß
Hartmut
flutedevoix
Stammgast
#57 erstellt: 17. Okt 2010, 23:35
Hallo Hartmut,

dein Eindruck trügt in der Tat nicht, manchmal bemüht man schon sehr irgendwelche andiskutierten Erkenntnisse um ein gewisses Alleinstellungsmerkmal zu haben.

Zu Kuijkens Ehrenrettung muß man sagen, daß er auch zu den Musikern gehört, die nicht gleich der allerneuesten Mode nachrennen. Vielmehr denkt er zunächst und realisiert dann.
Die Diskussion und auch die Aufführungstradition mit solistisch besetzten Chorpartien ist ja nicht neu. Josua Rifkin hat in den späten 80er/ frühen 90er auch etliche Kantaten mit solistisch besetzten Chorpartien eingespielt. Bisher kennen ich die Aufnahmen allerdings nicht, was sich aber demnächst ändert, da ich demnächst eine CD aus dieser Reihe bekomme. Auch die berühmte und sehr kontrovers diskutierte Aufnahme der h-moll-Messe unter Gardiner arbeitet ja abschnittsweise mit solistischen Chorpartien.

Vielleicht muß ich noch nachreichen, daß die Aufnahme unter Kuijken, die ich kenne, keineswegs dilletantisch ist, sondern sich vielmehr auf sehr hohem Niveau bewegt. Im Vergleich zu anderen Interpreationsansätzen und Einspielungen würde ich sie aber aufgrund der genannten "Schwächen" nicht mit an die Spitze setzen. Möglicherweise werden die Einspielungen ja auch noch diffenrezierter und gleichzeitig homogener
flutedevoix
Stammgast
#58 erstellt: 30. Okt 2010, 13:24
Nun also Josua Rifkin:

Ich habe die CD letzte Woche in der Einzelversion bei DECCA Florilegium antiquarisch erworben. Es ist mein erster Kontakt mit den Kantaten-Einspielungen mit Rifkin, die ja in den 90ern heftig diskutiert wurden wegen ihrer solistischen Besetzung der Gesangspartien.

Die solistische Besetzung im Actus tragicus BWV 106 und der Kantate "Aus der Tiefe" BWV 131 ist absolut überzeugend. Das überrascht nicht, sind das noch Kantaten älteren Typus (des 17. Jahrhunderts), die wohl immer solistisch in allen Stimmen aufgeführt wurden.

Allerdings ist die Aufnahme interpretatorisch doch insgesamt nicht so überzeugend. Die Tempi im Actus sind meiner Meinung nach zu schnell gewählt, ein Ausspielen und -singen der einzelnen Phrasen kann da nur noch bedingt gelingen. Dadurch wirkt de Actus tragicus sehr glatt.
Leider hört man den Sänger durchaus an, daß sie das Deutsch nur rudimentär beherrschen, schade den insgesamt sind die Gesangleistungen mit Ausnahme der Altisten durchaus gut. Die Altisten stammen noch aus einer Generation Eswood und Jacobs, die offenbar gesangstechnisch (und stimmlich?) nicht auf dem Niveau eines Scholl oder Jarousky agieren.
Diese Beobachtungen lassen sich auch auf die Kantate BWV 131 übertragen.
Ich würde da jederzeit die Aufnahme mit Cantus Cölln vorziehen.

Anmerkungen zu den beiden Kantaten aus Leipziger Zeit auf dieser CD BWV 99 und 8 später, ween ich sie gehört habe
Szellfan
Hat sich gelöscht
#59 erstellt: 30. Okt 2010, 14:59
...warum entdecke ich diesen Thread eigentlich erst jetzt?!
Schande auf mein Haupt.
Wirklich sehr spanndend, hier die Meinungen zu lesen und viele Übereinstimmungen zu finden.
Sehr angenehm hat mich überrascht, daß flutedevoix Rotzsch Rilling vorzieht.
Das nun hier nicht, weil ich Ossi bin.
Welche Enticklung der Thomanerchor gemacht hat bis hin zu Rotzsch und uneter seiner Führung ist beeindruckend.
Und so sind seine Einspielungen rundum gelungen, nicht immer alle Solisten begnadete Bach- Sänger, aber immer führt Rotzsch doch alle zu einem Ensemble zusammen.
Wenn man die Aufnahmen mit Kurt Thomas hört, die nun wirklich das Abscheulichste sind, das ich kenne, die Motetten ja geradezu eine unfreiwillige Parodie, und dann, nur wenige Jahre später eben Rotzsch, das kommt einer kleinen Wende gleich.
Da ich zehn Jahre in Tübingen verbracht habe und Gächingen soweit weg ja nicht liegt, habe ich zehn Jahre unter dieser Rilling- Manie der Schwaben gelitten. Bach gleich Rilling.
Dabei bliebt er eben einfach ein Kantor eines kleinen Dörfchens. Dafür Hut ab vor seiner Leistung, aber gemessen an den Lorbeeren, die er erntet, blieb und bleibt mir immer nur Kopfschütteln.

Kuijken übrigens plant keine Gesamteinspielung, irgendwie werden das nur die "wichtigsten" Kantaten. Im Vergleich zu den ebenfalls solistisch besetzten Aufnahmen aus Montreal wirkt Kuijken tatsächlich inhomogen und flüchtig, auch spröde. Ich bin kein Verfechter dieser Besetzungsart bei Bach, wiewohl, besonders der "Actus tragicus" und vergleichbare Kantaten solistisch sehr überzeugend sein können. Und da finde ich die Einspielungen aus Monteal (Atma) glücklicher. Hier wird Wert darauf gelegt, ein Ensemble klingen zu lassen, Stimmen mischen sich besser und ebenfalls das Insrtumentalensemble. Vor allem wird daort, woe es angebracht ist, auch mit der nötigen Ruhe musiziert, die mir selbst bei Cantus Köln abgeht. Junghänel scheint auch sehr kontemplativen Stücken eine äußerliche Bewegung abgewinnen zu wollen, die mir oft unangemessen erscheint Ebenso bei seinem Telemannschen "Trauer- Actus".

Vor Jahren war es eine überaus spannende Hörerfahrung, Rifkin mit dem Bachschen Magnificat in der Thomaskirche zu hören. Es geht nämlich nicht! Nun ist die Akustik heute eine andere als zu Bachs Zeiten, dazumal war die Kirche holzvertäfelt, was sie heute nicht mehr ist, aber dafür war sie mit Publikum geradezu "vollgestopft", was diesen Nachteil zum Teil wieder ausgeglichen haben dürfte.
Jedenfalls hört man sozusagen nichts in dieser Kirche in solistischer Besetzung, die Einzelstimmen in den Chorsätzen tragen einfach nicht durch den Raum, sondern verwischen sich gegenseitig und übrig blieb erstaunlicherweise ein Klangbrei. Also das Gegenteil dessen, was man von der solist. Besetzung erwarten würde.
Die selbe Erfahrung habe ich ein paar Jahre später in der Nikolaikirche gemacht. Kuijken machte solistisch das Himmelfahrtsoratorium. Anschließend, mit Chor, CPE Bach "Die Auferstehung und Himmelfahrt" und das gelang grandios.

Zu Herreweghe muß man hier ja nun wirklich nichts mehr schreiben.
Erwähnen aber möchte ich ich noch drei Aufnahmen, die mir persönlich besonders gelungen erscheinen. Nämlich die mit Christophe Coin für Naive.
Kantaten mit Violoncello piccolo. Solisten sind Barbara Schlick, Andreas Scholl, Christoph Pregardien und Gotthold Schwarz, das Orchester das Ensemble baroque de Limoges und Chor bei zwei der CDs das Collegium Vocale Leipzig und bei der dritten Accentus. Letztere leidet ein wenig unter dem Chor, den ich zwar sonst schätze, aber der hier hier gegen das Leipziger Ensemble abfällt.

Aufgenommen sind die Kantaten in einer kleinen Kirche in einem Vorort Leipzigs, dort auf der Orgelempore, was eine eigenwillige Akustik mit sich bringt, die aber doch sehr natürlich ist. Ebenso natürlich wie hier musiziert wird. Irgendwie stimmt hier alles, selbst Frau Schlick fügt sich in das Sängerensemble hervorragend ein und die Aufnahmen haben Eleganz, Wärme und auch religiöse Tiefe. Einfach wunderbar und sehr empfehlenswert.

Herzliche Grüße, Mike
flutedevoix
Stammgast
#60 erstellt: 30. Okt 2010, 16:34
In der Tat die Tempi bei Junghänel sind auch rasch, wirken aber in meinen Augen nicht verhetzt. Die Interpreten schaffen es auch in diesen Tempi noch Phrasierung und Artikulation vorbildlich zugestalten. Auch die emotionale Ausgestaltung bleibt nicht auf der Strecke. Insgesamt atmet dies Aufnahme, finde ich. Übrigens für mich in der Wahrnehmung eine Parallele zur h-moll-Messe in der Gardiner-Aufnahme.

Und dieses Atmen unterschiedet die Aufnahme des Cantus Cölln von Kuijken und Rifkin, da wirken die Tempi wesentlich verhetzter, weil das rasche Tempo auf Kosten der Phrasierung und Artikulation geht.

Ich habe in der Zwischenzeit auch dei beiden "späten" Kantaten auf der Rifkin-CD gehört: Die oben beschriebenen Feststellungen lassen sich weiterschreiben, allerdings fallen sie bei den späteren Kantaten nicht ganz so auf.

In meinen Augen bestätigt sich allerdings die Vermutung, daß die späten Kantaten mit (kleiner) chorischer Besetzung rechnen. Rein kompositorisch haben wir hier eindeutige Arien und eindeutige Chöre, nicht Motetten mit solistischen Abschnitten. Und genau dies möchte ich in der Aufführung auch wahrnehmen. Ich finde auch, daß die Homogenität des Solistenensemble, die de facto in der Aufnahme gegeben ist, nicht ausreicht, um als Klangkörper gegenüber dem Orchester (ebenfalls solistisch) besetzt, wahrgenommen zu werden.

Die von Mike beschriebenen Konzerterfahrungen will ich gerne glauben. Es bleibt allerdings die Frage, wieviel Zeit sich die Ensembles genommen haben, sich auf die Akkustik des Kirchenraumes einzustellen. Bliebe auch noch die Frage an Mike, ob auch das Orchester solistisch besetzt war (und im Falle Kuijkens für das Magnificat dann verstärkt wurde)
Szellfan
Hat sich gelöscht
#61 erstellt: 30. Okt 2010, 17:13
hallo,
um diese Frage zu beantworten Rifkin hatte auch das Orchester solistisch besetzt.
Kuijken (nicht "Magnificat", sondern, im zweiten Teil "Auferstehung..." CPE Bach, im ersten "Himmelfahrstoratorium")
zumindest ein deutlich abgespecktes Orchester gegenüber CPE. Ob es solistisch war, weiß ich leider nicht mehr.

Kurz, man kann ja unterschiedlicher Meinung sein, noch zu Junghänel. Ich finde die Aufnahmen ebenfalls nicht verhetzt, auch fein artikuliert. Was mich stört, ist so ein ....tänzerischer Habitus, der selbst innigsten Stücken etwas rhythmisch- heiteres angedeihen läßt, das mir einfach nicht behagt. Um dem gleich vorzubeugen, ich weiß, daß viele langsame Sätze eigentlich Tänze zumindest als Ausgangsform haben. Das ist auch gut, das zu hören. Nur ist eine Sarabande eben ein Schreittanz und, ich übertreibe zur Verdeutlichung, kein Hüpftanz.
Mir fehlt in solchen Passagen, um Brockes zu zitieren, die "Quelle ruhiger Gelassenheit".
flutedevoix
Stammgast
#62 erstellt: 30. Okt 2010, 17:21
Bezüglich Junghänel verstehe ich jetzt sehr gut, was du meinst. Ich glaube, dies ist wirklich die persönliche Rezeption eines Werkes und einer Interpretation. Auf diesem hohen Niveau gilt dann auch das leidr al zu sehr strapzierte "De gustibus ..."
Um das noch nachzuschieben: meine bevorzugte Aufnahme des Actus tragicus ist immer noch die von Gardiner. Ach wenn doch Herreweghe eine kompletten Zyklus machen würde! *seufz*
Szellfan
Hat sich gelöscht
#63 erstellt: 30. Okt 2010, 20:20
...selbst dann, glaube ich,
wäre mir die alte Leonhardt- Aufnahme die liebste.
Wie oft sitz ich da und höre, was alles nicht stimmt und doch...
flutedevoix
Stammgast
#64 erstellt: 30. Okt 2010, 21:19
Ja, ja die Großtat der Leonhardt/ Harnoncourt-Gesamtaufnahme. Da gibt es viele berückende Stellen, vor allem instrumental, z.T. aber auch sängerisch (Equiluz!) Ich bin auch der Meinung, daß vom interpretatorischen Ansatz nur Herreweghe dieser Reihe die Stirn bieten kann, bietet sie doch einen äußerst emotionalen Zugang mit Wärme, das was Gardiner oft fehlt.

Insgesamt überwiegen aber halt doch die Nachteile: die überforderten Knaben-Solisten, viele intonatorisch unsaubere Stellen, dem noch neuen Umgang mit den Instrumenten und der Spielpraxis geschuldet. Wenn ich Bach-Kantaten spiele, höre ich aber doch immer auch noch mal bei Harnoncourt/ Leonhardt hinein! Und bei Herreweghe!
Szellfan
Hat sich gelöscht
#65 erstellt: 31. Okt 2010, 20:19
..und bei den LP- Ausgaben lagen auch noch die Partituren bei und sehr schön lesenswerte Werkeinführungen und persönliche Erfahren der Beiteiligten.
Z.B. nach der Suche nach der Oboe da caccia. Richtige Pionieraufnahmen, da bin ich wirklich gewillt, über die eine oder andere Schwäche hinwegzuhören, denn sie entsteht aus völlig anderen Gründen als die Schwächen bei Rilling etwa.

Zufällig fielen mir heute mal wieder diese paar Aufnahmen mit Dieso Fasolis in die Hände, das überaus gelungene Magnificat, zusammen mit der 21 "Ich hatte viel Bekümmernis".
Da überrascht mich doch immer wieder, wie gelungen diese Aufnahmen sind. Herreweghe hier und da gar nicht unähnlich, aber mit mehr Temperament wo es angebracht ist, auch mit mehr Gestaltungswillen. Dadurch werden die Aufnahmen etwas kontrastreicher.
Fasolis scheint der Frage, ob und wo man solistisch besetzen sollte, auch sehr gründlich nachzugehen, grundsätzlich arbeitet er mit Chor, aber wägt genau ab, wo er z.B. solistisch beginnen läßt, um dann chorisch weiterzuführen.
Besonders überzeugend gelingt ihm das in den Motetten.
Nicht nur, daß die CD überragend klingt, nur zwei Micros, was eine sehr gute Durchhörbarkeit garantiert. Ein klar und schlicht geführter Chor, der aber nie so instrumental klingt wie manche britischen Chöre.
Aber die Alternation von Solisten gegen Chor macht diese CD für mich zur überzeugendsten Einspielung der Motetten.
Und seine "Bekümmernis" ebenso, Hier wird wirklich ohrenfällig, daß von diesem gemessenen Schreiten in der Sinfonia bis zum hinreißend freudigen Schlußchor ein Weg abgeschritten wird, die verlorene Freude wiederzufinden.
Viele Grüße, Mike
flutedevoix
Stammgast
#66 erstellt: 31. Okt 2010, 20:39

.und bei den LP- Ausgaben lagen auch noch die Partituren bei und sehr schön lesenswerte Werkeinführungen und persönliche Erfahren der Beiteiligten.
Z.B. nach der Suche nach der Oboe da caccia. Richtige Pionieraufnahmen


Deswegen ist mir Harnoncourt als Interpret auch so sympathisch. Er interpretiert wirklich, macht sich Gedanken, erarbeitet die Werke. Ich habe immer mit großer Freude bei ihm gespielt.

Die Fasolis-Aufnahmen kennen ich nicht. Die von Dir beschriebene Praxis ist ja nicht neu, ich kenne sie seit der h-moll-Messe mit Gardiner so Mitte der 80er. Das "Problem" ist, daß wir uns da in einer Grauzone bewegen. Es gab diese Differenzierungen zwischen Solostimmen und Chorstimmen im gleichen Satz, nur dann war das vorgeschrieben (solo/ ripieno) und/ oder satztechnisch nachvollziehbar. Ich habe bei solchen Besetzungen unterschwellig auch imme den Verdacht, daß die Ausdünnung bestimmte aufführungspraktische Probeleme lösen soll (z.B. Beweglichkeit der Stimmen oder dynamische Fragen). Das wäre für mich jedenfalls kein plausibler Grund für den Einsatz dieser Technik, dann muß man bei anderen Parametern (z.B. Tempo) verändern.

Wie gesagt, ich kennen die Aufnahmen nicht. Wenn es musikalisch überzeugend ist, möchte ich diesen "Eingriff" gerne nachsehen. Es sollte aber immer die Frage sein: warum? und Kann ich es anders lösen, ohne zu verändern?
Szellfan
Hat sich gelöscht
#67 erstellt: 31. Okt 2010, 21:11
Hallo flutedevoix,
ganz sicher hat dieser Chor von Fasolis nicht die "Not", solistisch besetzen zu müssen, weil ihnen die Beweglichkeit abgeht!
Ich weiß sehr gut, was Du meinst!
Vielleicht kann ich es so formulieren, daß Fasolis da sehr gern vom Text, vom Wort ausgeht und, vereinfacht gesagt: wenn da eine einzelne Person zu Wort kommt, dann macht er das solistisch, wenn "wir" singen, dann macht er es chorisch.
Das mag rein musikalisch durchaus zu Widerspruch reizen,
Text und Musik zusammen wahrgenommen, überzeugt mich das sehr und, Du weißt, ich bin empfindlich (Cantus Köln),klingt in keiner Weise willkürlich.
Herzliche Grüße, Mike
flutedevoix
Stammgast
#68 erstellt: 31. Okt 2010, 22:07
Hallo Mike,

Dem musikalischen Widerspruch will ich hier gerne gleich formulieren, jedenfalls meinen:

Grundsätzlich finde ich es gut, daß es einen musikalischen, einen interpretatorischen Grund gibt und daß die Ursache wohl in der Textausdeutung liegt. Affektgestaltung ist schließlich das oberste Anliegen der Zeit

aber:

Wenn Bach das so gewollt hätte, hätte er es formuliert. Ich weiß, auch diese Formulierung reizt zum Widerspruch, schließlich wissen wir es nicht genau. Dennoch, es handelt sich hier doch um einen fall, der nirgends inder zeitgenössischen Literatur (jedenfallsl der mir bekannten) beschrieben wird. Ich möchte hier einfache Frage stellen: Warum sich über die Noten hinwegsetzen?

Ich persönlich halte diese interpretatorische Entscheidung für grenzwertig, es hat schon etwas von "es besser wissen" als der Komponist, zwar nur Spurenelemente aber immerhin. Ich denke jedenfalls, die Komposition setzt es für ihr Verständnis nicht zwingend nötig voraus. Irgendwie riecht es auch etwas nach "anders machen als die Anderen". Diese beide Anmerkungen sind theoretischer Natur, wohlgemerkt ohne die Aufnahme zu kennen. Ich entscheide bei meinen Interpretationen aber schon nach der MAxime, im Zweifelsfalle nach dem erkennbaren Willen des komponisten zu handeln.

Wie Du aber auch schreibst, ist die Interpreation dennoch musikalisch überzeugend. Dann möchte ich an der Aufführung eigentlich nichts weiter kritisieren, denn das ist das überzeugende Argument, auch wenn ich es nicht so machen würde.

Jedenfalls hast Du mein Interesse geweckt und ich werde mal schauen, ob ich die Aufnahme irgendwo finde.

Viele Grüße
Johannes
Szellfan
Hat sich gelöscht
#69 erstellt: 31. Okt 2010, 22:31
Hallo Johannes,
na immerhin ist Dein Interesse geweckt worden.
Auf die Gefahr hin, als Erbsenzäher zu scheinen: Fasolis setzt sich ja nicht über die Noten hinweg, sondern geht nur flexibel um mit der ohnehin schwer zu klärenden Frage der Besetzungsstärke.
Auch wenn das ein persönlicher Eindruck ist, so habe ich doch bei ihm nie das Gefühl, etwas unbedingt anders machen zu wollen um des Andersseins wegen. Da Fasolis ja nicht nur Bach- Kantaten eingespielt hat, sondern auch die Brandenburgischen und die Orchestersuiten, aber darüberhinaus eine ganze Reihe Händel, Vivaldi, Haydn (die für mich überzeugendsten "Jahreszeiten", trotz des modernen Instrumentariums)etc.... bekommt man da schon ein Gefühl dafür.

Und obwohl solche Vereinfachungen schwierig sind, würde ich ihn als "Affekt- Musiker" bezeichnen, in der Art, wie René Jacobs das auch ist. Ich glaube, Du verstehst.

Und ganz unabhängig davon, also von Fasolis: wie schön wäre es, Bach hätte alles so genau formuliert, daß man heute Genaueres sagen könnte. Manches so genau, die Verzierungen ausgeschrieben, daß es heute so manchem schwerfällt, sie als solche zu erkennen und dann wieder kann man so wenig aus den Noten lesen. Seufz, da kommt man manchmal mit dem schlichten "ad libitum" oder "a tempo giusto" bei Händel fast weiter....(so wie Remy mit den Cembalosuiten)
Herzliche Grüße, Mike
flutedevoix
Stammgast
#70 erstellt: 31. Okt 2010, 22:58
Hallo Mike,

vielleicht wirkt das durch meine Zweifel so, deshalbe möchte ich das klarstellen: Die Interpretation kann, deiner Bechreibung nach ist sie es auch, trotz dieses Details sehr gut sein. Ich habe einfach nur "methodische" Bedenken.


Fasolis setzt sich ja nicht über die Noten hinweg, sondern geht nur flexibel um mit der ohnehin schwer zu klärenden Frage der Besetzungsstärke.


Ist richtig, ist aber auch immer ein schmaler Grat. Spontan fällt mir bei sowas immer Toscanini ein, der, ich glaube es war bei Brahms, Posaunenstimmen hinzukomponierte, weil er es unter Balance und Klanggründen für nötig hielt.
Grundsätzlich habe ich da nicht so viele Skrupel, weil Werke unter Bestmmungen aufführen auch immer heißt sie anzupassen. Das hat z.B. Händel mit Opern gemacht, bei denen er andere Stars hatte oder Mozart mit seiner Neuinstrumentierung des Messias. An andere Stelle habe ich ja schon formuliert, daß ich das 2. Brandenburgische Konzert mit moderenem Instrumentarium auch Uminstrumentieren würde (Horn statt Trompete, Querflöte statt Blockflöte), in diesem Fall um der Idee des ursprünglichen Solistenensembles gerecht zu werden. All diese Überlegungen gehören für mich in den Bereich der historischen Aufführungspraxis. All diesen Überlegungen ist auch gemein, das sie versuchen, daß Werk besser in der jeweiligen Zeit verständlich zu machen. Diesen Ansatz unterstelle ich auch Fasolis, ich weiß er arbeitet gewissenhaft.

Ich weiß aber nicht, ob es im Falle der Brahmssinfonien und bei Fasolis unbedingt nötig ist, insofern überzeugt mich dieser Ansatz nicht. Es kommen aber gute Interpretationen heraus, die dem Werk gerecht werden, im Falle Fasolis wird ja offenbar im Dienst der Affektgestaltung gehandelt. Das ist meiner Meinung nach das Wesentliche. Vielleicht noch deutlicher formuliert: Man kann auch mit modernen Instrumenten einen guten Händel, Bach, Mozart etc. spielen. Ich bin aber auch überzeugt, daß man mit den Mitteln der Zeit, überzeugender sein kann. Der Vergleich hinkt etwas, weil Fasolis Eingriff nicht soweitgehend ist, aber er tendiert in die gleiche Richtung.


wie schön wäre es, Bach hätte alles so genau formuliert, daß man heute Genaueres sagen könnte. Manches so genau, die Verzierungen ausgeschrieben, daß es heute so manchem schwerfällt, sie als solche zu erkennen und dann wieder kann man so wenig aus den Noten lesen.


Ja, ja! Umso wichtiger ist es sich mit der Zeit auseinander zu setzen. Und umso spannender ist es auch Interpretationen zu erarbeiten.

Was hälst denn Du von den Händelschen Cembalosuiten mit Rémy?
Ach so, falscher Thread

Ich finde es übrigens sehr angenehm, mit Dir zu diskutieren. Du bist ein großer Gewinn fürs Forum!
Szellfan
Hat sich gelöscht
#71 erstellt: 01. Nov 2010, 00:20
Hallo Johannes,
danke fürs das Lob.
Und natürlich teile ich Deine Skrupel, das sollte Dir ja nicht entgangen sein,für mich hat es mit Verantwortung zu tun, da sehr genau abzuwägen, inwieweit die Noten nun "genügen" oder wieviel man "ergänzen" muß unter bestimmten Umständen. Im Zweifel natürlich immer so wenig wie möglich (Und, mit Verlaub, Mozart war da ja nun gar nicht zimperlich und mich überzeugt das Ergenbis "seines" Händel überhaupt nicht.)
Kennst Du eigentlich die Fassung des "Alexanderfest" von einem Herrn Gottfried(?) Krause, ca.1765 in Berlin?
Auch falscher Thread, aber einen Krause- Thread gibts ja nicht. Krause ändert fast nichts an der Instrumentierung, aber macht etwas ganz anderes, er nutzt Händels Themen, um dann die Fortspinnung völlig neu zu komponieren, ein wenig im Stile Grauns.
Klingt, wenn man drüber schreibt, absonderlich, wenn mans hört, absolut überzeugend. Es wird ein völlig neues Werk und keine "Verschlimmbesserung" wie bei Mozart- sorry, ich finde einfach nicht glücklich, was er da gemacht hat.
Der Rémy gefällt mir sehr, mir ein wenig zu direkt aufgenommen, aber er spielt die Suiten prächtig. Woanders dazu mehr?
Ich übrigens lese Deine Texte auch sehr gern.
Interessant aber doch, daß Du Harnoncourt so lobst ob seiner gründlichen Erarbeitung eines Werkes und andernorts gar nicht so ein überzeugter Probenliebhaber bist? Manchmal stimmt eben sowohl als auch, oder? Und besonders im Bereich der Alten Musik ist das so ein hakeliges Thema, weil man ja auch noch spontane Verzierungen proben muß.
Dabei finde ich die älteren Einspielungen Harnoncourts der Bach- Kantaten überzeugender als die neuen. Natürlich, bessere Solisten, auch jetzt ein gemischter Chor und der Concentus quält sich in keiner Partie mehr. Aber alles wirkt sehr abgezirkelt, leicht maniriert und wenig lebendig im Vergleich zu früher. Geht das nur mir so?
Herzliche Grüße, Mike
flutedevoix
Stammgast
#72 erstellt: 01. Nov 2010, 01:28
Ob die Mozart-Bearbeitung des Messias gelungen ist oder nicht, mag persönlicher Geschmack sein. Feststeht daß er das Werk im Wensetlichen einfach nur den Wiener Gegebenheiten seiner angepaßt hat, sprich Bläser hinzukomponiert hat. Wie sinnvoll das ist, sei einmal dahingestellt. Mozart war nur klar, daß das Werk in der Händelschen Gestalt in Wien vermutlich nicht wirken würde. Es gab ja hier keine durchgehende Aufführungstradition wie in England.

Das mit den Bearbeitungen ist immer so eine Sache, ich bin mir auch noch nicht sicher, was ich von Schumanns Fassung der Bachschen Johannes-Passion halten soll oder der Mendelsohnschen Fassung der Matthäus-Passion. Wir haben ja nun ein Problem, das die Zeitgenossen nicht hatten: Wir kennen das Original und vergleichen vermutlich automatisch. Ich finde es übrigens schon interessant, daß bei jedem mit dem ich bisher darüber gesprochen habe, die originale Fassung stimmiger gehört wurde.

Diese Fassung des Alexanderfestes kenne ich nicht, hört sich aber sehr spannend an. Nimmt der Herr Krause dann nur die Themen und komponiert diese neu oder "verbessert" er die Kompositionen Händels?
Gibt es eine Partitur bzw. weißt Du in welcher Bibliothek das Original liegt? Gibt es eine Einspielung? Das würde mich doch sehr interessieren, zumal 1765 hoch recht nah an Händels Lebzeiten dran ist.

Nun noch zu Harnoncourt. Übrigens finde ich seine zweite Aufnahem der Brandenburgischen immer noch phänomenal, er hat es einfach nicht nötig, sich auf eine extreme Temposchlacht (wie Goebel oder Antonini etc.) einzulassen! Das ist ganz große Kunst, bei allen intonatorischen Schwierigkeiten, die immer noch vorhanden waren. Ich bin einfach nur glücklich mit dieser Aufnahme.
Lese ich bei Dir heraus, daß Du den alten Concentus Musicus auch besser fandst? Ich konstatiere momentan in der historisch-informaierten Aufführungspraxis eine ähnlichen Trend wie bei den modernen Sinfonieorchestern: die Aufnhamen werden immer glatter, immer verwechselbarer. Sehr schade, ließt man die alten Quellen, dann klang wohl jede Kapelle anders. Genaus dies mchte ich auch immer am "alten" Concentus - unverwechselbarer Klang mit Ecken und Kanten und allein deswegen schon sehr aufregend. So richtig wurde mir die erst die Tage bewußt, als ich die frühen Mozart-Sinfonien mit dem Concentus hörte. Ich konnte kaum glauben, daß es der Concentus Musicus sein sollte. Die Aufnahmen sind nicht schlecht, ganz im Gegenteil, wie ich schon schrieb. Aber so ausgeglichen, so homogen! Könnte schon fast ein englisches Ensemble sein.

Mit Werk erarbeiten meine ich nicht zwangsläufig proben. Vielmehr entsteht eine Interpretation ja zunächst einmal beim Studium der Werke und dem heimischen Üben. Das dieser Erstentwurf natürlich in Proben noch Modifikationen größerer oder kleinerer Art erfährt ist auch klar. Genau das schätze ich aber bei Harnoncourt: er kommt schon einmal mit einer klaren Vorstellung in die Probe. Das ist aber nicht bei allen Dirigenten selbstverständlich, muß es auch nicht unbedingt sein. Es kann auch sehr spannend sein gemeinsam, eine Interpretatin zu finden. Aber bei Harnoncourt genoß ich immer diesen anderen Weg ohne das Gefühl zu haben, bevormundet zu sein.
Ich denke bei altbekanntem Repertoire innerhalb eines Orchesters ist es oft besser, nicht zu proben, weil dadurch mehr Spontaneität entsteht, der Musik wieder mehr Leben eingehaucht wird. Bei neuen Projekten halte ich ein ausführliches Proben für unerläßlich. Leider ist das aber nicht immer so!
Szellfan
Hat sich gelöscht
#73 erstellt: 01. Nov 2010, 09:15
Hallo Johannes,
der Reihe nach. Zu Mozarts Händel hier nicht weiter, da sind wir letztlich einer Meinung.
Herr Krause benutzt Händels Themen und komponiert die Fortspinnung neu, wie ich geschrieben hatte. Also er verbessert nicht, die Themen bleiben unangetastet. Manchen Chorsatz verändert er auch fast gar nicht, immer dann, wenn ihm das Original galant genug erscheint.
Habe eben noch nachgesehen:

Christian Gottfried Krause,
Berlin 1766

Aufgeführt hat das Werk, also die Aufnahme, die ich kenne, Peter Kopp mit seinem Körnerschen Singverein am 12. Juni 2006 in Halle/Saale.

Ob es Noten gibt, weiß ich nicht, eine CD, sie käuflich zu erwerben, gibt es mit Sicherheit nicht.
Ich selbst habe damals am Rundfunk mitgeschnitten und mir die CD selbst gebastelt.

Im Thread "was hört ihr gerade" müßte ich also einen Platinum- Rohling abbilden.

Ist wirklich spannend, denn, so ganz stimmt nicht, was ich oben schrieb, was ein paar winzige Änderungen in der Melodieführung bewirken, aus der Ouvertüre ein beinah frühkl assisch klingendes Werk zu machen. Ist Händel und erinnert dann auch wieder an diese "modernen" Arien aus "Choice of Hercules", auch weil Krause eine Hornstimme zugefügt hat. Manches komponiert Krause aber vollständig neu.
Genug aber, es kann ja hier niemand mitschreiben.

Zu Harnoncourt: die zweite Aufnahme der Brandenburgischen gefällt mir auch sehr, ich mag da seine Art, mir die Themen so etwas sehr rhetorisch auszubreiten und das wirklich sprechen zu lassen.
In einem Interwiev hat Herr Mohrbach/SFB damals Herrn Goebel lange gelöchert, um zu erfahren, warum er denn gerade den Schlußsatz des dritten Konzerts so unsäglich schnell angehen würde. Kamen eine ganze Menge Begründungen, die Herrn Mohrbach alle nicht befriedigten, bis Goebel dann endlich etwas unwirsch sagte."Wir können's halt so schnell".
Ohne Kommentar meinerseits.
Und Il Giardino hörte ich ein Mal, ein zweites und dann war ich gelangweilt. Bach ist eben doch kein deutscher Vivaldi.
Dabei können die Bach auch anders, ich habe mal ein paar Kantaten gehört und die waren ausgezeichnet, erinnerten mich sehr an Harnoncourt, den frühen.

Kurioserweise hat jener Herr Mohrbach schon vor Jahren beinah genauso reagiert wie Du hier: der Concentus klinge immer mehr wie ein britisches Ensemble, die Ecken und Kanten und dieser unverwechselbare Klang würden ihm fehlen.
Was mich wieder an die alte Zelenka- Platte erinnert, so eckig und geradezu genüßlich ausmusiziert habe ich die Hippocondrie nie wieder gehört mit ihren Reibungen und Querständen. Herrlich.

Da ich Dich durchaus ein wenig provozieren wollte mit meinen Sätzen zur Probenarbeit, danke für Deine Antwort. Gerade in der "Alten Musik" ist der Dirigent ja doch eher spiritus rector denn Dirigent im herkömmlichen Sinne, eben so wie Probenarbeit eben den Schwerpunkt auf Arbeit und damit Erarbeiten hat. In dieser Musik ist das ja auch ganz anders, da kann sich jemand ans Cembalo setzen und alle sind dann gezwungen, ihm zuzuhören und auf ihn zu reagieren, eben die von Dir an anderm Orte genannte "Große Kammermusik".
Und das auch von Dir bedauerte "Gleichklingen" der Ensembles, rührt das nicht zum gewissen Teil aus diesem "Ich kenne das Stück, Sie kennen das Stück, wir sehen uns also morgen."?
Herzliche Grüße, Mike
Kreisler_jun.
Inventar
#74 erstellt: 01. Nov 2010, 13:01
Das gehört eigentlich nicht in diesem thread, aber z.B. bei den auch klanglich sehr gut eingefangenen Pariser Sinfonien (und auch bei der einzelnen CD mit frühem Mozart, die ich besitze) finde ich den Klang noch immer ziemlich charakteristisch. Das beginnt damit, dass es sich hörbar um eine relativ große Besetzung handelt und endet nicht mit dem spezifischen Klang und der deutlichen Präsenz der Bläser. Es ist einfach viel farbiger als das typische HIP-Ensemble.

Besonders spezifisch, und das hat er ja auch mit modernen Orchestern gemacht, ist die Artikulation. Es gibt sehr viel mehr legato als bei den "Nähmaschinen", ingesamt aber sehr viele Varianten. Das legato kann durchaus auch mal "aggressiv" klingen; allein im Variationensatz in der Sinfonie 82 verwendet Harnoncourt mehr Artikulationsvarianten der Streicher als manch anderer in der gesamten Sinfonie.

Was ich an den späteren Aufnahmen, so etwa der letzten 10 Jahre, eher problematisch finde, ist, dass die Neigung zu mitunter sehr breiten Tempi, zu extremer Agogik und "Kunstpausen". So ist der Kopfsatz von 84 m.E. wirklich zu langsam und auch der von 82 ist teils an der Grenze, was hier weniger am Grundtempo als an der Agogik liegt.

viele Grüße

JR
flutedevoix
Stammgast
#75 erstellt: 01. Nov 2010, 13:54
Vielleicht mag ja ein Moderator einen eigenen Thread draus machen. Sieht so aus, als könnte es sich zu einer interessanten Diskussion entwickeln.

Hallo Kreisler jun.,

Du hast vollkommen recht, größere Ensembles bewirken insgesamt einen weicheren, runderen Klang. In erster Linie aber bei den Striechern, mir fällt aber auf, daß auch die Bläser nicht mehr diese Ecken und Kanten haben. Bei Harnoncourt wurde gerade im Holzbläserbereich im Ansatz vieles etwas offener geblasen, weniger gefaßt im Ansatz. Das hatte dann insgesamt schon einen grundtönigeren Klang mit vielen Obertönen zu folge. Auch die Blechbläser durften mal das Metall in Ihren Instrumenten zeigen, bei Harnoncourt gab es eben auch Affekte an der Grenze des guten Geschmacks. Das alles machte die Konzerte und Platten so lebendig, so drammatisch, so aufregend und das vermisse ich etwas. Ich werde mir noch einmal in aller Ruhe mit Kopfhörer die Mozart Sinfonien anhören, mal schauen was ich dann sagen werde. Grundsätzlich bleibe ich aber bei meiner Beobachtung. Den Haydn kenne ich (noch) nicht


Besonders spezifisch, und das hat er ja auch mit modernen Orchestern gemacht, ist die Artikulation. Es gibt sehr viel mehr legato als bei den "Nähmaschinen", ingesamt aber sehr viele Varianten.


Das ist der Punkt. Bei vielen Orchestern könnt man meinen, es hat im Barock kein Legato gegeben!
Kaum einer hat sich in ähnlicher Radikalität getraut, Alte Musik aus der Melodielinie und deren Artikulation zu gestalten und nicht grundsätzlich auschließlich aus dem harmonischen Kontext. Deswegen wirken Harnoncourts Interpretaionen auch so sprechend, der Aspekt der Klangsprache ist omnipräsent. Und die Artikulationsvielfalt!


Was ich an den späteren Aufnahmen, so etwa der letzten 10 Jahre, eher problematisch finde, ist, dass die Neigung zu mitunter sehr breiten Tempi, zu extremer Agogik und "Kunstpausen".


Mit manchen (langsamen )Tempi mußte ich mich auch erst anfreunden. Das fängt in den Mozart-Sinfonien mit dem RCO (Nr.40 und 41 besonders) an und setzt sich in den Schumann-Sinfonien (Rheinische) fort. Bei Mozart schätze ich seinen Ansatz inzwischen, bei Schumann werde ich nicht so recht glücklich. Und insgesamt tendierte Harnoncourt schon immer etwas zum Manierismus, aber die zum Teil extreme Agogik gefällt mir eigentlich ausgezeichnet!
Szellfan
Hat sich gelöscht
#76 erstellt: 01. Nov 2010, 13:54
Hallo JR,
vielleicht sollten wir das wirklich innerhalb der Orchesterwerke weiterdiskutieren.
Ja, MANCHMAL hört man schon noch den besonderen Concentus- Klang, wenn auch angenähert an andere Orchester dieser Art. Aber daß man das so sagen kann wie in den Siebzigern/Achtzigern: zwei Takte und dann war klar, daß man den Concentus hört, das geht heute so ganz eben nicht mehr.
Daß Harnoncourts Haydn auch für mich an dem krankt, was Du beschreibst, aber dann wirklich woanders.
Wirkt so völlig uncharmant, anders noch als bei den "Tageszeiten", und das schließt damit einen Teil dessen aus, was Haydns Musik doch auch ist.
Herzliche Grüße, Mike
Hüb'
Moderator
#77 erstellt: 01. Nov 2010, 14:02

Vielleicht mag ja ein moderator einen eigenen Thread draus machen. Sieht so aus, als könnte es sich zu einer interessanten Diskussion entwickeln.

Ab wo und unter welchem Titel?

Grüße
Frank
Szellfan
Hat sich gelöscht
#78 erstellt: 01. Nov 2010, 14:15
Hallo Frank,
mein Vorschlag: irgendwo so ab #70
und irgendwas im Titel wie Spezifika einelner HIP- Orcheseter.
Mal sehen, was die anderen meinen.

Herzliche Grüße, Mike
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