Beethoven Missa Solemnis: "Von Herzen, möge es wieder zu Herzen gehen"

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Szellfan
Hat sich gelöscht
#1 erstellt: 15. Mai 2012, 20:57
Auf die Frage von Kreisler jun. nun der Versuch, sich der Beethovenschen Missa Solemnis zu nähern.
An wirklich ungewohntem Platz, ich hoffe sehr, Ihr lieben Moderatoren laßt mir das durchgehen. Die Erklärung, warum hier, folgt später.
Erschwerend kommt hinzu, daß wir, Johannes und ich, uns über Aufnahmen dem Werk versuchten anzunähern, die so gar nicht im Handel sind.
Also zunächst Auszüge aus unserer privaten Unterhaltung, bei deren Lesen vermutlich schnell deutlich wird, daß die Diskussion sich weniger um Aufnahmen dreht als vielmehr um das Grundverständnis des Werkes, das sich so schwer zu erschließen scheint.
Anlass war , daß ich selbst wegen der Häufung verschiedener Aufführungen begann, mich mit diesen, aber auch dem Werk, wieder einmal konzentriert auseinanderzusetzen.
Im Hinterkopf als Maßstab immer wieder und immer noch der Mitschnitt Szells von 1969, jetzt ins Verhältnis gesetzt zu einem Mitschnitt Harnoncourts vom März 2012 aus Amsterdam und , beinah völlig entgegengesetzt, einem von Thomas Dausgaard, vom April 2012.
Johannes (J): "Zerknirschtheit auch wegen der Missa solemnis. Du weißt, daß ich dank Dir die Szell-Aufnahme kenne und sehr schätzen gelernt habe. Allein auch in dieser Aufnahme höre ich nicht Gott! Es muß dann wohl an Beethoven liegen. Und das Schlimme: ich kann Dir nicht sagen warum. Daß die Missa solemnis großartige Musik ist und zutiefst ergreifende Stellen enthält, ist völlig unbestritten! Ist es einfach hier die Musiksprache, höre ich da zuviel "weltliches". Ich weiß es nicht. Ich kann aber Deine Anmerkungen völlig nachvollziehen. Aber dieses Suchen und nicht Finden bei Harnoncourt finde ich zutiefst faszinierend. Ist er da nicht sogar möglicherweise sehr nahe an Beethoven dran? Nicht am Notentext sondern am Menschen Beethoven in der Welt! Und findet man das alles nicht auch in der Missa? Zerknirschtheit also wegen meiner Zugangsschwierigkeiten zu dem Werk oder weil ich in diesem Werk stets auch auf der Suche nach Gott bin? Fragen über Fragen ohne Antworten! Meinen "himmlischen" Frieden mit der Missa solemnis werde ich schon noch machen. Auch wenn mir dieses Suchen von Harnoncourt momentan nähersteht als Szell oder vermutlich Dausgaard, den ich mir morgen zu Gemüte führen werde. Wenn ich Gott hören will, dann greife ich zu Desprez, Bach, Händel, Mozart, Haydn & Brahms. Du weißt, daß ich damit keinen Komponisten ausschließe! Aber was ich in der Missa "L'homme armé", der Johannes-Passion, der h-moll-Messe, einigen Bach-Kantaten (BWV 21, 56 etc.) dem Messias, der Schöpfung, Mozarts Requiem und der c-moll-Messe und dem Brahms-Requiem höre, das ist Gott in all seinen Facetten, in seiner furchterregenden Größe und in seiner allumfassenden Barmherzigkeit! Und ich höre in diesen Werken den Glauben der Komponisten, das unumstößlich Festhalten an dieser überirdischen Wahrheit oder nennen wir es vielleicht besser Präsenz. Bei Beethoven höre ich die Ahnung, das Sehnen danach, aber auch den Zweifel daran."
Mike(M): "Wobei wir in unserer Unterhaltung jetzt nahe an's "Thema" Gott rücken würden. Und ich Dir zustimmen würde, was Harnoncourt betrifft zur Missa Solemnis. Habe ich genau so empfunden, vielleicht nicht so ausgedrückt.(…) So wie Du in Deiner Mail den Eindruck erweckst, Gott wäre ein irgendwie abgehobenes Ideal, ohne weltlichen Bezug, den Beethoven hat. Meinst Du natürlich so nicht. Doch gerade dieses Sich Ins Verhältnis setzen als Mensch zu Gott, das Suchen und Berühren, das Beethoven gelingt, ist doch genauso Gott, oder? Ein wenig provoziere ich Dich, ich weiß. Das ist, was mich an Harnoncourts Mitschnitt zunächst so berührt hat, dann aber hat abkühlen lassen. Wieso soll man "suchender" Musik "suchend" gegenübertreten? Gewissermaßen diesen Aspekt in der Musik zu Lasten anderer ins Quadrat setzen? Kann man nicht das, was die Musik zusammenhält, in diesem Fall die Logik und Mathematik, nicht als Basis nehmen, ihr folgen und das Suchende aus sich selbst sprechen lassen? Also nicht der Musik das "Wort aus dem Mund nehmen"?
Bäh: Beethoven zweifelt genialer als Harnoncourt.
Das mal so extrem ausgedrückt, weil Harnoncourt mich, wie gesagt, zunächst sehr berührt hat, dann aber eine Interpretation macht á la: "was wollte uns der Dichter damit sagen". Ich übertreibe ganz bewußt, weil ich Dir anders nicht erklären kann, was ich meine. Szell macht doch zuerst einfach mal das, was da steht und stellt sich nicht zwischen die Musik und den Zuhörer, sondern überläßt die Interpretation mir selbst. Somit kann ich Beethovens Gott finden und nicht Harnoncourts Gott.
Mann, schwerer Brocken! Weil ich eben sehr gut nachvollziehen kann, was Du meinst, sowohl wegen der Musik als solcher, als eben auch der Interpretation. Dabei erinnere ich mich immer noch an meine erste Begegnung mit der Missa Solemnis, damals bei meinen Großeltern, ich war keine acht Jahre alt. Die frühe Aufnahme mit Karajan war's, die mit der Schwarzkopf. Ich las im Laden den Klappentext, der auf den Eterna-Platten immer sehr gut war, sah auf dem Cover diesen Michelangelo und habe die Platte gekauft. Und ohne all den Ballast an Wissen und Denken einfach angehört. Und geheult als wollte mich jemand schlachten. Diesen Schrei der Schwarzkopf nach Frieden im Agnus Dei ist mir derart ins Mark gegangen, und hat mir eine völlig neue Welt eröffnet. Beten, alles zu kleine Worte. Als Kind wußte ich: gerade habe ich etwas unaussprechliches gehört und erfahren. Und habe es nie wieder verloren. Und wenn dann Harnoncourt mir sagen will, was ich hören soll, dann werd' ich zickig. So.“
Mal mehrere mails auslassend jetzt die von heute nachmittag:
M:" Seit neun heute früh sitze ich über dem Video der Missa mit Harnoncourt. Jetzt bin ich froh, daß ich Dir das abgenommen habe. Abspielen ließ sich das Video, aber nirgends importieren, der dropouts wegen in der Audiospur, alles wurde damit asynchron und jedes Programm meldete Fehler ohne Zahl. Nun denn, wie auch immer, es ist mir gelungen, das alles auszutricksen. Jetzt, bei der fertigen DVD, höre ich die von mir eingesetzten Lückenfüller in der Audiospur nicht mal mehr selbst, obwohl ich doch genau weiß, wo ich "gemogelt" habe. Und zur Belohnung mache ich mir selbst eine DVD davon. Ja klar, der Eitelkeit wegen, aber auch deshalb, weil vieles dessen, das mich an der Aufnahme störte, beim Sehen ganz anders gewichtet ist, mich nicht stört, sondern im Gegenteil schlüssig wirkt. Eine Art Erfolg für Dich, daß mich im Video Harnoncourt dann doch sehr überzeugt. Obwohl ich zwischendurch nah am Aufgeben war, rein aus technischer Sicht. Aber das Wissen darum, daß die Missa nunmal so mathematisch aufgebaut ist und ein PC auch nur mit Null und Eins arbeitet, ließ mich annehmen (und grinsen), daß ich also beides schon würde vereinen können. Allerdings muß ich nun nochmal weiterdenken bevor ich im Forum darüber beginne zu schreiben. Aber erstmal denen viereckigen Augen an der Natur wieder Erholung gönnen. Doch ist es mir eine besondere Freude, Dir diese DVD zu schicken.“
Das jetzt nur, wenn auch doch recht ausführliche Auszüge unseres mail-Wechsels.
Inzwischen habe ich nachgedacht, auch wenn „Denken“ mit Sicherheit ein falsches Wort ist.
Womöglich ist es so, daß Johannes viel mehr mit dem Herzen Musik hört als ich. Ich selbst brauchte das Sehen, Harnoncourt zu begreifen. Seine Schweigeminute vor dem Sanctus, völlig konzentriert und das Gegenteil von Erholung, viel mehr Vertiefung und Hinwendung. Inzwischen empfinde ich völlig, daß die Lesart Harnoncourts der von Szell gleichwertig ist, wenn auch aus völlig anderem Blickwinkel. Und ich danke Johannes, daß er die Unterhaltung über dieses Werk mit mir derart geführt hat, ich habe vieles gelernt.
Um ihn nochmals zu zitieren und damit diesen Ort zu rechtfertigen:
J.“ Was das Spätwerk angeht: du hast so recht! Aber bei Beethoven (und bei Verdi und Telemann und in Ansätzen bei Mozart, auch wenn es angesichts seines Alters lächerlich ist) kann man sehr wohl und völlig zu recht von Spätwerk sprechen!
Ja, Beethoven hat eigentlich immer Instrumentalmusik geschrieben. Schau dir nur einmal die Chorpartien in der 9. an! Entweder er hatte keine Ahnung von Stimmen (ist natürlich Unsinn) oder es hat ihn nicht interessiert (das ist es!). Ganz sicher hat er gerade durch seine Taubheit jede Rücksichtnahme auf instrumentale oder vokale Limitierungen abgelegt. Seine kompositorischen Visionen hat er vor dem inneren Ohr entwickelt und konnte dabei keine Rücksichten nehmen. Auch das faustisch: Hier steh ich nun, ich armer Thor!
Ich glaube die Missa ist neben seinem Heiligenstädter Testament ein Ausdruck der Bewältigung seiner Taubheit und seiner gescheiterten Versuche im Sinne einer bürgerlichen Existenz (Ehe, etc.) Könnte es nicht dieser Aufschrei "Warum mir?" sein? Ist es nicht eine emotionale Abrechung mit Gott, allerdings ganz sicher eine, ohne an Gott zu verzweifeln oder ihn zu leugnen?
Vielleicht habe ich ja so meine Probleme mit der Missa, weil sie bei aller zutiefst subjektiven Emotionalität so rational formal gebaut ist! Was das angeht ist sie ja durchaus mit Bachs h-moll-Messe zu vergleichen (sonst fällt mir auf dem Gebiet der oratorischen Messe kein ähnliches Beispiel ein). Bach aber ist in seiner Ausdrucksgestaltung, die keineswegs weniger eindringlich als bei Beethoven ist (in meinen Augen sogar wesentlich tiefer, aber das ist subjektiv), nicht so subjektiv sondern wesentlich objektiver. Ein Widerspruch, aber du weißt was gemeint ist. Und das paßt eben besser zur formalen, weil objektiven Gestaltung!“

Zwar bin ich immer noch der Überzeugung, daß Beethoven weitergeht als seine Befindlichkeiten musikalisch auszudrücken, würde aber gern dazu in eine Diskussion geraten, die von mehreren hier getragen wird als ausschließlich von Johannes und mir.
Von Herzen.
Mike
Joachim49
Inventar
#2 erstellt: 18. Mai 2012, 21:57

Szellfan schrieb:
Und ich höre in diesen Werken den Glauben der Komponisten, das unumstößlich Festhalten an dieser überirdischen Wahrheit oder nennen wir es vielleicht besser Präsenz. Bei Beethoven höre ich die Ahnung, das Sehnen danach, aber auch den Zweifel daran."


(Zitat oben von Flutedevoix)
Aber ist es nicht gerade dies (Ahnen, Sehnen, Zweifel) was die unheimliche Grösse und Wahrhaftigkeit dieser Musik Beethovens ausmacht?
Und zu Mozart: er war ein genialer Opernkomponist (unter anderm). Er konnte sich in alle Gefühle hineinversetzen, auch in die religiösen. Ich würde zögern aus dem Charakter seiner Musik auf den seinen zu schliessen.
Ich werde später mehr dazu sagen, da ich gerade Besuch habe und nicht lange "flüchten" kann. Habe vor ein paat Tagen noch einmal Klemperers Missa gehört. Gehört gewiss zu den wichtigen Dokumenten.
herzliche grüsse
Joachim
Kreisler_jun.
Inventar
#3 erstellt: 18. Mai 2012, 23:22

Szellfan schrieb:

An wirklich ungewohntem Platz, ich hoffe sehr, Ihr lieben Moderatoren laßt mir das durchgehen. Die Erklärung, warum hier, folgt später.


Es ist KEIN Vokalwerk? Die Sänger und den Chor bilde ich mir nur ein?
Es fällt mir etwas schwer, auf Eure sehr persönlichen Anmerkungen zu reagieren. Mir scheint aber, dass Ihre Nachvollziehbarkeit nicht nur an ihrem persönlichen, sondern auch ihrem sehr abstrakten Charakter, den ich nur schwer auf konkrete Passagen des Werks beziehen kann, leidet. Bezug auf bestimmte Abschnitte wäre sehr hilfreich.



Johannes (J): Allein auch in dieser Aufnahme höre ich nicht Gott!


Wie auch immer das zu verstehen ist, das scheint mir ein weit überzogener Anspruch an ein geistliches Werk...



Daß die Missa solemnis großartige Musik ist und zutiefst ergreifende Stellen enthält, ist völlig unbestritten! Ist es einfach hier die Musiksprache, höre ich da zuviel "weltliches".


Zum Beispiel? Etwa im Gegensatz zu Mozarts "Spatzenmesse" oder "Krönungsmesse" oder einer späten Haydn-Messe, oder auch einem aus dem weltlichen Kontext parodierten Chor wie "Jauchzet, frohlocket"?

Was ist weiter unten mit "mathematisch aufgebaut" gemeint? Wo und wie hört man das?



Ich glaube die Missa ist neben seinem Heiligenstädter Testament ein Ausdruck der Bewältigung seiner Taubheit und seiner gescheiterten Versuche im Sinne einer bürgerlichen Existenz (Ehe, etc.) Könnte es nicht dieser Aufschrei "Warum mir?" sein? Ist es nicht eine emotionale Abrechung mit Gott, allerdings ganz sicher eine, ohne an Gott zu verzweifeln oder ihn zu leugnen?
Vielleicht habe ich ja so meine Probleme mit der Missa, weil sie bei aller zutiefst subjektiven Emotionalität so rational formal gebaut ist! Was das angeht ist sie ja durchaus mit Bachs h-moll-Messe zu vergleichen (sonst fällt mir auf dem Gebiet der oratorischen Messe kein ähnliches Beispiel ein). Bach aber ist in seiner Ausdrucksgestaltung, die keineswegs weniger eindringlich als bei Beethoven ist (in meinen Augen sogar wesentlich tiefer, aber das ist subjektiv), nicht so subjektiv sondern wesentlich objektiver. Ein Widerspruch, aber du weißt was gemeint ist. Und das paßt eben besser zur formalen, weil objektiven Gestaltung!

Zwar bin ich immer noch der Überzeugung, daß Beethoven weitergeht als seine Befindlichkeiten musikalisch auszudrücken...


Kennt Ihr den Text von Adorno "Verfremdetes Hauptwerk. Zur Missa solemnis"?
Ich habe den vorhin nochmal gelesen; rasch zusammenfassen geht schlecht. Aber in einigen Kernpunkten vertritt Adorno beinahe das Gegenteil von dem, was hier geäußert wird:

Die Missa sei ungewöhnlich für Beethoven und ungewöhnlich für das Spätwerk: "...weit weniger gegen den Strich komponiert als die letzten Quartette und die Diabelli-Variationen. Sie fällt überhaupt nicht unter den Stilbegriff des letzten Beethoven, wie er von jenen Quartetten und Variationen ...(usw.).. abgeleitet ist."
"Die Missa hat einzelne Abruptheiten, das Aussparen von Übergängen, mit den letzten Quartetten gemein, sonst wenig. Insgesamt zeigt sie einem dem vergeistigten Spätstil genau entgegengesetzten, sinnlichen Aspekt, eine Neigung zum Prunkvollen und klanglich Monumentalen..." Solche Überwältigungseffekte hülfen dem Hörer "übers eigene Unverständnis" hinweg. Es fehle dem Werk überhaupt die Handschrift Beethovens, jemand, der sie nicht kennte, hätte Schwierigkeiten, den Komponisten zu erraten. (Noch mehr gälte das für Christus am Ölberg und die C-Dur-Messe, deren "unbeschreiblich zahmes Kyrie ließe allenfalls einen schwachen Mendelssohn vermuten.")

Es gäbe keine oder kaum thematische Arbeit im dynamischen Sinne wie sie sonst typisch für Beethoven sei. Sie habe keine "Beethoventhemen", weil eh nichts durchgeführt würde. Formsprengend sei sie höchstens im Sinne äußerlicher Dimensionen. "Keineswegs aber bricht die Missa druch subjektive Dynamik aus der vorgeordneten Objektivität des Schemas aus oder erzeugt gar im symphonischen Geist ... die Totalität aus sich heraus.
Die Fugen und Fugatothemen "haben etwas eigentümlich Zitierendes, nach Modellen errichtetes"... "Überhaupt steht das Werk wie zu aller subjektiven Dynamik so auch zum Ausdruck distanziert."
Ausnahme sei nur das Benedictus + Präludium. Sprengend könne man einzig die Et vitam venturi Fuge nennen.
usw.
Adorno konstatiert als Zwischenbilanz eine "Rätselfigur" des Werks: "das ist der Einstand zwischen einer archaistischen, die Beethovenschen Errungenschaften unerbittlich opfernden Verfahrungsweise und einem menschlichen Ton, der gerade der archaischen Mittel zu spotten scheint." Das könnte man so deuten, dass im Werk ein "Tabu der Negativität des Daseins" zu spüren wäre. "Weder ist die Religiosität der Missa... die des im Glauben Geborgenen noch eine Weltreligion so idealistischen Wesens, daß sie zu glauben vom Subjekt nichts verlangte.... In seiner ästhetischen Gestalt fragt das Werk, was und wie vom Absoluten ohne Trug sich singen ließe, und darüber ereignet sich jene Schrumpfung, die es entfremdet und der Unverständlichkeit annähert..."

Ich breche mal ab, weil ich nicht sicher bin, ob ich das überhaupt verstehe. Vielleicht sind doch ein paar Anregungen dabei...

Ich selbst hatte mit dem Werk nie Schwierigkeiten, vermutlich haben mir die Überwältigungseffekte das eigene Unverständnis erst gar nicht bewusst werden lassen
Joachim49
Inventar
#4 erstellt: 18. Mai 2012, 23:36
Also ich weiss nicht: wenn ich die Adornozitate lese, ich käme nie auf die Idee, dass sie sich auf Beethovens 'Missa Solemnis' beziehen. Ich halte diese Messe für ein unglaublich kühnes Werk. Dass sie nicht aus dem vorgeordneten Schema ausbricht, diese Behauptung halte ich für Quatsch. Da wollte der Herr Professor mal wieder besonders provokativ orginell sein. (Ich hoffe, dass sich Aladdin durch diese Bemerkung provozieren lässt und mal wieder von sich hören lässt)
Szellfan
Hat sich gelöscht
#5 erstellt: 19. Mai 2012, 07:59
Hallo Joachim, hallo Kreisler jun.
wie es aussieht, bist Du ja zum Nachdenken angeregt worden. Danke für Deine Beiträge!
Wenigstens stichpunktartig von mir:
ganz sicher ist die Klemperer-Aufnahme ein wichtiges Dokument, ich schätze sie auch immer noch sehr.
Doch ist Klemperer eben nicht so kompromisslos in der Umsetzung wie eben Szell, was aber vielleicht daran liegen mag, daß er die Möglichkeiten, insbesondere mit seinem Chor nicht hatte, die geforderten Tempi zu nehmen?

Und natürlich "bildest" Du Dir Sänger und Chor nicht ein, die hören Johannes und ich natürlich auch. Aber in der Behandlung ihrer Partien schreibt Beethoven Instrumentalmusik; vielleicht vergleichbar mit dem Vorwurf Tartinis an Vivaldi, daß die menschliche Gurgel kein Geigenhals sei.

Mathematisch aufgebaut ist die Missa ganz streng zumindest innerhalb der Temporelationen einzelner Sätze zueinander. Diese Relationen "klammern" die Messteile unabhängig aller Brüche innerhalb der Großsätze zusammen. Allerdings entsteht daraus diese gewisse Unsingbarkeit, diese Tempi und ihre Verhältnisse zueinander zu musizieren, wagt dann auch niemand so kompromisslos wie Szell. Dausgaard nähert sich dem an und kommt dadurch oft zu Ergebnissen, die dem Mitschnitt Szells beinah austauschbar ähnlich klingen.

Deinem letzten Satz, dem zu Adorno, kann ich hier nur kommentarlos zustimmen.
Herzliche Grüße, Mike


[Beitrag von Szellfan am 19. Mai 2012, 08:01 bearbeitet]
Kreisler_jun.
Inventar
#6 erstellt: 19. Mai 2012, 11:27
Woher stammt das Argument mit den Temporelationen? Da es keine Metronomangaben gibt und auch nie oder nur selten so etwas wie "Viertel= Halbe" bei einem Tempowechsel, bin ich da erstmal sehr skeptisch.

Ich war früher auch der Ansicht, dass Adorno einfach persönlich ein Problem mit dem Werk hatte, weil Beethoven hier nicht so komponiert, wie nach Adornos Ansicht der späte Beethoven komponieren solle. Selbst wenn, könnten seine Ansätze dennoch interessant sein.
Gewiss übertreibt er ein wenig. (Auch beim Kommentar zu der unterschätzten C-Dur-Messe, von der gleichwohl viele meinen, dass sie ein eher unpersönliches Werk sei.)

Andererseits sind etliche seiner Anmerkungen für mich durchaus nachvollziehbar:
- Der, teils auch klanglich, überwältigende Charakter ist kaum zu bestreiten, oder?
- "sinfonisch" im Sinne von Durchführung und thematischer Arbeit ist das Werk nur bedingt. Dass es keine merkbaren Themen gäbe, finde ich nicht, wobei das Kyrie tatsächlich uneinprägsam ist und einige andere Motive sehr einfach (was freilich durchaus ein Beethoven-Charakteristikum wäre).
- Insofern hat Adorno auch recht, dass die der Musik äußerliche liturgische Form klar gegenüber durch eigene Dynamik bestimmten Formen von Sinfonien und Quartetten dominiert. "Formsprengend" halte ich eh für eine problematische Metapher; äußerliches wie Länge (dabei deutlich knapper als Bachs h-moll) und Schwierigkeit des Singens kann kaum der Punkt sein.
- Die Missa wirkt auf mich jedoch nicht episodisch (das behauptet Adorno auch nicht), bloß durch den vertonten Text oder sehr schlichte Mittel wie die rondoartige Wiederkehr des Gloria- oder Credo-Themas zusammengehalten. Inwieweit und wie genau hier subkutane Einheit gestiftet wird, wäre zu untersuchen (einige Kommentatoren identifizieren solche "Urmotive")
- Andererseits würde wohl niemand behaupten, dem Werk sei eine offenbare und demonstrative Einheit wie der 5. Sinfonie oder dem cis-moll-Quartett zu eigen.
- Ich finde daher nachvollziehbar, dass Beethoven sich anscheinend mehr nach der traditionellen Organisation des Messetexts in entsprechende Abschnitte (man nehme etwa auch die Fugen an den traditionellen Stellen) richtet als nach einer musikalischen Eigengesetzlichkeit oder gar nach subje€ktiv-biographischem Ausdruck.
- Also "objektiv", weil liturgisch-traditionelle Struktur statt "absolut-musikalischer", unprovokante (also nicht wie in den Fugen in opp.106 und 133, selbst die von TWA ausgenommene Et-vitam-Fuge ist kaum so widerborstig wie eine von denen) Polyphonie statt "Durchführung als Bewährung des Helden", oft wenig markante Thematik bis zu kontrapunktischen Floskeln statt subjektiv-ausdrucksvollen Themen usw. (Harmonik zB wage ich gar nicht zu beurteilen; hier räumt TWA ja die Kühnheiten des Praeludiums vorm Benedictus ein)

Vielleicht kann man erstmal versuchen sich über diese recht phänomen-nahen Punkte auseinanderzusetzen, bevor man zu der (auch für mich etwas rätselhaften) Deutung als verfremdetes Rätselwerk kommt.
Kings.Singer
Inventar
#7 erstellt: 19. Mai 2012, 11:56
Ich entferne mich mal ein Stück weit von der empirischen Ebene und gehe auf ein Zitat von Johannes und Kreisler_jun. ein.


Kreisler_jun. schrieb:


Johannes (J): Allein auch in dieser Aufnahme höre ich nicht Gott!


Wie auch immer das zu verstehen ist, das scheint mir ein weit überzogener Anspruch an ein geistliches Werk...


Ich frage mal anders: Wo, wenn nicht im geistlichen Werk, sollte man "ihm" näher kommen?

Ich kann Johannes' Ansinnen ein Stück weit nachvollziehen. In einigen Werken habe ich das Gefühl, dass sich hier nicht mehr nur Menschliches abspielt. Ich beschreibe es gerne so: Man hat das Gefühl, der Heilige Geist habe es dem Komponisten eingegeben (wobei die Vorstellung an sich natürlich reichlich naiv ist). Dumm nur, dass man niemand Anderen auf solch eine Reise mitnehmen kann. Argumentativ wird man Niemanden etwas Transzendentes näher bringen, so subjektiv wie diese Empfindung ist.
Ich beispielsweise habe diese Empfindung im Unterschied zu Johannes bei Bachs Musik nie. Das ist mir viel zu verkopft, viel zu... Mir fehlen gerade die richtigen Worte das zu beschreiben. Ich "höre Gott" sehr oft zum Beispiel bei Bruckner. Zum Beispiel und ganz besonders im Kyrie der f-moll Messe oder im Credo ("et resurrexit") [Aufname mit Rögner]. Dann würde ich noch Verdi nennen wollen, im Requiem oder im Te Deum (aus den Quattro Pezzi). Im Urlicht aus Mahlers zweiter Symphonie [Christa Ludwig/Mehta]. Auch Vaughan Williams lässt mich mit offenem Mund staunen, am Beginn des vierten Satzes seiner Sea Symphony [Boult stereo]. Das Offertorium des Dvorak-Requiems wäre noch zu nennen (insbesondere "et signifer sanctus Michael") [Sawallisch]. Nicht zuletzt dann auch Beethoven, aber nun gerade nicht in seiner Missa Solemnis. Ausgerechnet im Schlusssatz seiner Neunten, dem ich sehr ambivalent gegenüberstehe. Allerdings klingt der Beginn des sog. Sternen-Adagios in meinen Ohren wie nicht von dieser Welt [Wand] - leider hält das Gefühl in diesem Fall nicht lange an.

An all diesen Stellen frage ich mich jedes mal aufs Neue, ob es wirklich nur ein Mensch im Rahmen seiner menschlichen Möglichkeiten gewesen sein kann, der diese Musik schrieb.

Viele Grüße,
Alexander.


[Beitrag von Kings.Singer am 19. Mai 2012, 12:00 bearbeitet]
Szellfan
Hat sich gelöscht
#8 erstellt: 19. Mai 2012, 12:23
...dazu möchte ich hier einmal Michael Gielen zu Wort kommen lassen:
"Nun hat man ja bei Ihren Interpretationen immer wieder unterstrichen, dass Sie bei Beethoven doch relativ schnelle Tempi verwenden…

Das bin nicht ich, das ist Beethoven, der das verlangt. Das ist eben das Glück, dass man diese Metronomangaben hat, während die Aufführungspraxis durch Dirigenten wie Furtwängler nach eigenen Gesichtspunkten verändert wurde. Ich sage Furtwängler, aber es gab auch viele andere. Nur war Furtwängler der Prototyp des von Wagner herkommenden poetisierenden Dirigenten, der alles praktisch langsam dirigierte.

Sind Sie eigentlich immer bei diesenTempi geblieben? Man sagt von einigen Dirigenten, dass sie wieder langsamer werden, wenn sich so etwas wie Altersweisheit einstellt.

Na ja sicher, der Blutdruck und die Lebensenergie verändern sich halt bei jedem. Ich bin sicher jetzt im Ganzen moderater als noch vor Jahren, das ist schon richtig, und trotzdem haben sich, gerade eben weil Beethoven metronomische Angaben macht, die Tempi bei mir am allerwenigsten verändert.

Kommen wir zur Missa Solemnis, die Sie jetzt dirigieren. Vielleicht sagen Sie uns ein paar Worte darüber und warum Sie gerade dieses Werk für diese Tournee ausgewählt haben.

Ich halte es für eines der interessantesten und schönsten Werke der gesamten Literatur und auch innerhalb Beethovens Kompositionen ist es zusammen mit der 9. Symphonie die Ansprache an das große Publikum, die Ansprache an das Volk, mit dem großen Apparat und mit einem großen geistigen Thema. Es gibt ganz wenige Werke der Literatur, die diesen Rang einnehmen, vielleicht noch die h-Moll Messe von Bach, und dann muss man schon sehr nachdenken, um auf etwas ähnlich Wertvolles, ähnlich Imponierendes zu kommen. Die Missa Solemnis ist noch komplexer als die neunte Symphonie und verlangt eine besondere Konzentration des Hörers und eine große Intelligenz des Interpreten.

Dabei hat Beethoven aber gesagt: "Von Herzen, möge es zu Herzen gehen". Das klingt doch sehr einfach.

Ja, wenn es dann klappt, wenn’s fertig ist, natürlich: Der Ausdruck kommt nicht nur aus dem Hirn, sondern aus dem Herzen, weil der Apparat und wie es komponiert ist, von größter Komplexität sind. Das eine widerspricht nicht unbedingt dem anderen, es muss ja nicht eine dumme Musik sein, die zu Herzen geht.

Man hat sehr oft über die Religiosität von Beethoven gesprochen. Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht für Ihre Interpretation?

Nein, was der Beethoven sich gedacht hat, das ist ja eben die Komposition, und warum soll man sich darüber noch extra Gedanken machen?Dass er konfessionell nicht gebunden war, das ist sicher, weil der Satz 'et unam sanctam, catholicam et apostolicam Ecclesiam' fehlt. Und das steht, glaube ich, doch dem Komponisten frei, ob er diesen Satz unbedingt benutzen will oder ob er das christliche Bekenntnis allgemein akzeptiert, ohne es konfessionell zu binden. Wichtiger ist wohl, dass er singen lässt: "Credo, credo"! Er sagt nicht einfach "Credo" wie alle anderen, er wiederholt das Wort. "Credo! Credo!", glaubt es mir doch, dass ich glaube. Er muss es stark betonen, weil es nicht mehr selbstverständlich war, nach der französischen Revolution, dass man naiv glaubte."

Quelle:http://www.pizzicato.lu/interviews/gielen.htm
Kreisler_jun.
Inventar
#9 erstellt: 19. Mai 2012, 12:51
@Kings Singer: Die Subjektivität dessen, was man darunter versteht, "Gott in der Musik zu begegnen, zeigt sich doch daran, dass das eben bei jedem irgendwo und irgendwie anders geschieht. Für Dich nicht bei Bach, wo es für andere beispielhaft vorkommt usw. Oder eben gar nicht, weil er keine Vorstellung davon hat, wie es sein könnte, Gott zu begegnen. (Vgl. die Passage in der Elia-Geschichte, wo Gott nicht im Sturm usw. ist). Ich halte das deswegen für ein problematische Aufladung. Natürlich will ich den Inhalt der geistlichen Musik nicht ignorieren. Aber der ist eben vielgestaltig und oft erheblich konkreter. ZB Klage in bestimmten Passagen des Stabat mater, das dramatische Geschehen der Passion, überirdischen Glanz in Sanctus (wie bei Bach) oder eben auch ein andächtig-erschauerndes "Gebet" (wie im Sanctus von Beethovens Missa solemnis).

Ich gehe daher u.a. danach wie überzeugend für mich die Inhalte dieser Texte umgesetzt werden (und natürlich wie packend die Musik selbst ist). Und da finde ich die Missa-solemnis nach wie vor ziemlich überwältigend. Selbst wenn das Kyrie vgl. etwa mit dem ersten der h-moll-Messe etwas "blass" sein mag, finde ich diese Weite und Andächtigkeit in seiner Weise ebenso beeindruckend wie den "Zug reuiger Sünder" bei Bach

ad Gielen
Es ist schlicht falsch, dass der Satz "et unam sanctam..." fehlen würde Credo, T. 281 ff im Tenor). Er geht jedoch wie beinahe der gesamte Artikel, also heiliger Geist, Sündenvergebung, Gemeinschaft der Heiligen usw. "unter", weil währenddessen eben das "Credo, credo" in den anderen Stimmen wiederholt wird. Das scheint mir eine der Passagen zu sein, in denen tatsächlich mal ein musikalischer Effekt dominiert, nämlich die Credo-Reprise+Steigerung und damit eine Bekräftigung der Grundaussage zu Lasten der detaillierten Textvertonung. (Daraus zu schließen, dass Beethoven alle genannten Punkte für weniger wichtig hält, scheint mir voreilig. Oder selbst wenn, gäbe es keinen Grund das Bekenntnis zur Kirche als explizit vernachlässigt hervorzuheben, wenn das für den Hl. Geist genauso stimmt.)
Letztere mag für manchen sonst in der Missa zuweilen fast die Grenze zur plakativen Tonmalerei streifen: die Posaune bei "judicare", subito piano bei "mortuos" oder "invisibilium", aufsteigende Skalen bei "ascendit" usw.
flutedevoix
Stammgast
#10 erstellt: 20. Mai 2012, 14:51
Es freut mich sehr, daß doch noch eine Diskussion in Gang kommt!


Ich kann Johannes' Ansinnen ein Stück weit nachvollziehen. In einigen Werken habe ich das Gefühl, dass sich hier nicht mehr nur Menschliches abspielt. Ich beschreibe es gerne so: Man hat das Gefühl, der Heilige Geist habe es dem Komponisten eingegeben (wobei die Vorstellung an sich natürlich reichlich naiv ist). Dumm nur, dass man niemand Anderen auf solch eine Reise mitnehmen kann. Argumentativ wird man Niemanden etwas Transzendentes näher bringen, so subjektiv wie diese Empfindung ist.


Das ist mein Ansatz ganz genau auf den Punkt getroffen! Es wird immer ein absolut persönliches Empfinden sein, "Gott zu hören", so wie nun einmal grundsätzlich jede Form von Glaube zunächst eine zutiefst persönliche ist.
Ich habe diesen Anspruch nicht per se an ein geistliches Werk, ich halte es aber aus meiner subjektiven Sicht sehr wohl für mich persönlich für ein nicht zu unterschätzendes Kriterium, inwieweit mich ein geistliches Werk überzeugt. Ich würde diese Argument niemals ins Feld führen, um kompositorische Qualitäten eines Werkes einzuordnen, eben weil es ein zutiefst subjektives "Argument" ist. Ich denke aber schon, daß sich geistliche Musik auch diesem Anspruch (sei es nun bewußt oder unbewußt) stellen muß, zumindest wenn es sich um ein "gläubigen" Hörer handelt.

Dazu paßt jetzt auch die Aussage:


und da finde ich die Miussa-solemnis nach wie vor ziemlich überwältigend


Das könnte einer der Gründe sein, der mir den Zugang zur Missa solemnis erschwert, eben dieses durchaus vorhandene Plakative. Auf der einen Seite sorgt dieses Element für sehr eindringliche Momente, läßt durchaus Schauer vor der Größe und Allmacht Gottes aufkommen, auf der anderen Seite hat es für mich aber immer das Odium des Überredenden, des Überstülpenden. Das entsprich nun eben nicht meinem persönlichen Glauben, in dem die allumfassende Liebe Gottes zentral ist.

Ich möchte abschließend aber wirklich noch einmal zu bedenken geben, daß wir hier auf einer sehr subjektiven Ebene sprechen, auf der Ebene wie ein Werk auf jeden einzelnen von uns wirkt. Das wird immer sehr unterschiedlich sein und hat nur bedingt etwas mit der kompositiorischen Qualität eines Werkes zu tun.


[Beitrag von flutedevoix am 21. Mai 2012, 00:29 bearbeitet]
flutedevoix
Stammgast
#11 erstellt: 20. Mai 2012, 14:57
So und nun zu Adorno und seinem Text über die Missa solemnis!
Ohne Adorno zu nahe treten zu wollen oder seine überragenden intelektuellen Fähigkeiten anzweifeln oder gar in Abrede stellen zu wollen, aber nicht alle seine Auslassungen zu musikalischen Fragen (nach meiner Auffassung sogar eher weniger als mehr) werden sub specie aeterna Bestand haben. Adorno entwickelt ein ganz spezielles Anforderungsprofil an die Missa, der sie nicht gerecht wird, das scheint mir sein Problem zu sein. Abstraktion von den eigenen Ansprüchen und Ableitungen aus dem Spätwerk Beethovens täte hier Not!



Es fehle dem Werk überhaupt die Handschrift Beethovens, jemand, der sie nicht kennte, hätte Schwierigkeiten, den Komponisten zu erraten


Allein dieser Satz ist aus der Luft gegriffen. Die Verwandschaft des Beginns des Glorias zur 9. Sinfonie, die ja annähernd zur gleichen Zeit entstand, sowie des Marcia-Abschnittes des Agnus Dei zum alla-Marcia-Abschnitt des Chorfinales der 9. Sinfonie ist evident! Dazu ist die Behandlung der Solovioline im Agnus Dei verwandt mit dem Violinkonzert, das hat so niemand anderes als Beethoven in dieser Zeit geschrieben. Weiterhin wage ich zu behaupten, daß gerade das Zerrissene, das bisweilen fast schon blockartige Gegenüberstellen typisch für das Spätwerk, zumindest jedoch für das vokale Spätwerk Beethovens ist. Auch hier genügt der Verweis auf das Chorfinale aus der 9. um die Verwandschaft zu benennen.


- Ich finde daher nachvollziehbar, dass Beethoven sich anscheinend mehr nach der traditionellen Organisation des Messetexts in entsprechende Abschnitte (man nehme etwa auch die Fugen an den traditionellen Stellen) richtet als nach einer musikalischen Eigengesetzlichkeit oder gar nach subje€ktiv-biographischem Ausdruck.


Das Zitat bezieht sich nicht direkt auf Adorno, dennoch sehe ich hier erhöhtes Widerspruch-Potential!
Beethoven folgt meines Erachtens nur sehr bedingt der traditionellen Organisation des Messetextes.
- Ich kenne bis Beethoven keine andere oratorische Meßvertonung, in der die Teile des Ordinarium in etwa die gleiche Aufführungsdauer beanspruchen (ich nehme Sanctus und Benedictus zusammen wg. der textlichen Hosanna-Klammer).
- Das Credo endet nicht mit einer triumphalen Fugen-Coda sondern verklingt leise, geradezu morendo
- Auch das Sanctus wird nicht zur Verherrlichnung Gottes genutzt: kein Tutti-Einsatz in homophopnen Blöcken, wie so oft üblich und Konvention, sondern eine geradezu suchend zu nennende Einleitung mit fugiertem Einsatz der Solisten bei klanglicher Zurücknahme. Vokale und orchestrale Prachtentfaltung in Maßen erst beim Hosanna!
- Die traditionelle Klammer des thematisch gleich gestalteten Hossanna nach dem Benedictus ist aufgehoben.
- Der Einsatz der Sologeige im Benedictus ist trotz des Vorbilds (?) der Orgel in den Orgelsolomessen ohne Parallele.
- die beinahe rhapsodisch zu nennende Gliederung des Agnus Dei ist ebenfalls ohne Parallele bis Beethoven
- auch im Agnus keine mächtiger polyphon (fugen) dominierter Schluß sondern ein leises Verklingen.
Das alles nur spontan notierte Aufbrüche der Konvention, allein dadurch entfällt meines Erachtens schon der Vorwurf, eine subjektive Äußerung Beethovens sein nicht zu konstatieren. Daß das Verlassen der Konvention mit persönlicher Akzentsetzung Beethovens zu erklären ist, setze ich jetzt einfach mal als gegeben voraus. Mangelndes kompositorisches Können wird es nicht sein!

Nun, das nächst Konzert ruft, ich werde bei Gelegenheit fortsetzen!


[Beitrag von flutedevoix am 21. Mai 2012, 00:36 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#12 erstellt: 20. Mai 2012, 18:33

Szellfan schrieb:
...dazu möchte ich hier einmal Michael Gielen zu Wort kommen lassen:
"Nun hat man ja bei Ihren Interpretationen immer wieder unterstrichen, dass Sie bei Beethoven doch relativ schnelle Tempi verwenden…

Das bin nicht ich, das ist Beethoven, der das verlangt. Das ist eben das Glück, dass man diese Metronomangaben hat,


Wir hatten eine Diskussion im Capriccioforum und mein Diskussionsstand ist, wenn man mich nicht falsch informiert hat, daß es eben keine Metronomangaben von Beethoven im Falle der Missa Solemnis gibt - im Gegensatz etwa zu den Sinfonien.

Nichtsdestotrotz liegen mir die zügigen Tempi von Zinman sehr, während mich die lang ausgewaltzten Tempi von Giulini oder Colin Davis verständnislos zurückließen.

Die Missa Solemnis ist nicht mein Lieblingswerk Beethovens, aber sie hat großartige Momente.

Die Frage nach dem "Gottesbezug" und Adornosche Weisheiten lassen mich relativ kalt. Natürlich ist das religiöse Musik, nur jeder Komponist bringt hier seine ganz persönliche Note herein. Ich empfinde hier Beethovens Missa Solemnis als relativ ehrlich. Vergleicht man sie etwa mit Brahms Deutschem Requiem ( die weiter oben von Mike oder Flutedevoix gegen die Missa Solemnis ausgespielt wurde) , so hat Brahms Musik bei aller Großartigkeit einen nicht zu übersehenden sentimentalen Touch. Das macht sie gewissermaßen "religiöser" auf der einen Seite, aber auch unreligiös unehrlicher auf der andenen. Brahms Musik auch in seinen Texten wie "wie eine Mutter tröstet" oder "Wie lieblich sind Deine Wohnungen" sind sentimentale Spiegelungen der einfachen Volksfrömmigkeit. Mahlers "Urlicht" ist religiös sentimental, ähnliches ließe sich über vieles von Elgar sagen. Das ist keine Kritik an Brahms, ich schätze das deutsche Requiem sehr. Beethovens Missa Solemnis spiegelt aber sehr wohl Beethovens Spirtitualität, die bestimmt einen Zug zum Übermenschlichen hatte, dabei aber niemals wirklich sich einen sentimentalen Blick auf die fromme Tante gestattete. Übrigens sehe ich hier durchaus auch eine Parallele zu Händel, dessen geistliche Oratorien für den Konzertsaal, nicht für die Kirche gedacht waren, auch diese sind in ihrer grandiosen Selbstsicherheit wenig religiös im Sinne einer "Gottesfurcht", aber sie gleiten auch nicht in die Sentimentalität ab wie leider sehr viele religiöse Musik speziell auch der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Aber das mag jeder anders sehen.

Gruß Martin
Joachim49
Inventar
#13 erstellt: 20. Mai 2012, 22:17
Zunächst einmal eine theologische Bemerkung (eventuell korrekturbedürftig). Es ist glaube ich ein Missverständnis, wenn man das catholicam in 'unam sanctam catholicam' im Sinne eines Bekenntnisses zur römisch-katholischen Kirche versteht. Gemeint ist die Gemeinschaft aller Christen und der Ausdruck 'catholicam' wird glaube ich auch in einigen christlichen Glaubensbekenntnissen verwendet, die nicht das der römisch-katholischen Kirche sind. Jedenfalls kann der Ausdruck catholicam zur Entstehungszeit des Textes nicht eine Differenz zu anderen christlichen Kirchen bezeichnen. Fall dieser Text sozusagen als Protest gegen die päpstlich römische Kirche ausgelassen wird (wie man es etwa bei Schubert oft unterstellt), so beruht dies glaube ich auf einem Missverständnis.
Einige Aspekte dessen was hier über die Missa geschrieben wurde, entziehen sich der Môglichkeit rationaler Diskussion (was kein Vorwurf ist). Ich denke dabei an gewisse Deutungen des Ausdrucks ob man in der Missa Solemnis "Gott hört".
Man kann diesen von flutedevoix lancierten Ausdruck ganz unproblematisch verstehen. Viele Komponisten haben in Musiksprache das Meer beschrieben (wie etwa auch Dbussy, um das berümteste Beispiel zu nennen). Da kann man sagen 'Ich höre das Meer (nicht)' .
Was aber soll 'Ich höre Gott' (in der Musik) heissen? Nun, ein Stück Musik kann wohl mehr oder weniger gut Ausdruck eines Gottglaubens sein undbestimter religiöser Inhalte. Dann könnte man bildlich sagen 'Hier höre ich Gott' im unproblematischen Sinn, dass jemand einen religiösen Gottesglauben überzeugend und für andere, die das nötige Einfühlungsvermögen haben, glaubhaft ausgedrückt hat.
Bei KingsSinger wird daraus aber etwas überaus problematisches, nämlich die Idee, dass Gott selbst die Feder in der Hand hielt, als Beethoven oder Bach ihre grossen Messen schrieben. In Analogie etwa zur idee der verbalinspiration biblischer Texte. Eine solche Position pro und contra zu diskutieren scheint mir ganz und gar unmöglich. Metaphorisch ist sie unproblematisch: "Es ist gleichsam als ob ..." Das einzige was man dazu sagen kann, ist, dass der Allmächtige dann wohl auch in Werken nicht religiösen Charakters mitgemischt hat, die ein allerhöchstes Niveau erreichen (etwa schuberts Quintett).
Den von Szellfan so schön verworteten gedanken einer emotionalen "Abrechnung mit Gott" hatte ich selbst insbesondere, als ich Bruckners 9te mit Abendroth hörte (auf CD). Da dachte ich immer 'Was wird der 'liebe Gott' denn davon denken? (Hört man wenn man bruckners 9te ganz unvoreingenommen hört eine religiöse Komposition?)
Was die Adornodiskussion betrifft finde ich flutedevpoix überzeugend Wer anders als Beethoven soll es geschrieben haben? Und Anhaltspunkte dafür gibt es genug. Natürlich sorgt die Form der Messe für eine gewisse Eigengesetzlichkzeit und es ist mir rätselhaft, wie man quasi vorwurfsvoll sagen kann, die Missa Solemnis habe was ihre Form betrifft wenig ähnlichleit mit den Quartetten. Oder der 5ten
Natürlich nicht. Wie sollte sie? Und sie sei nicht besonders originell. Man muss ja nun wirklich taub oder schon böswillig sein um so etwas zu sagen. Womit ist die denn vergleichbar? Mit Mozarts Spatzenmesse?
Martin2
Inventar
#14 erstellt: 20. Mai 2012, 23:38
Ja, aber was soll ein nicht religiöser Mensch mit religiöser Musik machen? Mich hat diese Diskussion offen gesagt schon erstaunt, weil sie bei vielen der Mitdiskutanten eine Religiösität offenbart, insbesondere bei Mike und Flutedevoix, die mich offen gesagt überrascht.

Ich betrachte mich persönlich nicht als einen sehr religiösen Menschen, auch wenn ich das Christentum durchaus schätze. Ich habe keinen persönlichen Gottesbezug. Für mich ist der Mensch das größte und unter ihnen das größte der große Mensch. Etwas darüber gibt es für mich nicht.

Ich differenziere allerdings durchaus Religiösität und Spiritualität. Ob man das nach den Dudendefinitionen her so machen kann, bezweifle ich, es ist also für mich eher eine "persönliche Definition" dieser Begriffe.

Religiösität ist für mich diese "Gottesfurcht", diese ganz persönliche Unterwerfung gegenüber einem "höheren Wesen". Diese ist nicht mein Ding und ich mag sie nicht. Für mich ist sie Zeichen eines Untertanenwesens und einer letzlich ins Transzendente gerichteten "Unterwerfung". Dieses "sich ganz klein fühlen". Gegenüber Gott, gegenüber dem Papst. gegenüber dem gewaltigen Petersdom, nur weil er groß ist, gegenüber dem Kaiser oder meinetwegen noch gegenüber dem Theodor W. Adorno. Mag ich nicht, will ich nicht, interessiert mich nicht.

Trotzdem bin ich gegenüber religiöser Musik nicht gänzlich unempfänglich. Diese Empfänglichkeit hat zwei Seiten: Eine sentimentale Empfänglichkeit für religiöses Gefühl, die mich rührt, zweitens aber etwas, was man vage als "Spiritualität" beschreiben kann.

Wenn etwa Desdemona im Otello von Verdi eine Ave Maria gen Himmel schickt, so berührt mich dies. Es ist ein Mensch, der in seiner Verzweiflung nichts mehr hat als die höheren Mächte an die er sich wendet. Das finde ich rührend oder sogar berührend, ohne daß mich dies im geringsten zu einem religiösen Menschen macht, der nun seinerseits Ave Maria betet.

Dann aber mag es in religiöser Musik doch auch etwas geben, was man vage als "Spiritualität" beschreiben kann. Also was nicht religiöser Untertanengeist ist, sondern Versenkung in den Kosmos, in das Schicksal, in den unpersönlich gedachten "Weltgeist", in die Natur - Dinge dieser Art. Auch dies finde ich in religiöser Musik, etwa besonders bei Mahler.

Wo ich Beethovens Missa Solemnis hier nun einsortieren soll, weiß ich noch nicht. Gott suche ich in ihr nicht, Gott interessiert mich nicht. Ich finde sie nicht "zu weltlich", durchaus nicht. Sie ist spirituell, ganz ohne Frage, aber ich empfinde sie nicht als Darstellung eines religiösen Untertanengeistes. Dann würde sie mich auch nicht interessieren. Und ich sage: Ich bin mit dieser Musik noch lange nicht fertig. Viele Jahre mochte ich sie überhaupt nicht, konnte nicht im geringsten mit ihr etwas anfangen, sie verbreitet bei mir nur sakrale Langeweile. Zinman hat mit seinen schnellen Tempi das geändert, er eröffnete mir überhaupt erst mal etwas so wie einen Zugang zu diesem Werk. Ein bißchen "empfundener" als Zinman könnte das Werk aber eventuell interpretiert sein. Vielleicht hole ich mir mal den Herreweghe, Joachim hält ja viel von ihm, nur befürchte ich, daß der mir nach dem Zinman zu langsam sein könnte.

Wie ich also schon sagte: Ich bin mit diesem Werk durchaus noch nicht fertig, doch ist mein Zugang zu dieser religiösen Musik durchaus kein religiöser, kann es gar nicht sein. Für mich bleibt es ein schwieriges Werk, es läßt sich für mich nicht so einfach in ein Raster von "Spiritualität" oder "Rührung" bringen. Will Beethoven religiös rühren oder will er spirituell erheben? Ich weiß es nicht.

Ich möchte mir darüber aber auch nicht den Kopf zerbrechen. Für mich ist Beethovens Missa Solemnis in erster Linie Musik und nichts weiter. Dieser Musik wird man mit sakralem Weihrauch nicht gerecht - das hat mich der Zinman gelehrt. Sie bleibt aber mit ihrer genrebedingten Kleinteiligkeit schwierig.

Gruß Martin
Joachim49
Inventar
#15 erstellt: 21. Mai 2012, 00:21

Martin2 schrieb:
Ja, aber was soll ein nicht religiöser Mensch mit religiöser Musik machen?

Er soll sie sich wie andere Musik auch mit Freude anhören und sich von ihr ergreifen lassen.
Joachim49
Inventar
#16 erstellt: 21. Mai 2012, 00:34

Martin2 schrieb:

Religiösität ist für mich diese "Gottesfurcht", diese ganz persönliche Unterwerfung gegenüber einem "höheren Wesen". Diese ist nicht mein Ding und ich mag sie nicht. Für mich ist sie Zeichen eines Untertanenwesens und einer letzlich ins Transzendente gerichteten "Unterwerfung". Dieses "sich ganz klein fühlen". Gegenüber Gott, gegenüber dem Papst. gegenüber dem gewaltigen Petersdom, nur weil er groß ist, gegenüber dem Kaiser oder meinetwegen noch gegenüber dem Theodor W. Adorno. Mag ich nicht, will ich nicht, interessiert mich nicht.

Gruß Martin


Da hast Du wohl etwas zuviel Nietzsche gelesen! Was Du übrigens weiter unten anhand der Szene aus Othello beschreibst, ist ja nicht das Gefühl "sich ganz klein fühlen", sondern es ist ein Gefühl der Ohnmacht (sowohl im Hinblick auf das, was uns genommen wird oder vorenthalten wird, als auch im Hinblick auf das, was uns geschenkt wird. Jeder Mensch, der geliebt wird, der einen lieben Menschen verloren hat, der ein gesundes Kind zur Welt gebracht hat oder sich unverstanden und einsam fühlt kennt dieses Gefühl der Ohnmacht und, wenn er religiös musikalisch ist, seine religiöse (aber keineswegs konfessionelle) Dimension.
J
flutedevoix
Stammgast
#17 erstellt: 21. Mai 2012, 00:51

Ja, aber was soll ein nicht religiöser Mensch mit religiöser Musik machen?


Er wird möglicherweise das Problem haben, daß ihm ein Erfahrungs- oder Verortungshorizont fehlt, der für das Verstehen und Nachvollziehen der Musik nicht ganz unwesentlich ist. Das schließt aber nicht aus, daß er die Musik genießen kann, viel anderes bleibt ihm nicht übrig!

Zu Fragen der Spiritualität und Religiösität erkenne ich in Martins Äußerungen viel Unreflektiertes und Widersprüchliches. Heute Abend nur so viel: Religiösität ist in keinster Weise eine Form von Untertanengeist, sie verlangt ihn nicht und setzt ihn nicht voraus! Bringt man diese Auffassung zum Ausdruck sollte man zumindest den theologischen Freiheitsbegriff erwähnen und argumentativ sauber dagegen setzen! Das ist konfessionsübergreifend zu verstehen!
Martin2
Inventar
#18 erstellt: 21. Mai 2012, 02:00
Ja, es stimmt, ich habe viel Nietzsche gelesen, nahezu alles von ihm, über die Jahrzehnte verteilt. Nachwievor ist seine Religionskritik für mich wichtig, auch wenn mir vieles mittlerweile zweifelhaft erscheint, seinen Haß auf die Religion kann ich nicht nachvollziehen, gesellschaftlich erscheint er mir zu einzelgängerisch naiv.

Wir müssen hier im übrigen nicht zu philosophisch werden, die Musik sollte doch im Vordergrund stehen. Joachim hat völlig recht, daß diese Wendung an die höheren Mächte noch nicht unbedingt einen religiösen Untertanengeist zeigt. Es kann auch ein Zeichen von Ausgeliefertheit sein, auch ich selber würde nicht ausschließen, mich in bestimmten Extremsituationen an "höhere Mächte" zu wenden, es ist nicht immer eine Frage des Glaubens, sondern auch der persönlichen Ausgeliefertseins. Man braucht sich dessen glaube ich auch nicht zu schämen.

Zurück zur Musik. Welche Interpretation ist denn nun wirklich empfehlenswert, wenn eine so platte Frage in einem so hochgeistigen Thread erlaubt ist. Ich kann nur sagen mit den 85 oder 87 Minuten Colin Davis oder Giulini fand ich unerträglich, die etwas über 65 Minuten von Zinman offenbarten mir eine andere Welt, die 72 Minuten von Herreweghe könnten aber eventuell noch OK sein und dem Werk etwas mehr Raum zum Atmen geben als der Zinman. Wie lange braucht eigentlich Szell?

Wenn Flutedevoix in meinen Aussagen "Widersprüchliches" und "Unreflektiertes" erkennt, bin ich schon sehr gespannt, wie er das begründen will. Vorläufig ist das nichts weiter als eine Behauptung. Daß ich die Begriffe "Religiösität" und "Spiritualität" sehr im eigenen Sinne definiert hatte, habe ich bereits zugegeben.

Und es tut mir leid, der Bezug auf einen persönlichen Gott ist Untertanengeist. Dabei gebe ich zu, daß es auch einen gewissen "Machoatheismus" gibt, der mir nicht paßt. Ich muß nicht immer souverän sein, ich kann auch hilflos sein und schwach. Ich kann in meiner Schwäche auch mal Gott anrufen, warum nicht. Und ich kann in Beethovens Missa Solemnis möglicherweise die Form von Humanität finden, die das zuläßt.

Trotzdem: Es ist mit Gott wie mit dem Kaiser. Die Verehrung des Kaisers eines glühenden Royalisten beruht darauf, daß er den Kaiser dermaßen erhaben wähnt, daß ihn sich in unwürdigen Verhältnissen gar nicht mehr vorstellbar ist und an Gotteslästerung grenzt. Und so ist es mit Gott eben auch. Er ist der Erhabene, weil er im Himmel thront. Es ist nicht vorstellbar, daß von seinem Thron heruntergerissen würde und als Knecht in einem Bergwerk arbeitete. Ich weiß, durch Christus ist an dieser "Unvorstellbarkeit" viel gerüttelt worden und das ist es gerade, was ich am Christentum sehr schätze. Aber letzlich läuft es eben doch immer auf den Gott heraus, der Macht hat und vor dem man sich deswegen verbeugt. Das ist ein Aspekt am Religiösen, den man unmöglich verleugnen kann. Das sprengt möglicherweise den Thread, aber ich mag es nicht, als "unreflektiert" angegangen zu werden, wenn dann kein Argument folgt.

Gruß Martin
Szellfan
Hat sich gelöscht
#19 erstellt: 21. Mai 2012, 04:32
Hallo Martin,
zunächst eine ganz einfache Antwort auf eine ganz einfache Frage: Szell "braucht" für die Missa 76 Minuten, incl. Beifall.
Du bist damit auch der erste, den ich kenne, der das "Gelingen" des Werkes an einer äußeren Spieldauer festmacht, wobei die natürlich nicht völlig unerheblich ist.

Deine Meinungen zu Religiosität und Spiritualität haben mich derart gefesselt, daß ich mir an meiner Kippe die Pfoten verbrannt habe. Aber was soll ich sagen, ich bin nirgends Deiner Meinung.
Allerdings lasse ich Dir die natürlich, kann mich nur hier nicht beteiligen.
Versteh mich bitte nicht falsch, das meine ich ganz sachlich und ohne Vorwurf: es scheint mir unmöglich, einem Blinden eine Orchidee zu beschreiben, einem Tauben einen Nachtigallengesang,...einem Nietzscheanhänger das Gefühl, daß Gott stets und überall ist und nicht die Religion, die ihre Anhänger möglicherweise dazu anhält, sich ihr zu unterwerfen.
Damit könnte ich hier einen Zirkelschluß anstellen und schreiben, daß sowohl Johannes und ich, um nur mal bei uns beiden zu bleiben, davon überzeugt sind, einfach wissen, daß Gott auch in der Missa Solemnis zumindest sein kann, wenn nicht ist, wir beide nur unterschiedliche Wege haben, ihn dort auch zu finden.
Darüber haben wir uns ja eigentlich unterhalten.
Also ist unsere Grundvoraussetzung eine völlig andere als Deine.

Für mich war das erste Hören der Missa Solemnis ein vielleicht ähnlich großes Erlebnis wie für Johannes das des "Messiah".
Und vielleicht ist es kein Zufall, daß ich zur selben Zeit, ich war damals acht, ich meine Oma bei der Gartenarbeit fragte, ob es Gott gibt. Ihre Antwort: "Jung, sieh dich doch einfach um".
Sie, die niemals in all den Jahren eine Kirche auch nur betreten hat, hatte ein sehr enges Verhältnis zu Gott, quasi mit ihm. Ein sehr einfaches, wie ihre Antwort ja zeigt.
Eines, das mich sehr geprägt hat, denn, um im Garten zu bleiben, sie machte nicht den Unterschied zwischen der Nutzpflanze und dem Unkraut, beides hatte für sie die gleiche Daseinsberechtigung, und so war der Garten keineswegs verwildert, doch "Unkraut" wurde auch schonmal ausgegraben und im angrenzenden Wald wieder eingepflanzt, ebenso wie Mäuse lebend gefangen und anderswo wieder ausgesetzt wurden.
Was das für den Umgang mit Menschen heißt, muß ich hier wohl nicht erklären, wohl aber in Erinnerung rufen, daß sie noch einer Generation angehörte, die beide Weltkriege erlebt hat und mehrere ihrer Söhne verlor.
Sie lebte mit einer solchen Selbstverständlichkeit das vor, was Kant mit dem Kategorischen Imperativ sagt, sie stammte aus der Nähe Königsbergs und hatte mit Sicherheit nie von Kant gehört, sondern eben aus ihrer Art, mit Gott zu leben.

Um es ganz einfach zu sagen: für mich ist es so, daß ich in der Missa Solemnis beides finde, den "irrationalen" Gott und den "rationalen" Kant, als Einheit. (Beethoven bezieht sich im Autograph ja ausdrücklich auf ihn.) Somit "befriedigt" die Missa mich vollkommen, sowohl meinen Intellekt als auch alles "Irrationale".
Das wiederum eine sehr subjektive Sicht und damit Antwort, die man mir nachsehen möge.
Herzliche Grüße, Mike
Martin2
Inventar
#20 erstellt: 21. Mai 2012, 08:27
Hallo Mike,

wieder mal ein sehr schöner Beitrag von Dir, auch wenn wir selbstverständlich nicht einer Meinung sind. Müssen wir auch nicht.

Irgendwie kommt mir hier ein Satz von Robert Musil in Erinnerung, den ich neulich las und den ich jetzt selbstverständlich nicht wiederfinde. Sinngemäß hieß er: Für den Materialisten ist die Materie möglicherweise so etwas wie für den Gläubigen der Gesang der Engel. Das war ein sehr schöner Satz, dem ich sehr viel abgewinnen kann.

Friedrich Nietzsche war ein tiefgründiger Philosoph, dessen Tiefgründigkeit man aber dann nicht ermessen kann, wenn man nur etwas über ihn liest. Liest man über ihn, erfährt man nur seine Meinungen, Nietzsches Meinungen sind aber genau das, was ich an ihm am Unerheblichsten finde. Erkenntnistheoretisch hat er gar nichts zu sagen, Berkeley hat er vermutlich gar nicht verstanden, im Grunde ist er vom Positivismus nicht weit entfernt, sein Wille zur Macht Ontologie platt, sein Immoralimus bei Lichte betrachtet bedenklich, seine Erklärung des Menschen als eine Art Tier vulgär. Aber wie ich schon sagte, ist das alles unerheblich, viel wichtiger ist, wie er seinen Grundideen Farbe abgewinnt. Eine Farbe übrigens, die mir bei dem von Dir geschätzten Kant völlig fehlt. Der war wirklich nicht mehr als ein deutscher Professor.

Gustav Mahler hat das genau geahnt und Mahlers 3. ist ja nun auch gewissermaßen eine Provokation mit der Gegenüberstellung des Gesangs der Engel und dem "Oh Mensch, gib acht" von Nietzsche.

Wenn Du meinst, ich sei ein Blinder, dem man eine Orchidee erklären muß, so unterschätzt Du meine Vielschichtigkeit. Ich bin im übrigen gründlichst katholisch sozialisiert und auch immer noch Mitglied der katholischen Kirche. Allerdings hatte ich immer eine Tendenz zur Mystik und habe es immer mehr mit dem heiligen Geist gehalten. Aber genug davon. Wir sollten es doch immer mit Robert Musil halten und einem anderen das zugestehen, was ihm gewissermaßen wichtig oder sogar heilig ist, mag dies der Übermensch oder die Materie oder Gott sein.

Tempofragen sind mir allerdings wichtig, weil ich die Erfahrung gemacht habe, daß ein anderes Tempo den Charakter eines Werkes völlig verändern kann. Dabei geht es weiß Gott nicht darum, um Sekunden zu feilschen, aber es ist offensichtlich, daß es einen riesigen Unterschied macht, ob ich die Missa Solemnis in 90 oder in 65 Minuten spiele und so groß ist etwa die Interpretationsbreite. Deshalb meine Frage bezüglich des Szells. Szell scheint dann mit seinen 76 Minuten im Mittelfeld zu liegen. Sicher erschöpft sich eine Interpretation nicht im Tempo, das ist mir klar, doch habe ich, wenn mir etwas nicht gefiel, dies sehr oft an einem falschen Tempo fest machen können, so ist es bei der Missa Solemnis, so war es bei Bruckners 3. mit Inbal ( wie herrlich klingt das 2. Thema des Adagios mit Tintner bei langsameren Tempi) usw.

Gruß Martin
Szellfan
Hat sich gelöscht
#21 erstellt: 21. Mai 2012, 09:37
Hallo Martin,
schon vorhin spottete ich insgeheim, wenn auch nicht böswillig dabei denkend: Martin hat in Nietzsche "seinen" Gott gefunden, sich ihm zu unterwerfen.
Nun denn, ich sprach nicht Dich persönlich an als ich über das Erklären des Wunders einer Blüte einem Blinden gegenüber schrieb, sondern meinte das allgemein.
Ebenso wie ich hier auch keineswegs Nietzsche gegen Kant ausspielen oder aneinander messen wollte, denn ich fürchte, beide haben die gleiche Wertschätzung berechtigt verdient.
Ein wenig juckt mich jetzt zwar in den Fingern, zu schreiben, was denn Mystik gegen Glauben....aber dann doch lieber nicht.
Kant konnte ich nicht unerwähnt lassen, weil er für Beethoven bei der Komposition der Missa wichtig war.
Und sei er nun der dröge Professor oder auch nicht, seine Biographie legt den Verdacht ja nahe, einen Satz wie den Kategorischen Imperativ zu erfassen und als etwas durchaus Lebendiges zu verstehen, im Ergebnis vielleicht nicht so weit weg von den "Zehn Geboten", ist alles andere als deutsche Professorentätigkeit.
Kicher: trocken ist dann schon eher die Tempofrage....
Nein, ist sie nicht, hier teile ich Deine Meinung ja durchaus, daß Tempi zum Verständnis eines Werkes von großer Bedeutung sind.
Klemperer hat schon recht: es gibt nur ein Tempo und das ist das richtige. Typisch Klemp, er sagt alles und nichts damit. Aber so kommt es, daß Szell schneller wirkt als Herreweghe, obwohl er doch fünf Minuten länger braucht. In diesem speziellen Fall leicht zu erklären, da Szell der "Logik" der Tempi deutlich rationaler folgt als Herrewghe, der die Missa insgesamt lyrischer betrachtet.
Dir zur Freude bildlich gesagt: Herreweghe hat mehr Nietzsche, Szell mehr Kant.
Allerdings spannend meiner Meinung nach eben dieser Mitschnitt mit Harnoncourt, den zu schätzen ich erst das Bild und die Unterstützung Johannes' brauchte. Harnoncourt ist erheblich langsamer, insgesamt eine Stunde 38 Minuten. Allerings auch hier: mit Beifall; mit nicht enden wollendem. Und einer Schweigeminute zwischen Credo und Sanctus. Dabei höchste Konzentration wahrend, sie dient nicht der Entspannung, sondern eben der Sammlung. Deutlich wird bei ihm, daß er die drei vorangegangenen Sätze quasi als "Wir" versteht, das folgende Sanctus/Benedictus und Agnus Dei als "Ich", wozu ja die solistische Anlage der Sätze angelegentlich sein könnte, in Zusammenfassung dann im Agnus Dei.
Harnoncourt gelingt eine Aufführung, die sowohl die Schönheit der Aufnahme Herreweghes beeinhaltet als auch die strenge Logik eines Szell.
Und, wieder ganz subjektiv, die Zeit vergeht mir dabei wie im Fluge, niemals käme ich auf den Gedanken, eineinhalb Stunden "beweihräuchert" zu werden.
Dein Musil-Satz paßt hervorragend dazu, nur ist es möglicherweise so, daß ja Beethoven beides komponiert hat, Materie und Gesang der Engel ohne sie gegeneinander, sondern miteinander zu verstehen?
Herzliche Grüße,
Mike
Szellfan
Hat sich gelöscht
#22 erstellt: 21. Mai 2012, 13:38
P.S.:@Joachim,
insbesondere Dir Dank für die schönen Gedanken und Worte, die Du gefunden hast.
Herzliche Grüße,
MIke
Kings.Singer
Inventar
#23 erstellt: 21. Mai 2012, 15:14

Joachim49 schrieb:
Bei KingsSinger wird daraus aber etwas überaus problematisches, nämlich die Idee, dass Gott selbst die Feder in der Hand hielt, als Beethoven oder Bach ihre grossen Messen schrieben. In Analogie etwa zur idee der verbalinspiration biblischer Texte. Eine solche Position pro und contra zu diskutieren scheint mir ganz und gar unmöglich. Metaphorisch ist sie unproblematisch: "Es ist gleichsam als ob ..." Das einzige was man dazu sagen kann, ist, dass der Allmächtige dann wohl auch in Werken nicht religiösen Charakters mitgemischt hat, die ein allerhöchstes Niveau erreichen (etwa schuberts Quintett).
Den von Szellfan so schön verworteten gedanken einer emotionalen "Abrechnung mit Gott" hatte ich selbst insbesondere, als ich Bruckners 9te mit Abendroth hörte (auf CD). Da dachte ich immer 'Was wird der 'liebe Gott' denn davon denken? (Hört man wenn man bruckners 9te ganz unvoreingenommen hört eine religiöse Komposition?)


Gerade als Verbalinspiration wollte ich es nicht verstanden wissen, obwohl ich natürlich genau das geschrieben habe. Dass Gott, der Heilige Geist oder irgendwelche Engel auf den Schultern der Komponisten (in der Musik) oder Autoren (in der Literatur, z.B. Bibel) saßen/sitzen, das wäre dann vielleicht doch zu viel des Guten.

Gedanken, die ich an den genannten und anderen Stellen immer wieder habe, sind:
- Das klingt wie nicht von dieser Welt. (Um nicht zu sagen "entrückt", aber irgendwie tendiert es schon diese Richtung.)
- Kann ein Mensch alleine wirklich so etwas geschrieben haben?
- Was bewegt den Komponisten (oder Autoren) so etwas Wundervolles zu schreiben? (Der Begriff "Wunder" steht hier durchaus mit Absicht.)
Vor allem letztere Frage treibt mich dann immer wieder um. Bruckner wäre so ein Beispiel, von dem man ja weiß, dass er ein zutiefst religiöser Mensch gewesen ist. Wenn Menschen wie auch immer dazu inspiriert werden etwas zu komponieren, das in mir solche Gedanken und Gefühle auslöst, dann finde ich darin etwas Wahrhaftiges. Zumindest etwas Ehrliches, auf das ich mich einlassen kann. Dann ist die Musik nicht mehr nur Musik, sondern auch ein Bekenntnis, das unter Umständen auch mein Bekenntnis werden kann.
Selbstverständlich sind wir hier noch immer auf einer höchst subjektiven Ebene. Jeder wird, wenn überhaupt, von anderer Musik berührt und so unterscheidet sich auch das individuelle Bekenntnis, sofern vorhanden.

Da ist es mir dann auch egal, ob es ein seriöser Katholik ist, der mich überzeugt. Oder ein naiver Christ (Stichworte Volksfrömmigkeit, Mahlers Urlicht). Oder "nur" ein Transzendentalist (Walt Whitman, Vaughan Williams' Sea Symphony). [Vgl. Martins Beitrag #12.] Entscheidend ist für mich, dass ich persönlich deren Musik zum Anlass nehmen kann, um zu sagen: Da ist etwas, das das Menschliche übersteigt. Etwas Transzendentes, das Menschen zu außerordentlichen ("überirdischen") Werken bewegt. Es muss mir persönlich ehrlich und wahrhaftig erscheinen. *
DANN meine ich in der Musik "Gott zu begegnen".

Um die Kurve zur Missa Solemnis wieder zu kriegen: Mike schnitt es schon kurz an, aber eventuell gibt es ja noch mehr von euch, die mit der Missa Solemnis ähnliche Emotionen verbinden (mir selbst fehlt ja wie gesagt ein solcher Zugang zu dem Werk). Was sind die Schlüsselmomente in Beethovens Messe?

Viele Grüße,
Alexander.

* Vielleicht ist es auch das, was mich z.B. an Bach stört. Ich finde in seiner Musik sehr viel Konstruiertes. Nehmen wir alleine die Regeln für Chorsätze. Ist ein Chorsatz aufgrund der Satz-Regel so entstanden, wie ich ihn vorfinde, oder ist es Bachs ehrliches Bekenntnis?! Ich weiß es nicht...


[Beitrag von Kings.Singer am 21. Mai 2012, 15:28 bearbeitet]
Thomas133
Hat sich gelöscht
#24 erstellt: 21. Mai 2012, 17:29
Man kann ja Adorno zitieren aber so oft wie das in Klassikforen gemacht wird, habe ich den Eindruck es sollte wie eine Art "Richtlinie" bzw. "Vorgabe" dienen die sich über jeglicher anderer Kritik erhebt. Sicher mag er gewisse Kompetenzen gehabt haben aber er war auch nur ein Mensch und konnte seine subjektiven Geschmacksbeurteilungen auch nicht leugnen.
Sein Urteil über das Kyrie der C-Dur-Messe ist meiner Meinung nach nur Ausdruck seines persönlichen Geschmackes, Harnoncourt hat es mal im Interview (ich hab es leider nicht zur Hand um es wortwörtlich zu zitieren) eines der inniglichsten, berührensten Kyries der Musikgeschichte genannt. Ebenso ein Mann mit viel Kompetenz und eine völlig andere Meinung.

Die Dimensionen die hier bzgl. der M.S. erwähnt wurden (und auch oftmals als das Herausragende erwähnt werden) sollten aber nicht als Qualitätsmerkmal gelten, man kann ja schließlich auch ausgedehnte, inhaltslose Werke produzieren. Sicher ist es natürlich umso beeindruckender wenn hohe Qualität über längere Zeit gehalten werden kann aber die Länge für sich sollte wenn dann nur in Verbindung mit einer inhaltlichen Analyse von Bedeutung sein.

Find ich schade das Alexander und Martin Bach so konstruiert finden, abseits natürlich dessen das jedes niedegeschriebene Werk in der Musikwelt (die einen halt etwas strenger die anderen weniger) konstruiert ist und sein muß (sonst wäre es keine Komposition sondern Improvisation) ist für mich Bach gerade die gelungene Synthese zwischen enormen Wissen und Beherrschung der Regeln und einer ebenso enorm kreativen Umsetzung bzw. Umgang mit diesen. Es wird ja oftmals gesagt Bach "swingt" bei der richtigen Interpretation und das hätte er nicht erreicht wenn er nur steife, detailverliebt konstruierte Werke geschaffen hätte sondern er noch darüber hinaus ging, zB der für damalige Zeiten wahnsinnig originelle, kreative Umgang mit Harmonien innerhalb des komkplexeren Kompositionsgebildes, teilweise sehr berührende, teils sogar eingängige Themen (gewisses aus den Passionen, Werke für Cembalo, Violinsonaten, manche Orgelwerke,...) Sicher oftmals mit sehr kunstvoller Verwendung des Kontrapunktes aber allein darauf sollte er natürlich nicht reduziert werden weil es nur ein Teilaspekt seiner Musik ist.

Gut ich habe es wieder mal geschafft voll "off-topic" zu werden sorry. Ich werde noch näher zur Missa Solemnis eingehen und meine Eindrücke dazu schreiben habe aber jetzt keine Zeit mehr.
Vorab hab ich eher so ein ambivalentes Verhältnis zu ihr aber dazu dann vl. heute Abend noch oder morgen mehr.
grüße
Thomas
Kreisler_jun.
Inventar
#25 erstellt: 21. Mai 2012, 20:06

flutedevoix schrieb:
Adorno entwickelt ein ganz spezielles Anforderungsprofil an die Missa, der sie nicht gerecht wird, das scheint mir sein Problem zu sein. Abstraktion von den eigenen Ansprüchen und Ableitungen aus dem Spätwerk Beethovens täte hier Not!


Das sehe ich ähnlich. Dennoch finde ich nicht uninteressant, wie Adorno seine Irritation schildert und versucht, mit dem Werk zurande zu kommen. Wenn das in meinem Referat so geklungen hat, als wollte er das Stück mal flottt abbügelen (was er vielleicht mit der C-Dur-Messe tut), ist das ein falscher Eindruck.
Worum es mir v.a. ging, ist, dass sein Eindruck im krassen Widerspruch zu der angeblich hochgradigen Subjektivität steht, die Beethoven in das Werk gelegt habe. Ich kann ihm auch nur schwer folgen, wenn er meint, dass das Werk gar nicht nach Beethoven klänge. "typisch" kann es aber schon deshalb kaum sein, weil es nur sehr wenig geistliche oder überhaupt Chormusik von Beethoven gibt. Und Adorno mag manches sein, aber er ist weder taub noch blöd gewesen; insofern nehme ich einen solchen Eindruck eines hervorragenden Beethovenkenners, das Stück klänge oft nicht nach Beethoven, erstmal ernst und versuche zu verstehen, wie er dazu kommen kann.




Es fehle dem Werk überhaupt die Handschrift Beethovens, jemand, der sie nicht kennte, hätte Schwierigkeiten, den Komponisten zu erraten


Allein dieser Satz ist aus der Luft gegriffen. Die Verwandschaft des Beginns des Glorias zur 9. Sinfonie, die ja annähernd zur gleichen Zeit entstand, sowie des Marcia-Abschnittes des Agnus Dei zum alla-Marcia-Abschnitt des Chorfinales der 9. Sinfonie ist evident!


Was genau meinst Du hier jeweils?



Weiterhin wage ich zu behaupten, daß gerade das Zerrissene, das bisweilen fast schon blockartige Gegenüberstellen typisch für das Spätwerk, zumindest jedoch für das vokale Spätwerk Beethovens ist.


Diesen Aspekt nennt Adorno selbst, wobei man natürlich geltend machen kann, dass dieses "blockhafte" bei einer Messe, in der die liturgischen Abschnitte die Struktur bestimmen, naheliegender ist als bei einer Sinfonie.




- Ich finde daher nachvollziehbar, dass Beethoven sich anscheinend mehr nach der traditionellen Organisation des Messetexts in entsprechende Abschnitte (man nehme etwa auch die Fugen an den traditionellen Stellen) richtet als nach einer musikalischen Eigengesetzlichkeit oder gar nach subje€ktiv-biographischem Ausdruck.


Das Zitat bezieht sich nicht direkt auf Adorno, dennoch sehe ich hier erhöhtes Widerspruch-Potential!
Beethoven folgt meines Erachtens nur sehr bedingt der traditionellen Organisation des Messetextes.
- Ich kenne bis Beethoven keine andere oratorische Meßvertonung, in der die Teile des Ordinarium in etwa die gleiche Aufführungsdauer beanspruchen (ich nehme Sanctus und Benedictus zusammen wg. der textlichen Hosanna-Klammer).


Das Kyrie ist erheblich kürzer als die anderen Stücke und dauert normalerweise etwa halb so lange wie das Credo. Ich habe keine Statistik über die typischen Dauern der Messteile, aber das einzig offensichtlich auffallende ist das Benedictus mit dem Violinsolo (und vielleicht noch Agnus Dei + Dona nobis pacem). Ob das nun als extrem ungewöhnlich und "sprengend" zu betrachten ist, bezweifle ich; das ist jedenfalls nur ein ziemlich äußerlicher Punkt. Vom Gesamtumfang ist Bachs h-moll-Messe erheblich länger und Mozarts c-moll wäre wohl ebenfalls länger geworden, wenn vollendet. Ein kurzer Blick über die Spieldauern der späten Messen Haydns, die Beethovens historisch und stilistisch am nächsten stehen, zeigt m.E., dass die Missa hier von den Relationen kaum aus dem Rahmen fällt, nur sind eben alle Teile knapp doppelt so lang. Bei Haydns späten Messen dauern die Kyries 5-7 min, Glorias und Credos 9-12, Benedictus+Sanctus 7-11, Agnus Dei + Dona nobis pacem 5-7 min.



- Auch das Sanctus wird nicht zur Verherrlichnung Gottes genutzt: kein Tutti-Einsatz in homophopnen Blöcken, wie so oft üblich und Konvention, sondern eine geradezu suchend zu nennende Einleitung mit fugiertem Einsatz der Solisten bei klanglicher Zurücknahme. Vokale und orchestrale Prachtentfaltung in Maßen erst beim Hosanna!


Ein verhalten beginnendes Sanctus findet man zB in Haydns "Schöpfungsmesse", "Paukenmesse" (hier wird es gleich etwas festlicher, aber kein Vergleich mit Bachs); es gibt sicher noch mehr Beispiele.



- Die traditionelle Klammer des thematisch gleich gestalteten Hossanna nach dem Benedictus ist aufgehoben.

[...]
- auch im Agnus keine mächtiger polyphon (fugen) dominierter Schluß sondern ein leises Verklingen.


Das Violinsolo ist sehr originell, keine Frage. Das ist m.E. der einzige Satz, der "sinfonisch", eben wie der langsame Satz eines Violinkonzerts wirkt. Allerdings muss Beethoven dafür dem entsprechenden Messabschnitt keinerlei Gewalt antun. Aber dass das Hosanna beide Male gleich sein sollte, ist wieder etwa in Haydns Messen nicht durchweg üblich. Und wenn auch kurz, so sind die "Pleni sunt coeli" und "Hosanna"-Abschnitte nach dem Sanctus ziemlich konventionell
Dass die "Bitte um äußeren und inneren Frieden" ungewöhnlich ist, ist unstrittig, aber keineswegs ohne Vorbild, nämlich in Haydns Paukenmesse. Und ein "leises Verklingen" stimmt so auch nicht ganz. Nach dem "Verklingen" folgt nochmal ein "Dona nobis pacem" des Chors im forte und ein Orchesterschluss im ff.



Das alles nur spontan notierte Aufbrüche der Konvention, allein dadurch entfällt meines Erachtens schon der Vorwurf, eine subjektive Äußerung Beethovens sein nicht zu konstatieren. Daß das Verlassen der Konvention mit persönlicher Akzentsetzung Beethovens zu erklären ist, setze ich jetzt einfach mal als gegeben voraus.


Das ist m.E. eine zu simple Gegenüberstellung. Konventionen zur Vertonung der entsprechenden Teile sind nicht so stark fixiert, man beachte die Vielfalt etwa bei Haydns Messen. Und unkonventionell bedeutet noch lange keine subjektive Bekenntnismusik. Dass die Missa kein 08/15-Werk ist hat niemand behauptet, am allerwenigsten Adorno. Mir scheinen aber alle die genannten Besonderheiten keinen extrem subjektiven Zugriff zu begründen (noch weniger einen biographischen, für den ich mich aus den von mir gelesenen Beethovenbüchern an keinerlei Hinweise erinnern kann).
Kreisler_jun.
Inventar
#26 erstellt: 22. Mai 2012, 18:54

Kings.Singer schrieb:

Um die Kurve zur Missa Solemnis wieder zu kriegen: Mike schnitt es schon kurz an, aber eventuell gibt es ja noch mehr von euch, die mit der Missa Solemnis ähnliche Emotionen verbinden (mir selbst fehlt ja wie gesagt ein solcher Zugang zu dem Werk). Was sind die Schlüsselmomente in Beethovens Messe?


Am auffallendsten und am ehesten als "weltliche" Abweichung zu deuten, ist wohl das Dona nobis pacem mit dem Einbrechen der "Kriegsmusik", der angstvollen Reaktion und der pastoralen "Friedensmusik". In einer Phrase hören hier viele eine vielleicht nicht-zufällige Ähnlichkeit mit "and he shall reign forever and ever" aus dem Messiah. Das würde jedenfalls dafür sprechen, dass dieser Teil nicht utopisch-weltlich gemeint ist.
Dann das Benedictus mit der "vom Himmel herabschwebenden" Solo-Geige und beinahe durchgehend ganz entrückter Stimmung.

Ich finde aber auch das traditionelle Zentrum, Inkarnation, Kreuzigung, Auferstehung sehr beeindruckend umgesetzt. Das "et incarnatus est" sehr mystisch-geheimnisvoll mit modalen Anklängen, "et homo factus est" dann "irdisch" in Dur. Beim Crucifixus verstehe ich nicht, warum Adorno das nicht brutal und dissonant genug ist, "et resurrexit" wieder archaisch a capella, dabei erst einmal erstaunt ob des Wunders, bevor dann der eher traditionelle Jubel losgeht.
Und natürlich auch die "Et vitam venturi saeculi, amen"-Fuge (mit der ja selbst Adorno zufrieden zu sein scheint). Man hat deren Weite und das leise Verklingen am Ende als Darstellung der Ewigkeit gedeutet.

Allerdings hatte ich, wie gesagt, nie Probleme mit dem Werk (es war allerdings die erste Messvertonung, die ich überhaupt kennengelernt habe) und auch keine mich der "Überwältigung" hinzugeben. Ich sehe diesbezüglich keine allzugroßen Unterschiede zu zB Bach, der genauso mit seinen Mitteln (auch klangliche) Überwältigung erzielt.

Ich mag das ganze Werk, auch von manchen vielleicht als "bombastisch" empfundene Passagen wie den Schluss des Gloria, bei dem nach der vielfach gesteigerten Fuge "in gloria dei patris", das gloria in excelsis deo beschleunigt rekapituliert wird und die Musik sich ekstatisch überschlägt.
Szellfan
Hat sich gelöscht
#27 erstellt: 22. Mai 2012, 19:23
Hallo Kreisler,
in Gedanken saß ich über einer Antwort, die nun Du mir vorweggenommen hast.
Danke!
Herzliche Grüße,
Mike
Szellfan
Hat sich gelöscht
#28 erstellt: 23. Mai 2012, 08:29
@Martin
in Beethovens Autograph der Missa Solemnis steht dieser Satz:
„Das moralische Gesetz in uns, der gestirnte Himmel über uns! Kant!!!“
Herzliche Grüße
Mike
Szellfan
Hat sich gelöscht
#29 erstellt: 23. Mai 2012, 09:54
Wie es der Zufall, den es nicht gibt, so will:
eben bekam ich einen Mitschnitt der Missa mit Herreweghe aus dem Bremer Dom aus dem Jahre 2010.
Trotz der unüberhörbar großen Akustik klingt sie bei Herreweghe wie Kammermusik.
Das zunächst ein erster Eindruck, vieles erinnert wirklich sehr an die späten Quartette, manches sogar viel mehr an eine Fantasie Purcells, an Consortmusic. Derart intim kammermusikalisch "aufgedröselt" habe ich dieses Werk bisher nie gehört, auch nicht in Herreweghes Studioaufnahme.
Eine weitere, sehr lohnende Bereicherung für mich bei der Beschäftigung mit diesem Werk.
Herzliche Grüße,
Mike
flutedevoix
Stammgast
#30 erstellt: 23. Mai 2012, 18:07
Wie mir scheint, ist der momentan größte Diskussionspunkt die Frage nach der Subjektivität der Missa solemnis. Diese Frage diskutieren wir auch dediziert vor einer Aussage Adornos, der letzendlich Subjektivität und Originalität der Messe gerade auch vor der IX. Sinfonie und den späten Streichquartetten in Frage stellt

Ich bin weit davon entfernt Adorno Taubheit oder Dummheit zu unterstellen, kann mich aber nicht des Verdachts einer gewissen ideologischen Verbortheit in den von ihm selbst erstellten Anforderungskatalog an eine in seinen Augen herausragende Messe erwehren. Ganz ohne Zweifel hat Beethoven mit seiner letzten vollendeten Sinfonie und den späten Quartetten leicht sichtbar die Grenzen der Gattung sprengnde Werke geschaffen. Im Vergleich dazu kommt die Missa solemnis zunächst sehr "traditionell" oder "konservativ" daher. An dieser Stelle wäre nochg die Frage zu stellen, inwieweit es möglich ist, die formalen Grenzen einer Komposition zu erweitern, die an einen unverrückbahren Text gebunden ist, und dann auch noch, vorausgesetzt sie soll im Rahmen eines Gottesdinstes aufgeführt werden, eine ganz bestimmte liturgische Funktion wahrnimmt. Vielleicht sollten wir diese Diskussion aber auf einen separaten Beitrag verschieben.

Beethoven hat weder die Einheit der einzelnen Teile des ordinarium missae in Frage gestellt noch gültige Kompositionstechniken für geistliche Werke in Frage gestellt. Innerhalb dieser Vorgaben, die ihm wohl vor dem Hintergrund einer liturgischen Verwendbarkeit nicht veränderbar erschienen, hat er sehr wohl deuliche "Duftmarken" gesetzt, die die Konvention aufbrechen. Vielleicht nicht in dem starken Sinn wie in der IX. Sinfonie, aber dennoch deutlich und unmißverständlich.

In der Regel liegt der Schwerpunkt bei einer Meßvertonung auf den auch textlixh ausgedehntesten Teilen, dem Gloria und dem Credo. Im Vergleich dazu ist das Kyrie deutlich kürzer (oft ca. 50% der Länge in den späten Haydn-Messen z.T. ca. 66% der Länge). Ähnlich verhält es sich mit dem Agnus Dei (das oft nur 50% der Länge eines Credos hat) und auch das Sanctus (zusammen mit dem Benedictus) kommt normalerweise nicht auf die annähernde Länge des Glorias oder Credos.
In der Missa solemnis ist der kürzeste Teil das Kyrie mit ca 66% der Länge des Credo, Sanctus und Agnus Dei sind nur wenig kürzer als das Gloria und Credo. Das dürfte in dieser Form bis Beethoven einmalig sein. Die Differenz ist allein gegen Haydns späte Messen sichtbar (die man vielleicht auch nicht als Konvention bezeichnen darf), im Vergleich zu den Mozart-Messen oder Michael-Hyhdn-Messen etc. fällt der Unterschied noch deutlicher aus! Man darf also Beethoven unterstellen, daß er die einzelnen Meßteile gleichwertig behandeln wollte, ganz augenscheinlich ist das im Sanctus/ Benedictus und Agnus Dei. Da ich für diese Entscheidung keine äußeren Beweggründe entdecken kann, gehe ich von einer subjektiv, also aus dem eigenen Glauben bzw. der eigenen Lebenssituation begründeten Werkdisposition aus.

Sowohl das Sanctus als auch das Agnus Dei weisen viele Abweichnungen von der Norm auf!
Sicher beginnt Das Sanctus aus der Schöpfungsmesse von Haydn verhalten im piano, aber in einem traditionellen Satz unter Führung der Oberstimmen. Auch der Einsatz des Chores ist insofern traditionell als er homophon erfolgt (ich habe keine Partitru od. Aufnahme vorliegen und schreibe aus der Erinnerung, gegebenenfalls möge man mich berichtigen). Ganz anders Beethovens Missa solemnis: Hier beginnt das Sanctus im piano in polyphonen Strukturen, die in mir in keinster Weise Glaubensgewißheit erwecken. Vielmehr habe ich hier entschieden den Eindruck des Suchens (bis hin zum rezitatorischen Flehen), des sich Herantastens. (zugegebener Maßen ein subjektiver Eindruck, mit dem ich aber vermutliuch nicht sehr isoliert stehe). Diese Haltung findet aber traditionellerweise zu Beginn des Sanctus keinen Platz! Konventin ist auch, daß das das Snctus abschließende Hosanna zur größten Prachtentfaltung genutzt wird, auch hier bei Beethoven Fehlanzeige! Wenn wir also eine derart eklatante Abweichung von der Norm haben, stellt sich unweigerlich die Frage nach den Beweggründen. Auch hier sehe ich keine äußerlichen Gründe, vermute also subjektive Gründe!
Das Benedictus mit seinem Violinsolo, das in seiner solistischen Form Vorbilder in den Orgelsolomessen findet, fällt dann in seiner sinfonischen Anlage völlig aus dem Rahmen. Auch hier stellt sich die Frage nach der kompositorischen Motivation
Schließlich das Agnus Dei, das neben dem Benedictus der außergewöhnlichste Satz der Messe ist. Der österreichische Hörer der Beethovenzeit erwartet beim Agnus Dei eine klare Zweigliederung: homophoner Satz auf die Worte Agnus Dei und eine Fuge (oder seltener ein monotehmatischer homophoner Satz) auf die Worte Dona nobis pacem.
Nicht so Beethoven! Nach einem ersten Teil "Agnus dei, qui tollis peccata mundi"" folgt zunächst erwartungsgemäß eine Tempoverschärfung auf die Worte "Dona nobis pacem". Doch statt nun die Messe mit diesem Formteil ausklingen zu lassen, erfolgt die erste Überraschung: Der Einschub eines flehentlichen Rezitatives (in Verbindung mit einer Tempoverschärfung!). Das alles auf einen Textrückgriff: Agnus Dei, qui tollis peccata mundi. Diese Tempoverschärfung wird wieder zurückgenommen und mündet quasi wieder inb die Konvention: "Dona nobis pacem". Doch damit nicht genug, es erfolgt ein weiterer Einschnitt mit Änderung des Metrum (6/8 in 2/2-Takt?, Tonartwechsel?, Tempoverschärfung (Presto?) ), wieder mit Textrückgriff auf Agnus Dei. Diesesmal mit einem kriegerischen Marsch unterlegt, in seiner Form dem Marcia-Abschnitt des Schlußchores der 9. nicht unähnlich. Der Unterschied zu Haydns Paukenmesse liegt darin, daß hier die "Fanfaren" explizit herausgestellt werden durch einen neuen Abschnitt und nicht in die Komposition eingewoben sind. Erst dann läßt Beethoven seine Messe nachg einer Rückführung in das Dona-nobis-Motiv (6/8 Takt, Tempo, etc.) enden. Das ganze wird von sehr ausgedehten Orchesterzwischenspielen gegliedert, in denen das Orchester wichtige Funktionen in der Entwicklung des Satzes übernimmt. Auch hier muß man zwangsläufig nach der kompistorischen Motivation für einen deartigen Formaufbruch fragen. Auch hier unhterstelle ich subjektive Gründe, worauf auch die Worte "Mit der Bitte um inneren und äußeren Frieden" in der Partitur deuten.

Es gibt auch im Gloria und Credo einige Stellen, die außergewöhnlich sind (z.B. gregorianische bzw. a-capella-Abschnitte, klangliche Zurücknahmen bei typischen Forte-Stellen etc.) Da die Missa solemnis ja keine Auftragswerk ist, sondern eine Herzensangelegenheit (zur Bischofsweihe des Erzherzogs in Olmütz) sehe ich in diesen Abweichnungen doch durchaus Bekenntnisse, auch der berühme Satz "Von Herzen ... möge es wieder zu Herzen gehen2 tendiert in diese Richtung.

Diese blockhaft Zerrissene findet sich ebenfalls im Finalchor der 9. Sinfonie, ebenfalls quasi rezitativische Elemente, Marcia-Abschnitte, etc. Insofern ja auch nicht verwunderlich, daß die Werke in zeitlicher Nähe konzipiert und teilweise komponiert sind, Der Uraufführung der 9. waren ja drei Teile der Missa solemnis vorangesteltt (und ich glaube "Die Weihe des Hauses"). Es läßt sich ja durchaus auch ein inhaltlicher Zusammenhang der beiden Werke erahnen. Vermutlich kann man sogar vermuten, daß sie sich gegenseitig bedingen. Das ist jetzt ebenfalls reine Vermutung wie mein biographischer Bezug den ich in meiner Unterhaltung mit Mike geäußert habe. Hier müßte man sich in die Literatur einarbeiten, das bin ich nicht, ebensowenig in die neuesten biographischen Erkenntnisee, die ja sicher in der so eben erschienenen Beethoven-Biographie dokumentiert sind.


[Beitrag von flutedevoix am 23. Mai 2012, 19:16 bearbeitet]
Thomas133
Hat sich gelöscht
#31 erstellt: 23. Mai 2012, 21:02
Hab ich letztendlich doch noch Zeit gefunden um etwas über meinen subjektiven Eindruck der Missa Solemnis zu schreiben - also ich versuche bewußt keine Analyse darüber zu schreiben sondern, bzgl. auch der anderen Kommentare hier, einfach was ich mir dazu denke.
Dazu wollte ich natürlich wieder reinhören denn mein letztes Mal als ich sie hörte liegt ja schon eine Weile zurück und auch wenn ich relativ gut Werke mehr oder weniger abspeichern kann wäre es bei diesem Umfang - und wo ich es dazu nicht allzu häufig höre - schon eine Herausforderung (und könnte mich an manche Teile zugegebermaßen nur schwach erinnern).

Ich hab ja schon zuvor geschrieben ich hätte ein ambivalentes Verhältnis zu ihr - denn es gibt Teile die mich sehr ansprechen und andere wieder kaum berühren, ich würde sogar so weit gehen zu sagen das sie in mir ein inhomogenes Gesamtbild verursachen.
Das Kyrie gefällt mir von Anfang bis Ende sehr gut und hier kommt auch das schon erwähnte Blockhafte, Zerrissene garnicht zum Vorschein (also ich hatte zum. nie das Gefühl hier würde etwas wie drangestöpselt klingen um bewußt eine Stimmungsänderung und Bruch zu erzeugen) , durchaus komplett harmonisch, andächtig anmutend.
Beim Gloria ist das schon anders, jeder musikalische Teil davon für sich zwar großartige Musik aber auch wenn es jetzt Banausenhaft klingen sollte klingt es für mich wie zusammengeflickt - der Anfang noch durchaus o.k. dann folgen aber in mal kürzeren mal längeren Abständen Wechsel zwischen Solisten, Chor, manchmal auch Instrumental und manchmal habe ich das Gefühl das darauffolgende paßt jetzt musikalisch nicht so ganz zum Zuvorgehenden, mir kam es zB manchmal so vor als wäre plötzlich das Tempo geändert worden aber nicht das ich das jetzt so empfinden könnte das es ein origineller Überraschungs-Effekt wäre sondern als wäre das mal schnell improvisiert worden, überraschend schon aber eher wie ein Mensch der von einer auf der anderen Sekunde plötzlich unersichtlich mit seiner Stimmung umschlägt und man nicht weiß was man jetzt damit anfangen soll, ...wie geschrieben mein subjektives Gefühl. Im letzten Drittel wird es für mich wieder homogener aber habe hier auch schon bessere Gloria-Themen gehört, es wirkt für mich zu bemüht und angestrengt.
Das Credo hat einen wundervollen Beginn, eines der Highlights für mich. Hier kommt etwas sehr erhabenes, feierliches für mich rüber, teilweise könnte man auch weltenentrückt dazu sagen. Leider ist dann wieder für mich ab Einsatz der Solisten wieder so ein komisches Gefühl da, für sich gesehn ja keine schlechte Musik, vor allem ein paar Chorstellen sind wirklich grandios aber diese teils aprupten Stimmungswechsel sind nicht wirklich meins - zum. nicht auf diese Art und Weise wie sie hier praktiziert werden wie jemand der sich nicht entscheiden kann ob er jetzt soll oder nicht soll und wenn wie er es soll.
Das Sanctus kommt dann so daher als würde es für all das was mir zuvor weniger gefallen hätte entschädigen, also vor allem am Anfang und Ende aber auch den Mittelteil finde ich nicht unpassend...für mich persönlich zeigt sich das mir die kürzeren Teile besser gefallen da ich zudem hier auch nicht so den Eindruck bekomme hier hätte man evtl. etwas bewußt in die Länge ziehn wollen um größere Dimensionen zu erreichen (vor allem bei Gloria und Credo habe ich das Gefühl).
Beim Benedictus schließe ich mich den meisten Anderen hier an, gefällt mir natürlich auch und nicht nur weil es langsam, ruhig, inniglich ist sondern weil man hier auch nicht das Gefühl bekommt jemand ist in irgendeiner nervösen Unruhe gefangen.
Der Beginn von Agnus Dei (bis ungefähr zur Hälfte) ist ebenso einer meiner persönlichen Highlights dieses Werkes, aber auch bei der letzten Hälfte habe ich leider an mancher Stelle den Eindruck wie "draufgestöpselt" wo zB mitten in Dona nobis pacem ein ganz anderes Tempo, rhythmusbetonter Teil eingeflochten wird der mit so einem für mich skurillen Übergang in den getragenen, leiseren Schlussteil (der mir übrigens für sich gesehn sehr gut gefällt) mündet. Weil hier irgendjemand geschrieben hat die Missa Solemnis würde leise ausklingen, was ja eigentlich genaugenommen nicht stimmt da es ja mit einem lauten Orchestertutti endet...da hätte mir persönlich auch wieder entweder ein langsames ausklingen oder ein wirklich länger anhaltendes Bombastisches besser gefallen, so wirkt es für mich wie so eine halbgare Zwischenlösung.

Alles in Allem wie schon geschrieben ein ambivalentes Verhältnis...teilweise sehr berührendes, ergreifendes Werk, teilweise läßt es mich kalt und unberührt zurück. Und ich gestehe auch ein das mir seine C-Dur-Messe aufgrund für mich besser hörbaren Homogenität mindestens ebenso gut gefällt.

gruß
Thomas


[Beitrag von Thomas133 am 23. Mai 2012, 21:03 bearbeitet]
Joachim49
Inventar
#32 erstellt: 23. Mai 2012, 21:13
Ich möchte nochmal wiederholen, was ich mit dem "taub oder böswillig" Vorwurf gemeint habe, der gar nicht speziell gegen Adorno gerichtet war. Ich habe in manchen Beiträgen mehr oder weniger direkt gelesen, die Beethoven'sche Missa Solemnis sei eigentlich nix bersonders, sondern mehr oder weniger eine konventionelle Messkomposition. Dagegen hat sich der Vorwurf gerichtet. Die Frage ob diese missa etwas besonders ist, hat glaube ich, auch gar nicht so viel mit der Frage zu tun, ob sie ein bisschen länger ist als üblich, oder wie die zeitlichen Relationen zwischen den Teilen sind. Kreisler hat den Ausdruck exstatisch verwendet und das scheint mir etwas anderes zu sein als konventionelle Prunkentfaltung. Es gibt einfach ein riesiges Spannungsfeld zwischen exstatischen Ausbrüchen und verinnerlichten Passagern, das so nirgendwo bei seinen Vorgängern oder Zeitgenossen zu finden ist. Mich hat ihr Einfallsreichtum verblüfft und sie ging mir zu Herzen
Kreisler_jun.
Inventar
#33 erstellt: 23. Mai 2012, 22:43

Joachim49 schrieb:
Ich möchte nochmal wiederholen, was ich mit dem "taub oder böswillig" Vorwurf gemeint habe, der gar nicht speziell gegen Adorno gerichtet war. Ich habe in manchen Beiträgen mehr oder weniger direkt gelesen, die Beethoven'sche Missa Solemnis sei eigentlich nix bersonders, sondern mehr oder weniger eine konventionelle Messkomposition. Dagegen hat sich der Vorwurf gerichtet.


Dass sie konventionell wäre, meint Adorno jedenfalls nicht. Die "Verfremdung" zeige sich u.a darin, dass sich die "archaischen", kirchenmusikalischen Stellen so ähnlich zu alter Kirchenmusik wie die 8. Sinfonie zu denen Haydns.
Ich meine natürlich auch, dass die Missa etwas sehr Besonderes ist, aber ich sehe sie in der Tat "äußerlich" nicht so extrem unkonventionell.



Die Frage ob diese missa etwas besonders ist, hat glaube ich, auch gar nicht so viel mit der Frage zu tun, ob sie ein bisschen länger ist als üblich, oder wie die zeitlichen Relationen zwischen den Teilen sind.


Das sehe ich ähnlich.



Kreisler hat den Ausdruck exstatisch verwendet und das scheint mir etwas anderes zu sein als konventionelle Prunkentfaltung. Es gibt einfach ein riesiges Spannungsfeld zwischen exstatischen Ausbrüchen und verinnerlichten Passagern, das so nirgendwo bei seinen Vorgängern oder Zeitgenossen zu finden ist.


Na das gilt für beinahe jedes Werk von Beethoven. (auch im Vergleich mit den meisten Nachfolgern).
Insofern wäre die Missa doch Beethovensch. Ich tendiere ja auch dazu, dass Adorno hier ein ganz seltsames Anforderungsprofil vorschwebt, denn man kann offenbar eine Messe nicht so rücksichtslos nach Prinzipien "absoluter" Musik, sinfonischer Entwicklung usw. komponieren und das scheint Beethoven sehr klar gewesen zu sein.
Das beklagte "sprunghafte" ist allerdings meinem Eindruck nach oft einer bisweilen ans Übertriebene grenzenden Textausdeutung geschuldet und findet sich teils so ähnlich schon in der C-Dur-Messe (zB subito piano bei et in terra pax, oder in dem klagenden "qui tollis" ein machtvoll-erhabenes "qui sedes ad dexteram patris" usw.) Die C-Dur-Messe hat übrigens ebenfalls ein verhaltenes Sanctus. Das Dona nobis pacem enthält zwar keine Kriegsmusik, aber einen angstvollen Ausbruch, auf den ein stammelndes "miserere" folgt und endet tatsächlich mit einem piano-Verklingen (mit der Musik des Kyrie), ohne abschließenden "Aufschwung".
Joachim49
Inventar
#34 erstellt: 25. Mai 2012, 00:27
Heute morgen die Bremer Missa mit Herreweghe gehört. Ich würde vielleicht nicht ganz so weit gehen und sie wie Szellfan als Kammermusik charakterisieren, aber bei Herreweghe ist halt alles wunderbar durchhörbar, nie erdrückt das Orchester die Stimmen. Sein Spiel kommt wirklich vom Herzen, was man auch sieht, wenn man ihn sieht, denn beim Dirigieren zeigt er oft mit seinen Händen auf den Brustkasten um deutlich zu machen, dass die Musik 'von Herzen zu Herzen' gehen soll. Ich hatte beim Hören oft Gänsehaut.
Vor ein paar Tagen habe ich Petrenko-Liverpool gehört. Petrenko-Liverpool wird vielleicht eine 'Erfolgsstory' wie einst Rattle-Birmingham, aber wohl kaum aufgrund dieser Missa. Den Anforderungen wurde wohl keiner der Beteiligten (Dirigent, Chor, Orchester) gerecht, obwohl es reizvoll sein kann zu hören, welche Schwierigkeiten das Werk bereitet.
Auf dem mp3 Spieler auf dem Fahrrad und in der Tram: das Traumpaar Thielemann-Dresden. Vielleicht habe ich Vorurteile, abe rich fand's vom ersten Moment an auf äusserlichen Prunk gerichtet teund ziemlich bombastisch. Wahrscheinlich riesengross besetzt und die Sänger brüllen als ob sie Mahlers Achte in einer Freilichtaufführung ohne Mikrophone gegen den Wind singen müssen.
Danach die grosse Überraschung: John Nelson. Ein Name der wenig bekannt ist. Mit seinem Ensemble Instrumental de Paris hat er vor ein paar Jahren einen sehr beachtlichen Beethoven Sinfonienzyklus absolviert, im Geiste eher auf der Seite Järvis (jun.), statt der Thielemanns (die Box wurde vor einigen Monaten bei jpc verramscht. Jedenfalls war seine Missa verblüffend gut. Zügige tempi - insgesamt vielleicht 74 Minuten, spärliche Vibrati (auch nicht in den Gesangsstimmen) und selbst nicht in den langen Solopassagen der geige im Benedictus, das um alles süssliche zu vermeiden, eher ein wenig zu kühl geraten ist. Zum Erfolg beigetragen haben sicherlich das Europäïsche Kammerorchester und der Gulbenkian Chor aus Lissabon, der ja schon in Brüggens Neunter seine Qualitäten bewiesen hat.
Jetzt steht noch Harnoncourts Amsterdammer Missa auf der Hörliste - aber zunächst muss ich mal aufpassen vor einer überdosis. Irgendwo habe ich noch Solti liegen und einen Bostoner Mitschnitt, den eigentlich Masur hätte dirigieren sollen.
Möge der Heilige Geist in den nächsten Tagen Euch (und mich) zur rechten Einsicht in dieses Werk verhelfen (in so weit noch nötig)
Herzliche grüsse
Joachim
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