Beethovens Symphonien mit neuem Tempi

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LeonardSturm
Neuling
#1 erstellt: 21. Nov 2010, 14:27
Liebe Klassik Fans,

was haltet Ihr von der Theorie, dass Beethovens Symphonien seit 200 Jahren zu schnell gespielt werden?
http://www.youtube.com/watch?v=ICxkmFesNRY

Ich höre gerne Klassik, wobei Beethoven für mich schon immer etwas anstregend war. Wenn ich dagegen die Version von Harke de Roos mir anhöre bekomme ich Gänsehaut.

Hier gibt es eine zusätzliche Hörprobe falls Euch die Filme bei Youtube nicht ausreichen.
http://www.katharos-verlag.de/

Bin gespannt was Ihr dazu sagt.

Euer
Leo
Hörbert
Inventar
#2 erstellt: 21. Nov 2010, 15:24
Hallo!

Seit Mitte des 20. Jahrunderts gibt es genau um dieses Thema eine rege Disskussion.

Auch auf Tonträgern gibt es immer wieder mal einen Zyklus bei dem der Dirigent die Originalmetromangaben Beethovens zugrunde legt.

Einer der nach meiner Meinung gelungensten Zyklen dieser Art ist der von Renee Leibowitz mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Da diese Interprettion auch insgesamt auf sehr hohem Niveau ist gehört sie zu den drei Beethoven Symphonien-Gesamtaufnahmen die bei mir verblieben sind.

MFG Günther
flutedevoix
Stammgast
#3 erstellt: 21. Nov 2010, 16:14
Wie Hörbert schon schreibt ist die Frage nach den "richtigen" Tempi bei Beethoven eine im 20. Jahrhundert kontrovers diskutierte. Mit dieser Einspileung wird also lediglich alter Wein in neue Schläuche gegossen.

Ausführlich wurde die Tempofrage schon in Grete Wehmeyers Buch "Prestißißimo. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit in der Musik" diskutiert. Wenn ich die Schlußfolgerung noch richtig im Kopf habe, hat sie Beethoven unterstellt, er habe die Funktionsweise des damals gerade von Mälzel entwickelte bzw. in der Entwicklung befindlichen Metronoms nicht verstanden. Da Beethoven taub war, konnte er gar nicht wissen, daß das Metronom pro Bewegung zwei Klicks mache, immer am äußersten Ende des Weges. Da Beethoven angeblich von einem Klick ausging, müsse man die Metronomangaben halbieren.
Harnoncourt meinte in seiner typischen polemischen Art dazu sinngemäß: Beethoven war taub nicht blöd. Und ich bin auch der Meinung, daß er schon wußte wie das Metronom funktionert. Er war taub, aber zumindest in schriftlicher Form sehr wohl in der Lage mit seiner Außenwelt zu kommunizieren. Ich bin sicher bei einem für ihn derart interessanten Thema hat er sich üer die Funktionsweise und die Bedeutung der Metronomaangaben versichert.

Insofern ist Harke de Roos halbneuer Wein. Er geheimnist nun in Beethovens Metronomangaben nun Rätsel hinein, um festzustellen, ob die Musiker es wert sind, seine Musik zu spielen. Entschuldigung die harten Worte: Das ist Humbug. Ebenso wie die Feststellung, die Beethovenschen Metronomangaben seien nicht zu realisieren, schließlich gibt es ja Gegenbeispiele.
Hark de Roos darf als Interpret gerne diese Tempi wählen. Ob sie schlüssig sind oder nicht ist eine andere Frage, über die wir gerne aber noch diskutieren können. Ich halte sie nicht für schlüssig. Was mich aber an diesem Video am meisten stört, warum muß Beethoven mit konstruierten Fakten als Legitimation herhalten. Ich glaube schon, daß ein intelligenter Musiker wie Bethoven wußte, was er tat, als er Metronomangaben gab. Erfahrungsgemäß haben sich auch die Tempi im Rahmen einer Aufführungstradition, die es bei Beethoven ja im Gegensatz etwas zu Bach durchgehend gibt, verlangsamt und nicht beschleunigt! Mir scheint es so, als wäre Hark der Roos nicht Manns genug seine Interpretation als seine persönliche Entscheidung zu vertreten.
Sehr schade!

Ich habe allerdings noch einen ganz anderen Verdacht. Irgendwie scheint Hark de Roos Können nicht ganz für eine bemerkenswerte Interpretation zu reichen, weshalb eine Aufnahme der Beethoven-Sinfonie mit vielversprechenden Verkaufszahlen außerhalb seiner Reichweite zu liegen scheint. Da muß man sich dann schon interessant machen!
Joachim49
Inventar
#4 erstellt: 21. Nov 2010, 18:40
Hallo Leo,
also Gänsehaut bekomme ich bei den Hörbeispielen gar nicht. Die hab ich bei Scherchen, Leibowitz,Brüggen,Toscanini, Dausgaard, Herreweghe oder P. Järvi, also Dirigenten, die gewiss nicht Langsamkeit predigen. Beethoven wurde lange Zeit, nach meiner bescheidenen Meinung, zu langsam gespielt, teils auch weil der Orchesterapparat viel zu aufgebläht war.

Was spricht gegen die Auffassung dieses in Holland ziemlich unbekannten Holländers? Nehmen wir mal an, es gäbe keine Metronom und Beethoven hätte es nie kennengelernt. Dann gibt es immer noch die Tempobezeichnungen: also etwa Presto, Allegro, Andante etc. Wenn man konsequent ist, müsste man also den Standpunkt verteidigen, dass ein Allegro vivace Beethovens halb so schnell gespielt werden soll wie ein allegro vivace Haydns, Mozarts oder anderer Zeitgenossen Beethovens. Nur, warum hätte Beethoven dann "allegro" über den Satz schreiben sollen?

Ich weiss nicht genau, wie taub Beethoven wann war. Aber er hat seine Werke ja dirigiert und selbst wenn er nichts gehört hat, so hat er doch gesehen wie schnell gespielt wurde. Spätestens dann hätte er ja merken müssen, dass seine Metronomangaben zu schnell waren, weil das Ding zweimal klick macht.

Die Entwicklung von Uhren war in der Beethovenzeit schon einigermassen fortgeschritten, und man weiss, glaube ich, von manchen Werken Beethovens, wie lange die Aufführung gedauert hat. Diese Zeitangaben sind mit der Auffassung, die Werke müssten halb so schnell gespielt werden, unverträglich.

Hier in Belgien hat schon einmal ein anderer Dirigent (ich glaube es war Dirk Vermeulen) die Auffassung vertreten, die Musik der Klassik werde generell viel zu schnell gespielt (unabhängig von Spekulationen über das Metronom). Er hat mit seinem Kammerorchester 'prima la musica' so ein paar Zeitlupenaufnahmen gemacht, die niemanden recht überzeugen konnten.

Es kann natürlich reizvoll sein, wenn ein Dirigent die Musik ganz langsam buchstabiert und man hört dann Sachen, oder kann Sachen machen, die man sonst nicht machen kann. Aber so etwas kann natürlich keinesfalls als musikwissenschaftlicher Beweis dienen. Ich glaube nicht, dass Herr de Roos die nötigen Sponsorgelder bekommt, um die Musikwelt mit seiner Auffassung zu erfreuen. Wem die oben genannten Dirigenten zu schnell sind, der wird wahrscheinlich bald einen schönen, zähen, hyperromantischen Beethoven von Herrn Thielemann geliefert bekommen (vermut ich mal).

mit freundlichen grüssen
Joachim

(in der Zeitschrift "Musikkonzepte Nr 8", das muss so Ende der 70-er Jahre gewesen sein, steht ein ganz vorzüglicher Artikel über Beethoven und das Metronom, der im grossen und ganzen die Auffassungen von Leibowitz bestätigt.)
Szellfan
Hat sich gelöscht
#5 erstellt: 21. Nov 2010, 18:46
...naja, endlich einer, der es genau zu wissen scheint.
Wenn denn die Überlieferung stimmt, hat Beethoven die Uraufführung seiner Neunten selbst dirigiert- und war vor dem Orchester fertig. Da wußten die wohl schon damals , daß sie und nicht er recht hatten.

Und das nehme mir bitte niemand übel, aber ist die Ironie dabei: daß nun gerade der Bratscher der Wiener Symphoniker von diesem Tempo angetan ist....

Abgesehen davon ist wohl heute ziemlich klar, daß Beethoven nie ganz taub war, sondern nur sehr schwerhörig, aber an manchen Tagen mehr, an anderen weniger.
Wie erklären sich die (schnellen) Metronomangaben Hummels oder Czernys für Beethoven- Werke, die ja durchaus aus dem Umfeld Beethovens stammen?
Alles Fragen, die nicht berücksichtigt werden, wieder aus dem Kontext gelöst betrachtet werden und darum für mich nicht mehr sind als ein Anlaß, das Thema immer wieder zu überdenken, aber mit solcher Absolutheit solche Behauptungen aufzustellen, ist, ich schließe mich flutedevoix an, Humbug.

Außerdem ist das Thema Tempo schon sehr viel älter und Lully nahm für das Allabreve einen Puls von 80 (Herz)Schlägen in der Minute als Grundlage. Und das ist ganz schön schnell!

Oder man höre mal diese Orgelwalze, die J.Ch.Smith Anfang der 1760er Jahre mit Werken von Händel bespielt hat- das ist ein Affenzahn, da ist alles heute lahmarschig. Außerdem verziert Smith noch dazu so unglaublich reich, daß sich das heute niemand wagen würde.

Vivaldi genauso wie Mozart haben sich Späße erlaubt mit ihren Musikern, siehe den Esel Leutgeb, aber doch immer so, daß das Werk letztlich verstanden werden sollte, nicht mißverstanden als Voraussetzung für eine "richtige" Aufführung.
Ich sehe keinen Grund, Beethoven aus einer langen Traditionslinie herauslösen zu wollen- außer man will sich interessant machen.
Aber das, mit Verlaub, scheint mir bei diesen Tempi kaum möglich.
Ganz deutlich dazu zitiere ich hier Herrn P.D.Q.Bach: Jean- Jacques Pferdemerde.

Herzliche Grüße, Mike
Kreisler_jun.
Inventar
#6 erstellt: 21. Nov 2010, 19:33
Wie Szellfan schon sagte, stehen die lange umstrittenen Metronomangaben Beethovens keineswegs isoliert da, sondern es gibt eine Vielzahl von anderen Quellen: mechanische Musikinstrumente, Metronomziffern von z.B. Czerny für Beethovensche Klaviersonaten und -konzerte, sowie für Kammermusik und Arrangements von Sinfonien Mozarts und Haydns. Bei aller Vorsicht belegen diese Daten, dass die Tempi Beethovens keineswegs außerordentlich viel schneller als das seinerzeit übliche gewesen sind. Und selbst in der Tradition, die einige Sätze erheblich langsamer gespielt hat, betrug die Verlangsamung gewöhnlich nur ca. 20-30%, nur in Ausnahmefällen (Adagio 9. Sinfonie, Mittelsatz Violinkonzert (wobei hier die Angabe "nur" von Czerny stammt) wurde etwa im halben Tempo gespielt.

Beethoven ist ungefähr in der Zeit, in der das Metronom erfunden wurde zum letzten Mal öffentlich aufgetreten (um 1812). Es ist sehr unwahrscheinlich, dass das Tempogefühl in völlig verlassen haben soll. Freilich gibt es wohl die Erfahrung, dass ein "innen gehörtes Tempo" tendenziell etwas schneller ist. Aber nicht doppelt so schnell.

Schließlich gibt es neben den traditionell oft mehr oder minder stark verschleppten Sätzen (wie Kopfsätze von 3,6,9, allegretto der 7., Adagio der 9.) auch solche, die seit jeher etwa in dem von Beethoven vorgeschlagenen Tempo (oder sogar schneller) gespielt wurden. Nämlich die meisten Scherzi und die Finali der 5. und 7.
Bei einem Scherzo würde im halben Tempo der ganztaktige Charakter weitgehend verlorengehen, man stelle sich die Scherzi mal statt im üblichen in einem gemächlichen Walzertempo vor. Das ist offensichtlich absurd, während Dirigenten von Toscanini, Scherchen und Leibowitz bis zu Norrington, Gardiner und Zinman gezeigt haben, dass die zügigen Originaltempi durchaus funktionieren.

viele Grüße

JK jr.
flutedevoix
Stammgast
#7 erstellt: 21. Nov 2010, 20:05
Hallo zusammen,


also Gänsehaut bekomme ich bei den Hörbeispielen gar nicht.


Na ja, Gänsehaut kann man nicht nur aus Ergrifenheit über die Schönheit einer Stelle bekommen. Ich habe angesichts des Videos auch Gänsehaut bekommen und zwar aus ganz anderen Gründen, die mit Worten zu benennen mich meine gute Erziehung hindert.


daß nun gerade der Bratscher der Wiener Symphoniker von diesem Tempo angetan ist....


Ja, ja - das ist quasi doppelte Ironie: Ein Bratscher der nur drei Lagen auf seine Instrument kennt: Die erste Lage, welches gleichzietig die Notlage und dann die Niederlage ist. Und dann noch aus Wien: Eine Stadt, deren Bewohner für eine besonders rasante, adrenalingeschwängerte Lebensweise bekannt sind!

So, nun möchte ich wieder dem nötigen Ernst Raum geben, wobei ich befürchte, damit Herrn de Roos schon zu ernst zu nehmen:
Eigentlich ist schon alles gesagt worden, daher nur noch wenige Hinzufügungen.

Tempoangaben sind auch in der Wiener Klassik in erster Linie noch Affektangaben. Presto bedeutet immer sehr schnell, Grave aber schwer, was nicht zwangsläufig sehr langsam sein muß. Schauen wir uns also die Tempobezeichnungen der zweiten Sinfonie Beethovens an:
I.: Adagio molto - Allegro con brio = Sehr ruhig - Fröhlich, munter mit Schwung
II.: Larghetto = etwas breit (Verkleinerungsform von Largo)
III.: Scherzo.Allegro = Scherzo. Fröhlich, munter
IV.: Allegro molto = sehr fröhlich, munter
Also, ich schaffe es nicht, diese Affekte in Beziehung zu den Hörproben de Roos zu setzen, ganz im Gegenteil!

Beethoven schreibt nicht als erster Sinfonien, im Gegenteil er befindet sich in der Etnwicklung einer Gattung, die um 1800 schon etwa 50 Jahre alt ist. Als Konvention stellte sich dabei ein Allegro-Satz zu Beginn heraus ein langsamer Satz als Kontrast in der Mitte, ein (fakultatives) Menuett) und ein rascher Satz zum Ende, oft Vivace oder Presto. Aus der Barockzeit kennen wir die Tempi in absoluten Zeiteinheiten (z.B., Versuch einer Anweisung). Beethovens Metronomangaben liegen genau im Bereich dieser Angaben. Ich halte es für absurd, daß Beethoven als einziger sich aus dieser Tradition löst und man später wieder munter zur Tradition zurückkehrt.

Wie bekannt ist wurden ja etliche Beethoven Werke in wahren Mammutkonzerte aufgeführt: 5. und 6. Sinfonie plus diverse weitere Werke 4. Klavierkonzert, Chorfantasie, Teile der C-Dur-Messe) an einem Abend. Selbst wenn man unterstellt, daß nur einzelne Sätze gespielt wurden: ein ausuferndes Programm! Un dann noch halbe Tempi!

Ich frage mich aus eigener Erfahrung, wie dann manche Phrasen noch auf einen Atem phrasiert werden sollen. Gerade in der neuenten Sinfonie und der Missa solemnis wüßte ich nicht, wie die Gesangsolisten das organisiert bekommen könnten. Auch die Holzbläser würden bei manchem Soli hat an die Grenze stoßen.

Soviel für heute noch dazu!
op111
Moderator
#8 erstellt: 22. Nov 2010, 15:05

flutedevoix schrieb:
Ausführlich wurde die Tempofrage schon in Grete Wehmeyers Buch "Prestißißimo. Die Wiederentdeckung der Langsamkeit in der Musik" diskutiert.

Wobei sich Frau Wehmeyer auf den niederländischen Pianisten und Autor Willem Reetze Talsma (*1927) beruft, der diese m.E. absonderliche Hypothese schon früher geäussert und 1980 publiziert haben soll ("Wiedergeburt der Klassiker. Anleitung zur Entmechanisierung der Musik." 1980).
Joachim49
Inventar
#9 erstellt: 23. Nov 2010, 01:45
Hallo 'Neuling' Leo,
hoffentlich schrecken Dich die negativen Reaktionen nicht zu sehr ab. Sie sind ja nicht gegen Dich gerichtet, sondern es sind Argumente, warum die Hypothese nicht glaubwürdig ist. Dass Dir der langsame Beethoven trotzdem gefällt, bleibt ja Dein gutes recht, es gibt ja auch Musikfreunde, die Bruckner am liebsten mit Celibidache hören.
mit freundlichen Grüssen
Joachim
Hörbert
Inventar
#10 erstellt: 24. Nov 2010, 19:12
Hallo!

@beethoven-im-neuen-puls


Sollte du einal Beethoven mit den Original Tempi horen wollen solltest du unbedingt hier reinhören:

jpc.de

Diese Interpretation galt seinerzeit als Maßstabsetzend in Sachen Beethoven.

MFG Günther
Szellfan
Hat sich gelöscht
#11 erstellt: 24. Nov 2010, 20:12
Hallo Günther,
das ist ja gerade das Problem: Du schreibst, "Beethoven mit den Original- Tempi hören wollen".
Ganz sicher bin ich Deiner Meinung, aber darüber wird ja gerade gestritten.
Nun ja, ich sah gerade die Mitschnitte mit Klemperer von 1970 mit allen Beethoven- Sinfonien. Danach ist alles falsch, was Leibowitz macht. Klemp braucht für die Neunte eine Stunde 25 Minuten.
Dennoch teile ich sehr auch seine Meinung: "es gibt nur ein Tempo und das ist das Richtige".
So langsam Klemp auch ist, langweilig ist er nie, es wirkt ja eigentlich nichtmal langsam bei ihm.
Möglich ist viel, nur Dogmatismus ist das Übel.
Damit meine ich nach wie vor Herrn de Ross.
Daß mir der langsame Klemperer lieber ist als der Leibowitz, der mir einfach zu wenige Kanten hat, ist etwas ganz anderes. Daß mir der (schnelle) Scherchen aus Lugano von '65 noch lieber ist, obwohl das Orchester eher schwächelt, ist nun nochmal ein anderes Thema. Alles zusammen aber liegt das nicht am für richtig erachteten Tempo, sondern an der Art, das gewählte Tempo überzeugend rüberzubringen. Um auf den Text von flutedevoix zurückzukommen: bei Klemperer ist ein "fröhlich, munter" trotz langsamen Tempos fröhlich und munter, anders als bei de Roos. Zumindest das, was Klemperer versteht unter fröhlich und munter .

Daß die Leibowitz-Aufnahme unbestreitbar vor allem klanglich das möglich macht, was de Roos will, nämlich diese absolute Durchhörbarkeit, ist ja außer Zweifel.
Das aber ist mal wieder keine Frage der Tempowahl.
Und da ich die Probenmitschnitte kenne von Scherchen, kann ich flutedevoix nur noch weiter beipflichten.
Scherchen legt Wert auf die Einhaltung der Tempi, aber anstatt in der "Pastorale" "schneller" zu rufen, verlangt er "Danza, Signore, Danza!"
Und unabhängig davon, daß für Scherchen das "Wort" innerhalb der Sinfonien wichtiger als alles andere. Er legt Wert auf absolut deutliche Artikulation, bei seinen sehr zügigen Tempi, die Sinfonien haben etwas zu erzählen. Daß das in der Neunten logischerweise am meisten hörbar ist, liegt auf der Hand. Ich kenne keine andere Aufnahme, bei der so viel Wert darauf gelegt wird, daß da gesungen wird: "vor GOTT" und nicht, wie sonst häufig, weil es der musikalische Fluß befördert:"VOR Gott". Und "übern Sternen MUSS ein lieber Vater wohnen", Gewißheit ist das nicht, es ist Glaube.
Aber das ist schon fast OT, tut mir leid, dennoch gehört es zur Tempofrage dazu. Ich bin überzeugt, daß eine sinnvolle Artikulation nur bei relativ zügigen Tempi möglich ist, aber auch das hat flutedevoix als praktischer Musiker ja schon beschrieben.
Herzliche Grüße, Mike
Hörbert
Inventar
#12 erstellt: 24. Nov 2010, 21:19
Hallo!

So verschieden können Geschmäcker sein, Otto Klemperes Sicht (die ich bei Brahms z.B. sehr schätze) kommt mir bei Beethoven weit weniger entgegen als eben die von Leibowitz. Beide bieten eine Sicht der Dinge die zweifellos auf sehr hohem Niveau steht, nur ist mir eigentlich der "Klempnerische" Beethoven zu romantisch angehaucht.

Hermann Scherchens Beethoven kenne ich nicht, Scherchen ist mir eher -so wie z.B. auch Hans Rosbaud- als Dirigent und Förderer neuer Musik bekannt.

MFG Günther
Szellfan
Hat sich gelöscht
#13 erstellt: 24. Nov 2010, 23:00
Hallo Günther,
sowohl Leibowitz als auch Schrechen und Rosbaud kommen, um es großzügig auszudrücken, aus der "Ecke" der Zweiten Wiener Schule.
Wenn man gewillt ist, das zu tun, kann man sie in eine gemeinsame Schublade stecken. Alle sind beeinflußt von Kolisch und dessen Idee der Tempowahl, das kommt bei allen dreien nicht von ungefähr.
Nur daß man heute Leibowitz fast automatisch mit "seinem" Beethoven in Verbindung bringt.
Ich kenne die 7. und 8. Beethoven mit Rosbaud- man tut dem Manne unrecht, ihn auf Musik des 20. Jahrhunderst zu reduzieren. Höre mal seine wunderbaren Mozart- Opern aus Aix.
Sein Beethoven ist dem Scherchens und Leibowitz' sehr ähnlich.

Allerdings mußte ich jetzt lange überlegen, warum mir der Leibowitz dabei am wenigsten zusagt. Es ist seine Eleganz.
Geschmackssache, sicher. Ich habe Beethoven lieber "unverbindlicher", weniger flüssig als das beim Leibowitz der Fall ist. Den ich aber dennoch schätze.
Außerdem scheint es mir, daß in den 60ern gerade die Verfechter der Neuen Musik diejenigen waren, die die Klassiker so "entstaubt" haben, Leibowitz macht einen wunderbaren Haydn, da ist mir diese Eleganz sehr genehm, die Scherchen so (bewußt?) abgeht.

Eigentlich war das damals eine kleine Revolution, der Urversuch, das zu lesen, was Beethoven und andere wollten, Harnoncourt hat seine Anfänge ja auch da, nur hat er mit älterer Musik begonnen. Bei den Wiener Klassikern waren damals Bernsteine und Karajane zu allmächtig, um diesen "neuen" Ansatz wirklich gültig werden zu lassen, diese großen Subjektivisten alle.
Mußten noch ein paar Jahrzehnte ins Land gehen- und das wird heute halt wieder konterkariert durch solche Gegenbewegungen wie Frau Wehmayer oder Herrn de Roos.
Wieso auch nicht, so eine gewisse Pendelbewegung bei solchen Dingen gab es schon immer, so auch hier.

Mich wundert dabei, daß solche Diskussionen beinah ausschließlich über Tempi geführt werden.
Mahler schreibt Portamenti vor, die sich heute keiner zu machen traut, Brahms wollte die wohl auch- wieso nicht auch Beethoven? Oder Mozart? Oder Bach?
Wer weiß, wann jemand bei youtube ein Video einstellt und daraufhin meint, den Stein der Weisen gefunden zu haben ( ich werde es nicht sein).
Letztlich ist es doch so: wissen tun wir alle nüscht Jenaues nich. Und sind Kinder unserer Zeit, nicht der eines Beethoven.
Und ich frage mich ernstlich, ob mir eine Beethoven- Sinfonie unter seiner Leitung mit meinen heutigen Ohren gefallen würde.
Müßiges "Was wäre wenn".
Herzliche Grüße, Mike
Kreisler_jun.
Inventar
#14 erstellt: 24. Nov 2010, 23:34
Allerdings haben die HIPisten wie Gardiner und auch Gielen und Zinman mit traditionellen Orchestern praktisch alle Tempi Leibowitz (der oft, aber nicht immer nahe an Beethovens Angaben dran ist, in der Pastorale z.B. eher nicht) inzwischen übertroffen. Obendrein befolgen sie alle Wiederholungen und verzichten auf Instrumentationsretuschen (wie die Hörner statt Fagotten im 2. Thema in der Reprise von 5,i). Damit will ich die Verdienste der Leibowitz-Einspielungen keineswegs schmälern, nur mal ein wenig relativieren.


viele Grüße

JK jr.
flutedevoix
Stammgast
#15 erstellt: 25. Nov 2010, 03:45

Mich wundert dabei, daß solche Diskussionen beinah ausschließlich über Tempi geführt werden.
Mahler schreibt Portamenti vor, die sich heute keiner zu machen traut, Brahms wollte die wohl auch- wieso nicht auch Beethoven? Oder Mozart? Oder Bach?


Ich halte Artikulation und Balance der Instrumentengruppen für wesentlich wichtiger als die Frage nach dem richtigen Tempo. Ein "fröhlich" oder ein "munter" muß nicht zwangsläufig sehr schnell sein, aber eine entsprechende Artikulation haben.
Das Tempo hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt entscheidend vom Aufführungsraum. Ein akkustisch trockener Raum verlangt fast zwangsläufig ein schnelleres Tempo als ein halliges Kirchenschiff. Natürlich zwingt einen der Raum auch zu einer Feinjustage der Artikualtion, allerdings in wesentlich feineren Abstufungen.


nd ich frage mich ernstlich, ob mir eine Beethoven- Sinfonie unter seiner Leitung mit meinen heutigen Ohren gefallen würde.


Tja, man weiß es zwar nicht, ich gehe aber fest davon aus, daß sie mir gefallen würde. Um die musikalischen und spieltechnischen Qualitäten einer solchen Aufführung würde ich mir keine Gedanken machen. Die Komponisten schufen Werke, die technisch und musikalische von en ihnen zu Verfügung stehenden Klangkörpern wiedergegeben werden konnten. In Abwandlung des Harnoncourtschen Ausspruches: Der Komponist mag manchmal nicht von dieser Welt sein, aber blöd ist er nicht.
Dazu kommt: Wenn mich das Werk mit seinen Emotionen anspricht, dann würde mich auch eine Aufführung unter dem Komponisten ansprechen (sofern er dazu befähigt ist, einen Klangkörper zu leiten) ansprechen.
Hörbert
Inventar
#16 erstellt: 25. Nov 2010, 20:04
Hallo!

@Szellfan


Und ich frage mich ernstlich, ob mir eine Beethoven- Sinfonie unter seiner Leitung mit meinen heutigen Ohren gefallen würde


Hier stellt sich natürlich die Gewissensfrage, ist ein Werk, Dirigiert von seinem Komponisten als alleine schlüssig und gültig zu betrachten?

Wer kennt nicht die Kontroverse zwischen Ravel und Toscanini bezüglich des Bolero?


Gerade die unaufdringliche Eleganz von Leibowitzens Interpretation spricht mich besonders an, hier wird eine Seite von Beethovens Musik deutlich die m.E. viel zu wenig Beachtung findet.

MFG Günther
Joachim49
Inventar
#17 erstellt: 25. Nov 2010, 21:56

Szellfan schrieb:
Und da ich die Probenmitschnitte kenne von Scherchen,


Ein Probenmitschnitt der Fünften zusammzn mit der Aufführung war mal als CD erhältlich. Die Probe beginnt mit einer Art kulturhistorischen Vorlesung zu Beethovens Sinfonien (auf Italienisch!)und dann wird die Sinfonie quasi ohne Unterbrechung durchgespielt, wobei Scherchen seine Anweisungen oder kritischen Bemerkungen ins Orchester brüllt: "NON ritartando". Eine der kostbarsten CDs, die ich habe (aus einem Pariser Ramschladen).
Wer dieses Scheibchen findet, sollte es auf keinen Fall liegen lassen.
Joachim
Szellfan
Hat sich gelöscht
#18 erstellt: 26. Nov 2010, 10:46
Hallo Joachim,
die Proben zur 6. gabs zusammen mit der Aufführung bei Accord,
außerdem auf einer LP des kleinen Labels RZ.
Die zur 7. gibt es irgendwo bei THARA.
Und der ganze Rest war vor Jahren mal bei Operashare zu haben, ist aber leider nicht mehr verfügbar.

Hören kann man die alle gut, den Scherchen befleißigt sich ja eines eher schlichten Italienisch.
Außerdem kommt das, was er will, allein durch seine Art, die Du ja schon angesprochen hast, sehr unmittelbar rüber.
Herzliche Grüße, Mike
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